Rsozblog war drei Tage lang nicht erreichbar, wie sich herausgestellt hat, weil — aus unerklärlichen Gründen — gleich zu mehreren Tausenden RSS-Feeds abgerufen wurden.Ich bitte um Nachsicht.
In eigener Sache IX: Wissenschaftsblogging wird domestiziert
Da möchte man auf seine alten Tage noch Pirat werden. Anfang März gab es in München eine Tagung über »Weblogs in den Geisteswissenschaften«, veranstaltet vom Deutschen Historischen Institut Paris und dem Institut für Kunstgeschichte der LMU. Juristen und Soziologen als Blogger hatte man da anscheinend nicht auf der Rechnung. Aber das ist jetzt nicht mein Punkt. Was ich über diese Tagung in Zeitung und Netz gelesen habe, läuft auf eine Selbstkastration der Bloggerei hinaus. Aus vier Richtungen werden die Blogger in die Enge getrieben, nämlich erstens werden sie in die Unselbstständigkeit geführt, zweitens wird ihnen Zensur angedroht, drittens werden sie gewarnt, herkömmlichen Veröffentlichungen keine Konkurrenz zu machen, und viertens werden sie von Rechts wegen zur Ordnung gerufen. »Die Schattenseiten dieser Kommunikationsform sind allerdings auch offensichtlich«, heißt es in einem Tagungsbericht [1]von Alexander Grau, FAZ vom 14. 3. 2012, S. N 4.. Man hat sich anscheinend kräftig bemüht, die Schmuddelkinder ans Licht zu zerren.
1) Der Solo-Blogger ist suspekt. Kaum noch einer wagt es, auf eigene Faust zu bloggen. Anständige Blogger suchen sich eine institutionelle Rückendeckung oder Unterschlupf in einem Blogportal. Mindestens aber schließt man sich zu einem Gemeinschaftsblog zusammen. Die Wissenschaftsblogging wird organisiert. Als Organisator schon länger bekannt ist Marc Scheloske [2]In eigener Sache I: Über Wissenschaftsblogs.. Nun soll ein neues geisteswissenschaftliches Blogportal mit dem griffigen Namen »de.hypotheses.org« (und einem verwirrenden Layout) Ordnung schaffen. Wenn es sich nur um ein Blogportal handelte, wäre die Sache noch erträglich. Aber – so liest man: »Dieses Portal enthält Beiträge, die von der wissenschaftlichen Redaktion aus den deutschsprachigen Wissenschaftsblogs von Hypotheses.org ausgewählt wurden.« Berücksichtigt werden vermutlich nur Blogs, die man selbst hostet. Schon die Aufnahme in das Blogportal ist von einer Aufnahmeprüfung abhängig. Lockmittel ist kostenloses Hosting und technischer Support, finanziert anscheinend vor allem von der Gerda-Henkel-Stiftung. Das ist Verrat an der Blogging-Idee. Ein Weblog ist eigentlich ein Tagebuch, und das schreibt man persönlich, und zwar als Einzelner und nicht als Institution. Es ist heute eine der wenigen Möglichkeiten, sich als Individuum ohne Rücksichtnahme auf Institutionen und etablierte Fachgemeinschaften in einer Weise zu artikulieren, die jedenfalls potentiell von Jedermann wahrgenommen werden kann.
2) »Neben der harmlosen Tatsache, dass unendlich viel Belangloses kommuniziert wird, ermöglichen Weblogs die Verbreitung von Meinungen oder Informationen, die, freundlich formuliert, eher exzentrisch oder eskapistisch daher herkommen.« [3]Grau a. a. O. Das ist natürlich unerhört, und deshalb – so wird Cornelius Puschmann aus Berlin zitiert – müssten die Wissenschaftsblogs »einer Qualitätskontrolle unterliegen, institutionell anerkannt und forschungspolitisch angeregt sein«. Die wichtigste Qualität scheint allerdings die Quote zu sein. Daher gibt es vor allem Ratschläge, wie man mit seinem Blog Akzeptanz findet. Wichtiger als eine Qualitätskontrolle scheint mir eine Code of Conduct für das Wissenschaftsblogging zu sein, wie ich ihn im Eintrag vom 20. März 2011 gefordert habe.
3) Blogs bilden die Schmutzkonkurrenz zu den etablierten wissenschaftlichen Veröffentlichungsformen, insbesondere zu den Zeitschriften. Deshalb wird den Wissenschaftsbloggern (von Marc Scheloske) nahe gelegt, keine ernsthaften wissenschaftlichen Texte einzustellen, sondern sich subjektiv und fragmentarisch zu äußern.
4) Ohne erkennbaren Zusammenhang mit der Münchener Tagung wollen Karl-Heinz Ladeur und Tobias Gostomzyk [4]Der Schutz von Persönlichkeitsrechten gegen Meinungsäußerungen in Blogs, NJW 2012, 710-715. Weblogs juristisch an die Kette legen. Sie haben zwar nicht gerade die Wissenschaftsblogs im Blick, aber auch diese werden von ihrem Vorschlag betroffen, dass Serviceprovider gehalten sein sollen, Speicherplatz nur zur Verfügung zu stellen, wenn die Bewerber sich für äußerungsrechtliche Konflikte einer Schiedsvereinbarung unterwerfen.
Was folgt aus alledem? Blogger, wählt die Piratenpartei!
Hier noch etwas ausführlicher die Links zu der Münchener Tagung und zu den dort gehaltenen Vorträgen, die zum Teil mit Podcasts und Vodcasts verbunden sind:
Programm und Ankündigung der Tagung »Weblogs in den Geisteswissenschaften«
Klaus Graf: Wissenschaftsbloggen in Archivalia & Co. Schriftliche Fassung des Beitrags
Eröffnungsvortrag von Mareike König.
Darin bezieht sich Frau König auf folgende Veröffentlichungen:
Anita Bader, Gerd Fritz und Thomas Gloning, Digitale Wissenschaftskommunikation 2010-2011: Eine Online Befragung, Justus-Liebig-Universität 2012, S. 12, 67, 71, 72
Klaus Graf, Mareike König: Entwicklungsfähige Blogosphäre – ein Blick auf deutschsprachige Geschichtsblogs, 2011
Alle Vorträge sollen online im iTunes-Canal der LMU frei zugänglich sein. Ich habe sie mir nicht angetan.
An Stelle einer Blogroll gibt es den Verweis auf einen »Katalog«, der immerhin 354 Blogs aus 16 Ländern, darunter fünf deutsche, verzeichnet. Ich habe keinen gefunden, der für meine Blogroll von Interesse sein könnte.
(Der Eintrag wurde am 28. März 2012 ergänzt.)
Nachtrag vom 5. April 2012: Nun gibt es bei HSozKult einen wirklich informativen Tagungsbericht von Christof Schöch.
Anmerkungen
↑1 | von Alexander Grau, FAZ vom 14. 3. 2012, S. N 4. |
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↑2 | In eigener Sache I: Über Wissenschaftsblogs. |
↑3 | Grau a. a. O. |
↑4 | Der Schutz von Persönlichkeitsrechten gegen Meinungsäußerungen in Blogs, NJW 2012, 710-715. |
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Postmoderne Methodenlehre II: Methodenkritik
Im Eintrag vom 14. 10 2008 hatte ich angekündigt, demnächst ein Vortragsmanuskript über Kripkoquinose und andere Krankheiten ins Netz zu stellen. Ich bin immer noch nicht dazu gekommen, obwohl ich jetzt gerne auf diese Vorarbeit für meine Auseinandersetzung mit der Postmodernen Methodenlehre verweisen würde. Auch heute langt es nur für einige Stichworte.
Postmoderne Rechtstheorie [1]Einen Überblick bietet Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2006 (2. Aufl. 2010). baut auf einen fundamentalen Antifundamentalismus und auf radikalen Konstruktivismus, die beide aus der Wissenschaftstheorie in die Methodenlehre importiert werden. Sie knüpft bei Wittgenstein und Kripke, bei Quine und Davidson, bei Sellars und Brandom an. Sie tauscht Kant gegen Nietzsche und sucht sich ihre Kronzeugen in Frankreich: Foucault und Deleuze, Derrida und Lyotard. Oder sie übernimmt von Luhmann die autopoietische Version der Systemtheorie.
Postmoderne Rechtstheorie verabschiedet die Cartesianische Bewusstseinsphilosophie und mit ihr die klassischen Wahrheitstheorien, die Subjekt-Objekt-Trennung und den Dualismus von Sein und Sollen. Bei der Beobachtung der Welt stößt sie auf blinde Flecken, irritierende Paradoxien und Iterativität im Sinne transformierender Wiederholung. Bei der Beobachtung des Rechts findet sie den Verlust etatistischer Einheit, Pluralisierung des Rechts, Fragmentierung der Gesellschaft und konfligierende Binnenrationalitäten oder Eigenlogiken in den Fragmenten.
Die Methodenlehre wird zunächst mit der Paradoxie oder gar Unmöglichkeit des Entscheidens konfrontiert, wie sie von Luhmann formuliert und von seinen Anhängern vielfach übernommen worden [2]Z. B. Karl-Heinz Ladeur/Ino Augsberg, Auslegungsparadoxien, Rechtstheorie 36, 2005, 143-184; Vesting, Rechtstheorie, 2007 Rn. 224ff. ist.
»Die Entscheidung muß über sich selbst, aber dann auch noch über die Alternative informieren, also über das Paradox, daß die Alternative eine ist (denn sonst wäre die Entscheidung keine Entscheidung) und zugleich keine ist (denn sonst wäre die Entscheidung keine Entscheidung).« [3]Zitat nach Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, 142; ferner ders., Die Paradoxie des Entscheidens, VerwArch 84, 1993, 287-310; ders., Das Recht der Gesellschaft, 1993, 308; ders., Die … Continue reading
Damit spielt Luhmann auf die Vorstellung an, dass juristische Entscheidung Rechtserkenntnis sei. Wenn die Lösung jedoch schon vorgezeichnet ist und bloß erkannt zu werden braucht, gibt es nichts zu entscheiden. Ist sie dagegen nicht aus Regeln ableitbar, kann man nicht entscheiden. Darin liegt also das Paradox. Auch wenn juristische Entscheidungen in der Methodenlehre noch immer gern als Rechtserkenntnis dargestellt werden, hat sich doch die Jurisprudenz längst von der Vorstellung verabschiedet, dass ihre Urteile kognitiver Natur sind. Luhmann beutet nur den Doppelsinn der Begriffe aus; einmal verwendet er Entscheidung für den kognitiven Vorgang der Deduktion, das andere Mal gleichbedeutend mit Dezision. Auch der Zirkel, »der sich ergeben würde, wenn man zugeben müsste, dass das Gericht das Recht erst ›schafft‹, das es ›anwendet‹ « Luhmann 1993:306) ist keiner. Ein Zirkel ergibt sich nur, wenn man sich über den Doppelsinn des Wortes »Recht« als vorgegebene Regel und als Fortbildung der Regel täuschen lässt. Man kann auch sagen: Was uns höchst kunstvoll als Paradoxie des Entscheidens oder als Auslegungsparadox vorgeführt wird, ist nichts anderes, als das alte Werturteilsproblem in neuer, nicht gerade nutzerfreundlicher Verpackung.
Die postmoderne Rechtstheorie versteht sich als externe Beobachterin der Rechtspraxis. Wegen des rechtsexternen Beobachterstandpunkts sind ihre Beschreibungen aber zu einer Kritik der juristischen Methodenlehre prinzipiell ungeeignet sind. Aus dem von Luhmann entwickelten Gedanken der Autonomie des Rechtssystems müssten sie der juristischen Methode ihre Eigenständigkeit belassen. Doch wiewohl immer wieder betont wird, dass alle wissenschaftlichen Aussagen relativ zum Standpunkt des Beobachters seien, wird die vom Selbstverständnis der Methodenlehre abweichende Fremdwahrnehmung in Kritik umgemünzt.
Systemtheoretisch orientierte Autoren beschreiben die Rechtsgewinnung als evolutionäres Geschehen. Als Folge des technologischen Wandels und der unaufhaltsamen Globalisierung, der sich beschleunigenden Selbsttransformation der Gesellschaft und deren wachsender Komplexität werden der Verlust der Einheit, zunehmende Fragmentierung und Pluralisierung des Gegebenen und der Zerfall von hierarchischen oder vertikalen Systemen festgestellt. Die methodische Einsicht lautet, nur die ständige Revision des Rechts im Zuge seiner Anwendung könne der Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen. Die Dynamitätsrhetorik, von der diese Einsicht getragen wird, wird nahezu widerspruchslos hingenommen, verliert aber im Rückblick an Plausibilität. Spätestens seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts hat wohl jede Zeit von sich selbst den Eindruck, sie entwickle sich besonders schnell und radikal. Die gesellschaftliche Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert war aus der Sicht der Zeitgenossen nicht weniger aufregend als in der zweiten oder nach der Jahrtausendwende.
Anmerkungen
↑1 | Einen Überblick bietet Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2006 (2. Aufl. 2010). |
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↑2 | Z. B. Karl-Heinz Ladeur/Ino Augsberg, Auslegungsparadoxien, Rechtstheorie 36, 2005, 143-184; Vesting, Rechtstheorie, 2007 Rn. 224ff. |
↑3 | Zitat nach Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, 142; ferner ders., Die Paradoxie des Entscheidens, VerwArch 84, 1993, 287-310; ders., Das Recht der Gesellschaft, 1993, 308; ders., Die Rückgabe des zwölften Kamels, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 , 2000, 3-60, 6. Dazu kritisch Klaus F. Röhl/Hans C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 105f. |
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Schattenwirtschaft in Griechenland
In einem Artikel in der Heimlichen Juristenzeitung vom 27. 2. 2012 äußert sich Dominik H. Enste vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln zum Umfang der Schattenwirtschaft in Griechenland. Sie soll in den PIGS Staaten mit 19 bis 25 % doppelt so hoch liegen wie in den angelsächsischen Ländern. Eine Quelle wird nicht angegeben.
Definition und Ermittlung der Schattenwirtschaft sind notorisch ungenau. Das OECD-Handbuch »Measuring the Non-Observed Economy« (2002) unterscheidet vier Formen der Schattenwirtschaft:
(1) Underground Economy. Sie umfasst alle an sich rechtlich erlaubten wirtschaftlichen Betätigungen, die vor den Behörden verborgen werden, um Steuern und Abgaben zu sparen, um rechtliche Standards für die Bezahlung von Arbeitnehmern, Arbeitszeitregelungen sowie Sicherheit- und Gesundheitsvorkehrungen zu vermeiden. Der wichtigste Einzelposten ist wohl die gewöhnlich so genannte Schwarzarbeit.
(2) Illegal Production: Hierher zählen vor allem strafbare Formen der Prostitution und die Produktion von und der Handel mit kriminalisierten Drogen, ferner die marktorientierte organisierte Kriminalität. Auf diesen Bereich bezieht sich das Paper von Frank Wehinger, Illegale Märkte, auf das ich am 1. 11. 2011 hingewiesen habe.
(3) Informal Sector: Zur Schattenwirtschaft gehört ferner der so genannte informelle Sektor. Er umfasst die marktorientierten wirtschaftlichen Tätigkeiten, die sich staatlichen Regelungs- und Abgabenansprüchen entziehen. Viele Beispiele dafür gibt es in Deutschland nicht. Zu denken ist wohl in erster Linie an den Wohltätigkeitsbereich, etwa die »Tafeln«, die Lebensmittel an Bedürftige ausgeben, oder an den Verkauf selbstgemachter Marmelade auf dem Weihnachtsbazar.
(4) Household production for own final use: Zur Schattenwirtschaft im weiteren Sinne gehört schließlich die Subsistenzwirtschaft. Sie umfasst alle wirtschaftlichen Tätigkeiten für den Eigenkonsum, also insbesondere die Betätigung in Haus und Garten. Dieser Bereich ist weitgehend rechtsfrei. Es scheint so, dass dieser Bereich eine Tendenz zur Schrumpfung aufweist.
Bei den angebotenen Schätzungen weiß man nicht immer so genau, welchen Bereich sie einschließen. Außerdem färbt die eindeutige Verurteilung der illegalen Märkte auf die nicht ganz so eindeutig negativ besetzte Schattenwirtschaft ab.
Als Schattenwirtschaft im engeren Sinne interessiert die underground economy. Nur im Hinblick auf diesen Sektor stellt sich ernsthaft die Frage, ob die Schattenwirtschaft bei der Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfähigkeit eines Landes positiv berücksichtigt werden soll. Sie wird durchgehend negativ beantwortet, aber so ganz selbstverständlich ist das nicht. Dazu müsste man schon genaueres über Charakter und Umfang der Schattenwirtschaft wissen. Die zweite Frage ist, ob die Schattenwirtschaft die offizielle stört oder ob sie ihr sogar hilft. Auch hier ist die Antwort nicht selbstverständlich.
Der Umsatz der Schattenwirtschaft in Deutschland betrug nach Angaben des Bundesfinanzministeriums im Jahre 2004 356 Milliarden EUR und lag damit bei 16,4 % des Bruttosozialprodukts. Enste nannte in einem Fernsehinterview aus dem Jahre 2009 für Schwarzarbeit im engeren Sinne einen Betrag von 150 Milliarden Euro. Es besteht ein gewisser Verdacht, dass der Umfang der Schattenwirtschaft von Wirtschaft und Politik systematisch überschätzt wird, um eine verstärkte Regulierung und Kontrolle zu rechtfertigen.
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Postmoderne Methodenlehre I
»Postmoderne Methodenlehre«, so überschreibt Thomas Vesting einen Abschnitt in seiner »Rechtstheorie« (2007, S. 119-127). Die Postmoderne ist längst aus dem Schneider. [1]Ich bin nicht sicher, dass dieser Ausdruck heute noch allen Lesern geläufig ist, nachdem ich bei meinen Enkelkindern habe feststellen müssen, dass Schüler heute nicht mehr Skat spielen. »Aus dem … Continue reading Aber sie ist immer noch nicht erwachsen geworden.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts teilt die Methodenlehre sich weiter in zwei große Lager. Das eine wird oft als das traditionelle oder positivistische bezeichnet. Neutraler kann man von der semantischen Schule der Methodenlehre sprechen. Tragender Pfeiler dieser Schule ist die Vorstellung vom Wortlaut des Gesetzes als Ausgangspunkt und Grenze der Auslegung, allerdings in unterschiedlichen Schattierungen. Sie wird durch die großen Lehrbücher von Larenz/Canaris, Bydlinski und Pawlowski oder die kompakteren Darstellungen von Wank und Zippelius repräsentiert. Ihr führender Theoretiker ist wohl Ulfried Neumann. Ihr folgt der Mainstream der juristischen Dogmatik, und ihr folgen weitgehend die Gerichte. Sie stützt sich vor allem auf die klassische Hermeneutik und hat in der von Alexy entwickelten Argumentationstheorie eine kräftige Stütze gefunden. Sie investiert relativ wenig in epistemologische Debatten und vertraut auf die Standardmethoden der Auslegung. Das andere Lager, das die Rolle, aber nicht unbedingt das Erbe, der Freirechtsschule übernommen hat, sieht sich selbst als das neuere oder modernere. Es wird von Regelskeptizismus geprägt, der sich aus den wissenschaftstheoretischen Positionen postmoderner Rechtstheorie speist. Auch dieses Lager, das sich als das konstruktivistische kennzeichnen lässt, ist in sich wenig homogen. Eine relativ geschlossene Gruppe bildet die Müller-Schule (Friedrich Müller, Ralph Christensen, Hans Kudlich u. a.), die sich dadurch auszeichnet, dass sie mit großem Aufwand moderne Linguistik und Sprachphilosophie rezipiert und am Ende zu erstaunlich konventionellen Lösungen findet. [2]»Wir wollen nicht, dass die Gerichte etwas grundlegend anders machen. Sie sollen lediglich das, was sie bisher getan haben, mit klarerem Bewußtsein tun.« (Ralph Christensen/Hans Kudlich, Theorie … Continue reading Eine andere Gruppe besteht aus systemtheoretisch orientierten Autoren (Teubner, Amstutz, Ladeur, Vesting u. a.). Der Gegensatz der beiden Lager zeigt sich darin, dass die semantische Schule am Begriff der Rechtsanwendung festhält, während die Konstruktivisten regelskeptisch jeder Entscheidung prinzipiell den Charakter einer Neuschöpfung zusprechen.
Esser [3]Vorverständnis und Methodenwahl 1970,71ff. hatte darauf hingewiesen, dass das Konzept einer bloßen Anwendung von Rechtsnormen durch die Rede von der Konkretisierung verdrängt worden sei. Sie besagt in ihrer schlichten Gestalt, dass eine für die unmittelbare Anwendung noch zu allgemeine Norm spezifiziert werden muss, damit eine Subsumtion möglich wird. Das Ergebnis ist die nunmehr genauer formulierte, anwendungsgeeignete Regel. Elaborierter sind die (von Fikentscher [4]Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III Kap. 29 VI; Bd. IV Kap. 31 VII. 3) = S. 180 ff. Fikentscher unterschied drei Rechtsanwendungslehren, die klassische Lehre, die die Rechtsanwendung … Continue reading so genannten) Gleichsetzungslehren, die durch wechselseitige Zurichtung von Recht und Sachverhalt die Subsumtion überflüssig machen. Als Vertreter nannte Fikentscher Engisch‘ Lehre von der Konkretisierung [5]Karl Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953, 2. Aufl. 1968. Dazu Fikentscher S. 750 f. Das »Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Obersatz und … Continue reading, die von Esser in »Grundsatz und Norm« ausgeführte Idee, nach der die Entscheidung zugleich Interpretation und die Interpretation zugleich Entscheidung sei [6]Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956. Dazu Fikentscher S. 688., und Arthur Kaufmanns Konzept einer hermeneutischen Verdichtung, die Recht und Sachverhalt assimiliert [7]Arthur Kaufmann, Analogie und »Natur der Sache«. Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, Vortrag gehalten vor der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe am 22. April 1964, Karlsruhe 1965. … Continue reading. Fikentscher steuerte noch seine Lehre von der »Fallnorm« bei. [8]»Hermeneutische Verdichtung« führt zur Fallnorm, »wenn der hermeneutische Zirkel nur noch einmal zwischen Norm und Sachverhalt ›aufsteigt und absteigt‹ und keine weitere positiv zu … Continue reading Solche Konkretisierung erschöpft sich zwar nicht in nackter Subsumtion, bleibt aber als Zurichtung eines nicht substanzlosen Textes doch Rechtsanwendung.
Erst mit der postmodernen Rechtstheorie wird die Konkretisierung zur Konstruktion. [9]So ausdrücklich Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Aufl. 2009, Rn. 14. Nach dem Vorbild der Literaturwissenschaftler, die den Tod des Autors ausgerufen haben, verkünden Konstruktivisten den Tod des Gesetzgebers. Sie sprechen seinen Texten einen semantischen Gehalt ab und erklären die Gesetzesbindung zur Fiktion. [10]Ralph Christensen, Sprache und Normativität, S. 138. Die Konstruktion ist eine doppelte. Zunächst werde der prinzipiell für unbestimmt gehaltene Normtext in der Anwendungssituation zur konkreten Entscheidung gestaltet. Darüber hinaus verändere jede Heranziehung einer Norm als Entscheidungsgrundlage die Norm selbst und lasse damit die Vorstellung einer bloßen Anwendung von Rechtsnormen obsolet werden. Die »Verschleifung von Regel und Anwendung« (Ladeur) und damit die »Erschütterung der Trennung von Rechtssetzung und Rechtsanwendung« führe dazu, die »Vorstellung eines steuernden Subjekts in Form des Gesetzesautors« zu verabschieden [11]Ino Augsberg, Das Gespinst des Rechts. Zur Relevanz von Netzwerkmodellen im juristischen Diskurs, Rechtstheorie 38 , 2007, 479-493, 491..
Hinter der These von der Verschleifung von Regel und Entscheidung steckt ein theoretisch wohl begründeter, aber für die Praxis unangemessener Regelskeptizismus. Es ist an sich richtig, dass jede Anwendung einer (sozialen) Norm auf die Norm selbst zurückwirkt. Es ist auch gar nicht selten, dass eine Norm im Zuge ihrer Verwendung eine inhaltliche Veränderung erfährt. Aber der Normalfall der Anwendung führt eher zu einer Befestigung der Norm. Durch jede Heranziehung wird die Regel bestätigt. Durch jede Konkretisierung wird die Summe der erinnerten oder vorgestellten Anwendungsfälle konsolidiert. In der großen Mehrzahl der Anwendungsfälle ist die Veränderung so marginal [12]Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 53, spricht von einer »kaum sichtbaren Mikrovariation einer an sich stabil gedachten Regel«, verwirft aber dennoch das Anwendungsmodell, das er mit dem … Continue reading, dass das Anwendungskonzept Bestand haben kann.
Wenn man das Anwendungskonzept verwirft, hat das Folgen. Wer der Ansicht ist, eine Rechtsanwendung sei gar nicht möglich, versteht sich bei der Herstellung juristischer Entscheidungen als Gestalter und fühlt sich im Umgang mit Gesetz und Präjudizien freier. Vesting [13]Rechtstheorie 2007, Rn. 225. sieht die Aufgabe einer modernen Methodenlehre darin, »das Bewusstsein für die Eigenleistung der rechtsprechenden Gewalt« zu schärfen – dagegen wäre nichts einzuwenden – und will dazu »die Vorstellung einer hierarchischen Überordnung des Gesetzgebers über den Richter … aufgeben« – damit hintergeht er die verfassungsmäßig vorgesehene Arbeitsteilung zwischen Gesetzgeber und Richter. Praktisch folgt daraus eine größere Nähe zu der so genannten objektiven Auslegungstheorie mit der Konsequenz etwa, dass »Normbildung« oder »Rechtsfortbildung« zum Prozesszweck erhoben werden. Die semantische Schule dagegen müsste eigentlich eher der subjektiven Auslegungstheorie zuneigen. Sie ist insoweit jedoch gespalten. Während für die einen die Anwendung des Rechts die Anwendung von Gesetzen und die Bezugnahme auf Regeln aus Präjudizien bedeutet, verstehen andere, für die stellvertretend Alexy genannt sei, Rechtsanwendung nicht bloß als Anwendung vorfindlicher Regeln, sondern als Anwendung des Rechts einschließlich seiner Prinzipien und Werte. Auch die Erwartung, dass die semantische Schule eher dem von Sunstein so genannten Rechtsprechungsminimalismus [14]Solcher Minimalismus zeigt sich in einer doppelten Selbstbeschränkung. Er vermeidet, bei der Entscheidung eines Falles darüber hinaus weitere Fälle lösen zu wollen. Und er vermeidet, die … Continue reading zuneigt, lässt sich nicht bestätigen. Schließlich ist auch die betonte Einzelfallabwägung, die eher bei Konstruktivisten naheliegt, in beiden Lagern anzutreffen.
(Fortsetzung folgt.)
Anmerkungen
↑1 | Ich bin nicht sicher, dass dieser Ausdruck heute noch allen Lesern geläufig ist, nachdem ich bei meinen Enkelkindern habe feststellen müssen, dass Schüler heute nicht mehr Skat spielen. »Aus dem Schneider« ist beim Skat, wer mehr als 30 Punkte (und damit mehr als die Hälfte der zum Gewinn notwendigen Punktzahl) erreicht. Im übertragenen Sinne bedeutet das natürlich, dass jemand über 30 Jahre alt ist. |
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↑2 | »Wir wollen nicht, dass die Gerichte etwas grundlegend anders machen. Sie sollen lediglich das, was sie bisher getan haben, mit klarerem Bewußtsein tun.« (Ralph Christensen/Hans Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 24). »Absicht des Positivismus war es, die Jurisprudenz möglichst weit zu verwissenschaftlichen und eine rationale Dogmatik zu liefern. … Die Strukturierende Methodik fällt nicht hinter den dogmatischen Standard an Technizität zurück, den der Positivismus anstrebte.« (Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Aufl., S. 292 Rn. 299). |
↑3 | Vorverständnis und Methodenwahl 1970,71ff. |
↑4 | Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III Kap. 29 VI; Bd. IV Kap. 31 VII. 3) = S. 180 ff. Fikentscher unterschied drei Rechtsanwendungslehren, die klassische Lehre, die die Rechtsanwendung als Subsumtion des konkreten Falles unter eine allgemeine Norm versteht, die Theorie normfreien Entscheidens (die er der Freirechtsschule zuschrieb) und die Gleichsetzungslehren (Bd. III, 1976, 736 ff.). |
↑5 | Karl Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953, 2. Aufl. 1968. Dazu Fikentscher S. 750 f. Das »Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt« wird in der Regel nur zitiert um zu zeigen, dass der Sachverhalt, der Ausgangspunkt einer Forderung ist, sich im Lichte einer Rechtsnorm verändern kann, weil bisher unbeachtete Umstände relevant werden, während andere ihre Bedeutung verlieren. Engisch’ berühmte Formel war aber auch schon von ihrem Erfinder zweiseitig gemeint. Es verändert sich aus dem Blickwinkel einer Norm nicht bloß der relevante Sachverhalt, sondern umgekehrt kann der Sachverhalt auch inhaltlich auf die Norm zurückwirken. |
↑6 | Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956. Dazu Fikentscher S. 688. |
↑7 | Arthur Kaufmann, Analogie und »Natur der Sache«. Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, Vortrag gehalten vor der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe am 22. April 1964, Karlsruhe 1965. Dazu Fikentscher Bd. III, S. 751 f. |
↑8 | »Hermeneutische Verdichtung« führt zur Fallnorm, »wenn der hermeneutische Zirkel nur noch einmal zwischen Norm und Sachverhalt ›aufsteigt und absteigt‹ und keine weitere positiv zu beantwortende Rückfrage mehr erfolgt, ob der Sachverhalt auch die richtige Norm zu seiner Beurteilung gewährt. Das Kriterium der Fallnorm ist, mit anderen Worten, die letztmögliche Konkretion des Normativen angesichts der Sachverhaltsbestandteile.« (Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III Kap. 29 VI = S. 736ff, Bd. IV Kap. 31 VII. 3) = S. 180 ff., 199ff., Zitat S. 201.) Fikentscher definiert: »Fallnorm ist diejenige Regel des objektiven Rechts, die einem lösungsbedürftigen Sachverhalt eine ihn regelnde Rechtsfolge zuordnet. Die Fallnorm ist der Rechtssatz im technischen Sinne.« (Bd. IV S. 202), oder S. 382: »Da fast jeder Fall vom anderen abweicht, sind Fallnormen sehr weit in den faktischen Bereich, in den zu subsumierenden Sachverhalt vorgeschoben. Trotzdem sind Norm und Sachverhalt nicht das gleiche. Die Fallnorm, so fallzugeschnitten wie auch immer, ist doch Norm und daher allgemein, und somit vom Fall zu unterscheiden.« |
↑9 | So ausdrücklich Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Aufl. 2009, Rn. 14. |
↑10 | Ralph Christensen, Sprache und Normativität, S. 138. |
↑11 | Ino Augsberg, Das Gespinst des Rechts. Zur Relevanz von Netzwerkmodellen im juristischen Diskurs, Rechtstheorie 38 , 2007, 479-493, 491. |
↑12 | Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 53, spricht von einer »kaum sichtbaren Mikrovariation einer an sich stabil gedachten Regel«, verwirft aber dennoch das Anwendungsmodell, das er mit dem Subsumtionsmodell gleichsetzt. Er vernachlässigt, dass »Mikrovariationen« zur Befestigung der Regel führen. |
↑13 | Rechtstheorie 2007, Rn. 225. |
↑14 | Solcher Minimalismus zeigt sich in einer doppelten Selbstbeschränkung. Er vermeidet, bei der Entscheidung eines Falles darüber hinaus weitere Fälle lösen zu wollen. Und er vermeidet, die Begründung der Entscheidung auf allgemeine Theorien und Prinzipien zu stützen (Cass R. Sunstein, One Case at a Time: Judicial Minimalism at the Supreme Court, 1999). Dazu auch schon der Eintrag »Anti-Court-Movement« vom 10. 12. 2008. |
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Volkswagen Stiftung checkt die Juristenausbildung III
(Fortsetzung des Tagungsberichts vom 26. und 28. Februar 2012) [1]Die geneigten Leser bitte ich um Nachsicht für die Zerstückelung meines Berichts. Sie hat zwei Gründe, nämlich erstens die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Aktualität und der Lust an der … Continue reading
Die »Neuorientierung der Methodenlehre« war das Thema des zweiten Tages. Der Kölner Chefpräsident Johannes Riedel sprach über »Das Zurichten des Sachverhalts« in ganz anderer Weise als ich es erwartet hatte. [2]Zu meinen Erwartungen der Eintrag vom 21. 2. 1012. Er zitierte eingangs die Beobachtungen Mohammeds aus Dürrenmatts »Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht« [3]Hier findet man die hübsche Geschichte im Internet. Daraus entwickelte er eine bemerkenswert fundamentalistische Wahrheitsskepsis, die in Ermahnungen zur Sensibilisierung für die Arbeit am Sachverhalt mündete.
Arne Pilniok führte gewissenhaft aus, wie wichtig Organisation und Verfahren seien, so dass sie neben dem materiellen Recht auch in der Ausbildung stärkere Berücksichtigung finden müssten, und zeigte damit, wie sehr Juristen Einsichten, die noch vor einer Generation als soziologische Esoterik galten, verinnerlicht haben. Mit dem Hinweis, dass auch Organisation und Verfahren die Juristen vor Gestaltungsaufgaben stellen, schlug Pilniok die Brücke zur Governance.
Barbara Dauner-Lieb und Katharina Gräfin von Schlieffen äußerten sich über »Ansätze zur Urteilsanalyse«. Dauner-Lieb wies nur ganz kurz auf die Wichtigkeit der Lektüre und Analyse von Originalentscheidungen hin. »Daraus lernt man Judiz.« Gräfin von Schlieffen demonstrierte die Urteilsanalyse mit den Methoden der rhetorischen Rechtstheorie. Der Vortrag war ein kleines rhetorisches Meisterstück. Aber nicht deshalb, sondern wegen des Inhalts staunten die Teilnehmer, als ob sie davon noch nie gehört hätten. Hatten sie wohl nicht.
Ich habe schon im Posting vom 28. 1. 2012 zum Ausdruck gebracht, wie mich das Tagungskonzept irritiert hat, indem es auf »Methodenlehre« abstellt, ohne zwischen Rechtstheorie, Methoden überhaupt, der traditionell so genannten Methodenlehre, Didaktik als Methodik der Stoffvermittlung und dem Curriculum zu differenzieren. Am deutlichsten zeigte das Referat von Horst Eidenmüller, wie die »Neuorientierung der Methodenlehre« gemeint ist. Eidenmüller kündigte eine neuartige Vorlesung über »Methodenlehre« an, in der die tradierte Methodenlehre mit den Kanones der Auslegung im Mittelpunkt nur noch das erste von acht Kapiteln bildet. Weitere sieben Kapitel sollen den Jungjuristen Kompetenzen vermitteln, die sie für die Beratungspraxis benötigen, nämlich 1. Prozessrisikoanalyse mit Hilfe von Entscheidungs- und Spieltheorie, 2. Vertragsgestaltung [4]Zu diesem Thema das Posting vom 13. Dezember 2011., 3. Buchführungs- und Bilanzierungskenntnisse wie sie etwa der Staatsanwalt für Wirtschaftsverfahren braucht, 4. Verfahren der Unternehmensbewertung, auf die ein Anwalt etwa bei der Errechnung des Versorgungsausgleichs zurückgreifen muss, 5. Mikroökonomik, wie sie für das Kartellrecht relevant wird, 6. Ökonomische Theorie des Rechts, die etwa die Folgen eines flächendeckenden Rücktrittsrechts eruiert, und 7. Statistik, wie sie in Antidiskriminierungsfällen zum Einsatz kommt. Das sind zwar nicht, wie im Vortragstitel versprochen, »analytische Methoden«. Aber das war eine klare Ansage: Juristen müssen selbst das notwendige außerjuristische Wissen in ihre Vorlesungen einbringen, natürlich jeder nur im Rahmen seiner eigenen Kompetenz und ohne Anspruch auf Vollständigkeit. So könnte der Prozessualist die Psychologie der Zeugenaussage und der Familienrechtler ein Kapitel Kinder- und Jugendpsychologie beisteuern. Schön wäre es.
Vor 50 Jahren noch galten Juristen als Spezialisten für das Allgemeine, und mit dieser Kompetenz waren sie in der Lage, viele Führungspositionen in der Gesellschaft auch außerhalb von Justiz und Verwaltung zu besetzen. Dann wurden sie, etwa aus den Vorständen großer Unternehmen, zunehmend durch Ökonomen und Ingenieure verdrängt. Von Generalisten wurden sie zu Spezialisten für Rechtsfragen und innerhalb großer Organisationen zu besseren Sachbearbeitern. [5]Michael Hartmann, Juristen in der Wirtschaft. Eine Elite im Wandel, 1990. Mehr oder weniger alle Tagungsbeiträge vermittelten im Unterton die Botschaft, Juristen sollten mit dem Anspruch auftreten, mehr als bloß ein paar Verträge zu gestalten, und entsprechend ausgebildet werden. In der Abschlussdiskussion mahnte Clifford Larsen ein Leitbild für die Juristenausbildung an. Das heimliche Leitbild der Tagungseilnehmer war der Jurist als Gesellschaftsmanager.
Ihre frühere Führungsrolle in der Wirtschaft werden Juristen kaum zurückerobern können. Heute geht es darum, dass sie nicht auch noch auf dem internationalen Parkett ins Hintertreffen geraten. Das verlangt nach Elite oder, vornehmer, nach Exzellenz, und die wiederum scheint in der deutschen Juristenausbildung keinen Platz zu haben. Keiner wagt es zu sagen: Die Juristenausbildung ist ein Massengeschäft. Es gibt kein billigeres Verfahren, jedes Jahr 10.000 Studenten zu einem akademischen Abschluss zu führen, der nicht in Arbeitslosigkeit mündet. Es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen, alle Absolventen so auszubilden, wie es den Tagungsteilnehmern vorschwebte. Es gibt die Schwachen, und man muss sie nicht auch noch mit Prüfungsanforderungen in Grundlagenfächern und Schlüsselqualifikationen quälen, sondern ihnen helfen, notfalls auch mit verschulter Paukerei, die für einen Brotberuf notwendigen Examen zu bestehen. Die Besseren haben noch immer die Gelegenheit ergriffen, mehr zu tun, als für das Examen notwendig, und sie sind auch im Examen besser, weil sie mehr tun und mehr verstehen. Jedem sollte die Wahl bleiben, ob er sich opportunistisch nach Schlüsselqualifikationen umsieht, die vermutlich berufstauglich sind, ob er sich idealistisch in Philosophie oder Geschichte vertieft oder sich auf eine Karriere als Weltverbesserer vorbereiten will. Es ist die List der Vernunft, dass Exzellenz in Examen und Beruf sich nicht ganz selten einstellen, ohne direkt angezielt zu werden. Entscheidend ist, dass jeder die Chance erhält, zu den Besseren zu gehören.
In der Abschlussdiskussion sollten Vorschläge gemacht werden, wie die mit der Erneuerung der Juristenausbildung verbundenen Stoff- und Themenwünsche durch das Abschmelzen alter Bestände ausgeglichen werden könnten. Nennenswertes kam dabei nicht zutage. Die Lösung kann nur darin liegen, Grundlagenfächer und Schlüsselqualifikationen als Angebot zu verstehen, mit dem man sich im Examen Pluspunkte verdienen, derentwegen man aber nicht verlieren kann. Die erwünschten Eliten bilden sich dann von alleine. Separate Elitebrütereien sind überflüssig.
Hat die Tagung ihr Ziel erreicht? Ich bin da nicht so sicher. Eigentlich hätte sie die Diskussion aufnehmen müssen, die Andreas Fischer-Lescano mit einem Artikel im Februarheft der Blätter für deutsche und internationale Politik wieder angefacht hat [6]Andreas Fischer-Lescano, Guttenberg oder der »Sieg der Wissenschaft«?. Darauf nehmen Bezug Manuel Bewarder, Guttenberg-Enthüller geißelt die Rechtswissenschaft, Welt online vom 29. 1. … Continue reading
Fischer-Lescano hat die von ihm ins Rollen gebrachte Plagiatsaffäre noch einmal zum Anlass genommen, »das Verhältnis der Rechtswissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu hinterfragen«. Die Jurisprudenz ist ein Massenfach, und da wäre es ein Wunder, wenn nicht laufend plagiiert würde. Plaghunting ersetzt keine Gesellschaftsdiagnose. Selbst wenn die Plagiatsaffäre Guttenberg »weit über den spektakulären Einzelfall hinausweist« [7]Was sicher der Fall ist. Ich habe selbst zwei Mal erlebt, dass ein Buch eingestampft werden musste, weil es ein ganzes Kapitel aus meiner »Rechtssoziologie« abgeschrieben hatte. Aber darauf war ich … Continue reading, ist nicht erkennbar, wie gerade das Plagiatsunwesen die von Fischer-Lescano für zentral gehaltene Frage aufwirft: »Welches Maß an Kolonialisierung durch Politik und Ökonomie darf die Rechtswissenschaftswelt zulassen, ohne dass ihre Autonomie und ihre gesellschaftliche Funktion untergraben werden?« Aber das ändert nichts daran, dass die Frage berechtigt und notwendig ist. Ich sehe aber wiederum nicht, dass man dafür die juristische Dogmatik verantwortlich machen könnte. Viel problematischer ist die Governance-Mentalität, solange nicht klar ist, was als Good Governance anzustreben ist.
Hintergrund der neuen Intervention Fischer-Lescanos ist wohl ein Richtungsstreit in der Frankfurter Rechtsfakultät, der durch die Emeritierung Gunther Teubners ausgelöst wurde. In Mittelpunkt des Streits wiederum steht das Frankfurter House of Finance, dem Fischer-Lescano bescheinigt, eine »Kadettenanstalt der Finanzmärkte« zu sein. Früher verstand sich Frankfurt einmal als Zentrum kritischer Rechtstheorie. Aber die Teubner-Schule hatte sich zum Hort einer esoterischen Begriffssoziologie entwickelt [8]Dazu darf ich auf eine Serie von Postings verweisen:
Begriffssoziologie I: Fragmentierung
Begriffssoziologie II: Sektorielle Differenzierung des globalen … Continue reading und den Anschluss an die lebende Jurisprudenz verloren. Auf der Tagung der Volkswagen Stiftung war die Frankfurter Fakultät durch Thomas Vesting vertreten, der seine eigene Position einer »postmodernen Methodenlehre« [9]Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, insbesondere S. 119-127. schon in Celle als Kritik der Theorielosigkeit an dem bekannten Grundrechtslehrbuch von Pieroth/Schlink eingebracht hatte. Eine kritische Gesellschaftstheorie ist von der postmodernen Rechtstheorie, wie sie vor allem von Ladeur, Vesting und Ino Augsberg betrieben wird, nicht zu erwarten. [10]Das bedarf der Begründung, die ich nachliefern werde. Aber eine große Gesellschaftstheorie nach alter Frankfurter Sitte wäre für die Jurisprudenz auch gar nicht erwünscht. Die Rechtswissenschaft sollte sich auf Qualitäten des positiven Rechts besinnen, die dessen »innere Moralität« [11]Lon L. Fuller, The Morality of Law, 1964, 2. Aufl. 1968; dazu Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 298ff. begründen. Damit gewinnt sie eine Basis für die Kritik der gesellschaftlichen Phänomene, mit denen sie umgehen muss.
Anmerkungen
↑1 | Die geneigten Leser bitte ich um Nachsicht für die Zerstückelung meines Berichts. Sie hat zwei Gründe, nämlich erstens die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Aktualität und der Lust an der Schreibarbeit und zweitens, dass Blogeinträge jenseits von etwa 2000 Zeichen nur noch mühsam lesbar sind. |
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↑2 | Zu meinen Erwartungen der Eintrag vom 21. 2. 1012. |
↑3 | Hier findet man die hübsche Geschichte im Internet. |
↑4 | Zu diesem Thema das Posting vom 13. Dezember 2011. |
↑5 | Michael Hartmann, Juristen in der Wirtschaft. Eine Elite im Wandel, 1990. |
↑6 | Andreas Fischer-Lescano, Guttenberg oder der »Sieg der Wissenschaft«?. Darauf nehmen Bezug Manuel Bewarder, Guttenberg-Enthüller geißelt die Rechtswissenschaft, Welt online vom 29. 1. 2012; Thomas Thiel, Institute for Theorieschwund, FAZ vom 29. 2. 2012. |
↑7 | Was sicher der Fall ist. Ich habe selbst zwei Mal erlebt, dass ein Buch eingestampft werden musste, weil es ein ganzes Kapitel aus meiner »Rechtssoziologie« abgeschrieben hatte. Aber darauf war ich eher stolz, als dass ich davon viel Aufhebens gemacht hätte. |
↑8 | Dazu darf ich auf eine Serie von Postings verweisen: Begriffssoziologie I: Fragmentierung Begriffssoziologie II: Sektorielle Differenzierung des globalen Rechts https://www.rsozblog.de/?p=1497 Begriffssoziologie IV: Der Schauplatz der Regime-Kollisionen Begriffssoziologie V: Konstitutionalisierung strukturell Begriffssoziologie VI: Zur funktionalen Seite der Konstitutionalisierung Begriffssoziologie VII: Zur empirischen Seite der Konstitutionalisierung. |
↑9 | Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, insbesondere S. 119-127. |
↑10 | Das bedarf der Begründung, die ich nachliefern werde. |
↑11 | Lon L. Fuller, The Morality of Law, 1964, 2. Aufl. 1968; dazu Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 298ff. |
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Volkswagen Stiftung checkt die Juristenausbildung II
(Fortsetzung des Tagungsberichts vom 26. Februar 2012)
Angenehmer Tagungsort war das Magnus-Haus der Deutschen Physikalischen Gesellschaft am Kupfergraben in Berlin gegenüber dem Pergamon-Museum. Untergebracht waren die Teilnehmer im Hilton Hotel am Gendarmenmarkt. Altbundespräsident von Weizäcker, der sein Büro im Obergeschoss des Magnus-Hauses hat, sprach ein elegantes Grußwort. So war für das richtige Berlin-Gefühl gesorgt. Aber das Programm war so straff, dass für mehr als gefühltes Berlin kein Raum blieb.
Das Tagungsformat mit 22 Kurzvorträgen und zwei Podiumsdiskussionen bewährte sich erneut.
Mit den ersten neun Referaten wurde noch einmal das bereits in Celle begonnene Generalthema »Rechtskritik als Gegenstand der Juristenausbildung« aufgenommen. Den Anfang machte Martin Morlok mit einem Vortrag über »Aspekte der Rechtskritik«. Dafür standen ihm sogar 20 Minuten zu Verfügung, in denen er gediegen so viele Aspekte entfaltete, dass ich nunmehr in der Lage bin, jede mehr oder weniger sinnvolle Beschäftigung mit dem Recht unter die Kategorie Kritik zu subsumieren. In den nachfolgenden Referaten gab es zur Rechtskritik dann auch nur noch Lippenbekenntnisse. Mehr oder weniger alle Beiträge liefen darauf hinaus, den Reformansatz der Verwaltungsrechtslehrer zu verallgemeinern, die den Umbau ihrer Disziplin zur Steuerungswissenschaft zum Programm gemacht haben. [1]Seit Anfang der 90er Jahre war unter deutschen Verwaltungsrechtslehrern eine Reformdiskussion in Gang gekommen, in deren Mittelpunkt Wolfgang Hoffmann-Riem und Eberhard Schmidt-Aßmann standen. Sie … Continue reading Allerdings wurde diese Verwandtschaft nicht erwähnt und war wohl auch den meisten Teilnehmern gar nicht bewusst. Immerhin waren aus der Crew der Steuermänner zeitweise Andreas Voßkuhle und Gunnar Folke Schuppert anwesend, und Vosskuhle forderte in der Podiumsdiskussion am Ende des ersten Tages auch explizit eine Neuausrichtung der Jurisprudenz als Steuerungswissenschaft.
Barbara-Dauner Lieb spitzte ihren lebendigen Vortrag über »Herrschende Meinung und Mindermeinung als Gegenstand der Rechtskritik« auf die These zu, die herrschende Meinung sei ein Phantom, was herrsche, sei die Rechtsprechung. Sie betonte die Dynamik der Meinungsbilder und den Wettbewerb der Argumente und zeichnete so ein kaum durch Irritationen getrübtes Bild des Rechtsdiskurses als Sonderfall a là Alexy. Zitierkartelle seien eher die Ausnahme und die Meinungsmacht der Verlage finde ihre Grenze darin, dass das Kommentargeschäft zu kompliziert sei, um es inhaltlich zu lenken. Der Vortrag des Bonner Steuerrechtlers Rainer Hüttemann über »Rechtskritik in der steuerrechtlichen Lehre« erinnerte mich daran, dass man in der St. Louis University schon vor 20 Jahren das Strafrecht durch Steuerrecht als Ausbildungsmaterie ersetzt hat. Das Steuerrecht bietet alles, was man für die Ausbildung braucht: Prinzipien und System, scharfe Tatbestände und übergroße Komplexität, materielles und Verfahrensrecht, und es verlangt nach Abstimmung mit den anderen Rechtsgebieten. Am Beispiel von Nichtanwendungserlassen und Nichtanwendungsgesetzen kann man das Mit- oder Gegeneinander der drei Gewalten studieren. Die Kritik des Steuerrechts führt schnell in eine allgemeine Gerechtigkeitsdiskussion. Und eine Metakritik der Kritik des Steuerrechts zeigt die Transaktionskosten und damit Möglichkeiten und Grenzen einer Fundamentalreform.
Das Referat der ehemaligen Chefpräsidentin aus Schleswig, Görres-Ohde, über »Ethische Forderungen zur Rechtskritik« wirkte ein bisschen als Fremdkörper. [2]Ich bin ja selbst Schleswig-Holsteiner und da fällt mir auf, dass Richterethik eine Spezialität dieses Landes zu sein scheint. Jedenfalls bin ich ihr schon auf dem Symposium Justizlehre in Dresden … Continue reading Miloš Vec schließlich behandelte das kritische Potential der Zeitgeschichte. Sein geschliffener Vortrag war zu facettenreich, um in wenigen Sätzen zusammengefasst zu werden. So will ich nur einen Punkt erwähnen, der mir in Erinnerung geblieben ist, nämlich dass das Recht nicht immer nur Gegenstand der Kritik bleiben muss, sondern auch selbst als Grundlage der Kritik an Politik, Ökonomie usw. dienen kann.
Ich kann mich nicht erinnern, selbst an einer Kriminologievorlesung teilgenommen zu haben (wiewohl mein späterer Doktorvater der Kieler Kriminologe Hellmuth Mayer war). Aber ich bin sicher, dass die Themen, die Jörg Kinzig als kritisches Potential der Kriminologie für die juristische Ausbildung nannte und anmahnte, in den Vorlesungen meines früheren Bochumer Kollegen Schwind und in denen seines Nachfolgers Feltes zum Standard gehören. Michael Wrase betonte die Selbstimmunisierung der juristischen Methode gegen Fremdwissen und empfahl Rechtswirkungsforschung. [3]Ich darf daran erinnern, dass die Volkswagen Stiftung im Rahmen des Förderschwerpunktes »Recht und Verhalten« zwischen 1997 und 2001 drei Tagungen zur Wirkungsforschung im Recht veranstaltet und … Continue reading
Für Hermann Hills Referat über »Die Veränderung der juristischen Arbeit durch neue Medien« hätte sich der Legal McLuhanite mehr Zeit gewünscht. Hill offerierte eine lange Liste interessanter Stichworte, so dass man auf den Beitrag im Tagungsband warten muss. [4]Gespannt war ich auf die von Hill beiläufig erwähnte Internetseite »Wir sind Einzelfall«, von der ich erwartet hatte, sie würde »Einzelfälle« aus der Gerichts- und Verwaltungspraxis … Continue reading Das Referat des Landgerichtspräsidenten Guise-Ruibe aus Hildesheim entpuppte sich als Bericht über die Implementierung es elektronischen Gerichtsverfahrens und war wohl einer der Gründe für den verzweifelten Zwischenruf der Präsidentin Jacobi des Landesprüfungsamtes in Stuttgart, was denn das alles eigentlich mit der Ausbildung zu tun habe. Er galt aber auch den sieben Vorträgen über »Vorfeld-›Kolonisierung‹ durch Recht«, die am Nachmittag noch abgespult wurden.
»Vorfeld-›Kolonisierung‹ durch Recht« ist eine neue Begriffsschöpfung, die Hagen Hof (Volkswagen Stiftung) erfunden hat. [5]Im Tagungskonzept war noch, anders als im Programm, von »Kolonisation« die Rede. Auf der Tagung definierte er: »Es handelt sich um einen Vorgang, mit dem juristische Begriffe in diesem Vorfeld zur Geltung gebracht werden.« Es geht also darum, dass das Rechtssystem ursprünglich als rechtsfremd betrachtete Phänomene einbezieht. Früher hätte man gesagt, aus Alternativen zum Recht seien Alternativen im Recht geworden. Früher gab es durchaus Stimmen, die eine solche Entwicklung als Ausdehnung staatlicher Sozialkontrolle (widening the net) [6]Richard L. Abel, Delegalization: A Critical Review of Its Ideology, Manifestations, and Social Consequences, in: Erhard Blankenburg u. a., Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht = … Continue reading oder als Harmonie-Strategie zum Abwürgen von Rechtsansprüchen [7]Laura Nader, Harmony Ideology: Justice and Control in a Zapotec Mountain Village, Stanford University Press 1990; dies., Controlling Processes, Current Anthropology 38, 1997, 711–737. Dazu aus der … Continue reading kritisiert hätten. Solche Kritik scheint heute vergessen zu sein. Oder sollte sie in den Konnotationen von »Kolonisierung« bewahrt werden? Auch die eher technische Kritik, die an der verbreiteten Mediationseuphorie geübt wird, kam nicht zur Sprache. [8]Ich habe diese Kritik in drei Postings zusammengetragen:
Das zweite Mediations-Paradox: Erfolgreich, schneller, billiger und besser, aber ungenutzt
Noch einmal: Das zweite Mediationsparadox
Mit … Continue reading
Als Beispiele für Vorfeld-»Kolonisierung« wurden Mediation, Täter-Opfer-Ausgleich, Absprachen im Strafverfahren, Corporate Governance und weitere Formen des Soft Law vorgeführt. In der Diskussion machte Wolfgang B. Schünemann (TU Dortmund) geltend, Mediation sei Aufgabe von eine Sozialingenieuren und habe nichts mit dem Recht zu tun. Der Einwand war fällig, nachdem Eidenmüller in einem Kurzvortrag auf die im Mediationsgesetz vorgesehene Zertifizierung für Mediatoren hingewiesen [9]BT Drucksache 17/8058 S. 18. und dafür einen Unterrichtsbedarf von 120 Zeitstunden avisiert hatte. Davon sollen anscheinend nach seiner Vorstellung mindestens die ersten 30 Stunden (Grundlagen der alternativen Streitbeilegung) ins Curriculum. Das wäre mehr als die halbe ZPO-Vorlesung.
Der Münchener Rechtsanwalt Ulrich Wastl fand mit seiner These, die Rede vom Soft Law sei eine Verniedlichung; die gemeinten Regeln hätten sich in der Untreue-Rechtsprechung des BGH längst als Hardcore erwiesen und die Rechtswissenschaft habe diese Entwicklung verschlafen, wenig Anklang. Roland Broemel (Hamburg) zeigte, wie aus dem Zivilrecht bekannte Figuren (Organisationspflichten, Wissenszurechnung) in ihrer Verdichtung zu Compliance-Strukturen führen. Er machte klar, dass sich am Beispiel von Corporate Governance auch in der Ausbildung die Bedeutung von Organisation für die Einhaltung des Rechts zeigen lasse. Florian Möslein (Berlin) pries Governance als Instrument der Regelsetzung, als Methode der Rechtssetzungslehre und als Brücke zwischen den Disziplinen. Er zitierte dazu von Thomas S. Ulen, How We Might Teach Law as the Scientific Study of Social Governance. [10]Thomas S. Ulen, The Impending Train Wreck in Legal Education: How We Might Teach Law as the Scientific Study of Social Governance, University of St. Thomas Law Journal, 6, 2009, 302-336. Ulrich Smeddincks Beitrag über eine »Instrumentenlehre des Rechts« verzichtete zwar auf das Label Governance, hätte sich aber zwanglos damit schmücken können, ließ er doch den Policy Circle zur Rechtsgestaltung im Umweltrecht kreiseln. Nachdem zur Sprache gekommen war, dass Verträge (contract governance) und – auf Geheiß der OECD – auch Verbraucherschutz weitere Felder von Governance seien, warf Udo Reifner ein, als Governance sei Herrschaft zur Technik geworden. Ich bezweifle, dass der ausbleibende Widerspruch Zustimmung zum Ausdruck brachte.
Das Stichwort Governance, unübersehbar verkörpert durch Gunnar Folke Schuppert, provozierte aus dem Publikum den Einwurf: Das ist doch alles schon einmal dagewesen. Richtig, und doch nicht ganz zutreffend. Der Neuigkeitswert mancher Vorträge war in der Tat beschränkt. Das gilt besonders, soweit sie Mediation und Täter-Opferausgleich betrafen. Aber es hilft wenig, an die vielen Vorläufer zu erinnern. Viele Probleme als solche sind geblieben, aber das Problembewusstsein ändert sich, und jede Generation muss sie neu erfahren, neu durchdenken und neu formulieren. Wenn die Lösungsvorschläge mit neuen Etiketten versehen werden, steckt dahinter oft ein Sinneswandel. Die Rechtskritik zwischen 1968 und 1990 verband sich mit einer großen Kommunikationseuphorie. Rechtskritik heute ist punktuell und geht mit einem Gestaltungs- und Steuerungsoptimismus einher, der angesichts der Diskussion der 1980er Jahre sehr mutig wirkt. Etwas mehr historische Reflexion wäre im Interesse der auf der Veranstaltung so nachdrücklich geforderten Rechtskritik hilfreich. Wenn man etwa Stephan Breidenbachs Vortrag über »Verfahren gerichtlicher und außergerichtlicher Konfliktbewältigung« mit der Einführung vor § 1025 im AK-ZPO von 1987 vergleicht, so unterscheidet er sich weniger in der Sachinformation als vielmehr durch den Blickwechsel. Vor 1990 war die Alternativendiskussion in erster Linie rechts- und justizkritisch. Das technokratische Interesse der Justiz an einer Entlastung der Gerichte fand nur am Rande Erwähnung und die Beratungsaufgabe der Anwaltschaft wurde vernachlässigt. Breidenbach sortierte die in Betracht kommenden Verfahren aus der Anwaltsperspektive und im Blick auf das Claim-Management großer Unternehmen. Dabei fielen die Probleme der kleinen Leute, für die als Alternative Verbraucherberatung, Beschwerdeverfahren, Ombudsleute, Schlichtungsstellen usw. in Betracht kommen, unter den Tisch. In der Podiumsdiskussion, die den ersten Tag beschloss, gab Andreas Vosskuhle eine ambivalente Analyse und eine eindeutige Empfehlung. Als Folge des Rechtspositivismus habe die Rechtspolitik im Staatsrecht keine Bedeutung mehr. Das Recht sei theoriefeindlich geworden und nehme seine Zuflucht zur Fallmethode. Aber die Juristen spielten in der Gesellschaft eine bedeutende Rolle; sie würden ernst genommen. Mit ihrem Midas-Touch könnten sie politische immer wieder in Verfassungsfragen verwandeln. So seien Juristen die geborenen Rechtspolitiker, und auch in den klassischen Fächern müssten sie steuerungswissenschaftlich denken lernen. Einen wirklich kritischen Beitrag leistete nur Udo Reifner, der Altachtundsechziger aus Hamburg. Er deutete seine »Leidensgeschichte mit der Juristenausbildung« an und sah in den Juristischen Fakultäten bis heute Widerstand gegen echte Reformen. Die Rechtsentwicklung der letzten 200 (?) Jahre habe die Schuldner aus dem Blick verloren. Eigentlich gebe es doch gar keine Vermehrung der Schulden, denn der Saldo von Forderung und Schuld sei immer ausgeglichen. Nur der Schuldner sei der produktive Teil, und dem müsse das Recht Rechnung tragen. Niemand hielt es für nötig, darauf einzugehen oder wagte zu widersprechen.
(Schluss folgt.)
Anmerkungen
↑1 | Seit Anfang der 90er Jahre war unter deutschen Verwaltungsrechtslehrern eine Reformdiskussion in Gang gekommen, in deren Mittelpunkt Wolfgang Hoffmann-Riem und Eberhard Schmidt-Aßmann standen. Sie hatten die Aktivitäten in zehn Tagungen gebündelt und deren Beiträge jeweils in Tagungsbänden zusammengefasst. Den Anfang machte 1993 der Band »Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts«, den Abschluss im Jahre 2004 der Band »Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft«. Seit 2006 erschienen mit dem Anspruch auf eine systematische Gesamtdarstellung die auf drei Bände »Grundlagen des Verwaltungsrechts«. |
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↑2 | Ich bin ja selbst Schleswig-Holsteiner und da fällt mir auf, dass Richterethik eine Spezialität dieses Landes zu sein scheint. Jedenfalls bin ich ihr schon auf dem Symposium Justizlehre in Dresden in der Person der früheren Vizepräsidentin des LG Itzehoe begegnet (Barbara Krix, Richterethik, in: Sächsisches Staatsministerium der Justiz (Hg.), Impulse für eine moderne und leistungsstarke Justiz, 2009, 119-128). Görres-Ohde verwies auf einen Artikel, der im Februarheft 2012 der Schleswig-Holsteinischen Anzeigen erschienen sein soll. Ich habe ihn im Inhaltsverzeichnis nicht gefunden. |
↑3 | Ich darf daran erinnern, dass die Volkswagen Stiftung im Rahmen des Förderschwerpunktes »Recht und Verhalten« zwischen 1997 und 2001 drei Tagungen zur Wirkungsforschung im Recht veranstaltet und in gehaltvollen Tagungsbänden dokumentiert hat: Hagen Hof/Gertrude Lübbe-Wolff, Wirkungsforschung zum Recht I: Wirkungen und Erfolgsbedingungen von Gesetzen, 1999; Hermann Hill/Hagen Hof (Hg.), Wirkungsforschung zum Recht II: Verwaltung als Adressat und Akteur, 2000; Hermann Hill/Hagen Hof (Hg.), Wirkungsforschung zum Recht III: Folgen von Gerichtsentscheidungen, 2001. |
↑4 | Gespannt war ich auf die von Hill beiläufig erwähnte Internetseite »Wir sind Einzelfall«, von der ich erwartet hatte, sie würde »Einzelfälle« aus der Gerichts- und Verwaltungspraxis verallgemeinern. Tatsächlich geht es aber um lokale Probleme bei Datenverbindungen, insbesondere im O2-Netz. |
↑5 | Im Tagungskonzept war noch, anders als im Programm, von »Kolonisation« die Rede. |
↑6 | Richard L. Abel, Delegalization: A Critical Review of Its Ideology, Manifestations, and Social Consequences, in: Erhard Blankenburg u. a., Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht = Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 6 1980, 27-47; Richard L. Abel, The Contradictions of Informal Justice in: ders., The Politics of Informal Justice. The American Experience. New York: Acad. Press, 1982, 267-320. |
↑7 | Laura Nader, Harmony Ideology: Justice and Control in a Zapotec Mountain Village, Stanford University Press 1990; dies., Controlling Processes, Current Anthropology 38, 1997, 711–737. Dazu aus der Distanz von heute Klaus F. Röhl, Alternatives to Law and to Adjudication, in: Knut Papendorf u. a. (Hg.), Understanding Law in Society, Developments in Socio-Legal Studies, 2011, S. 191-238. |
↑8 | Ich habe diese Kritik in drei Postings zusammengetragen: Das zweite Mediations-Paradox: Erfolgreich, schneller, billiger und besser, aber ungenutzt Noch einmal: Das zweite Mediationsparadox Mit harten Bandagen in die Mediation?. |
↑9 | BT Drucksache 17/8058 S. 18. |
↑10 | Thomas S. Ulen, The Impending Train Wreck in Legal Education: How We Might Teach Law as the Scientific Study of Social Governance, University of St. Thomas Law Journal, 6, 2009, 302-336. |
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Die Grundlagenfächer in der Ausbildungsdiskussion
Auf den Tagungen der Volkswagen Stiftung in Berlin und Celle bestand große Einmütigkeit über die Bedeutung der Grundlagenfächer. Meinungsverschiedenheiten, die aber nicht ausdiskutiert wurden, gab es nur darüber, ob sie auch abgeprüft werden sollten. Bevor ich mit meinem Tagungsbericht fortfahre – er ist noch nicht ganz fertig – ziehe ich einen kurzen Rückblick auf die Ausbildungsdiskussion aus der Schublade [1]Gründlicher und besser Wolfgang Hoffman-Riem, Zwischenschritte zur Modernisierung der Rechtswissenschaft, JZ 2007, 1-15..
Die Reform der juristischen Ausbildung war und ist ein Dauerthema. Auf dem Juristentag 1912 wurde von Anhängern der Freirechtsschulen erstmals die Einbeziehung der Soziologie in die Juristenausbildung verlangt. Im Grunde ging es nur um den gegen Begriffsjurisprudenz und Subsumtionsdogma gerichteten Wunsch nach stärkerer Berücksichtigung der sozialen Realität. Für die Zeitgenossen war die Forderung aber viel zu radikal, als dass sie ernsthaft in Betracht gezogen worden wäre.
Nach dem 2. Weltkrieg begannen die Bemühungen um eine Studienreform 1954 in Freiburg in einem »Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung«. Sie mündeten 1960 in einen umfassenden, die gesamte Literatur auswertenden Reformplan. Von den Forderungen des Arbeitskreises wurde 1965 die Verkürzung der Referendarausbildung von dreieinhalb auf zweieinhalb Jahre umgesetzt. Gleichzeitig wurde ein Stufenplan für das Studium eingeführt, der die Teilnahme an den Vorgerücktenübungen von der Teilnahme an einer Anfängerübung und die Zulassung zu dieser Übung wiederum von der Teilnahme an einer Anfängerarbeitsgemeinschaft abhängig machte. Im Reformausschuss des Fakultätentages einigte man sich darauf, dass die erste juristische Staatsprüfung eine wissenschaftliche Fachprüfung sein und sich nicht nur auf das positive Recht und seine dogmatische Erfassung, sondern auch auf die philosophischen, historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen erstrecken sollte, die für das Verständnis des geltenden Rechts und seiner Dogmatik erforderlich seien. Damit waren die sog. Grundlagenfächer – Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie – erfunden, und zwar technisch als Wahlpflichtfächer. Jeder Student sollte sich für eines dieser Fächer entscheiden. Im Übrigen wollte man die Ausbildung vor allem durch eine radikale Beschneidung des Prüfungsstoffes zu reformieren.
Inzwischen hatte die 1968 einsetzende Studentenbewegung zu einer Grundsatzkritik der juristischen Ausbildung geführt, die nicht zuletzt von marxistischen Vorstellungen über das Verhältnis von Staat und Recht als Herrschaftsinstrumenten für Kapital und Militär geprägt waren. Damit erhielt die Forderung nach Berücksichtigung der Sozialwissenschaften, die bis dahin ganz harmlos durch die Forderung nach größerer Realitätsnähe des Rechts motiviert war, eine neue radikalere und politische Färbung. Nun nahm die Reformdiskussion Fahrt auf. 1970 wurde die sog. Experimentierklausel als § 5b in das Deutsche Richtergesetz aufgenommen. Auf ihrer Grundlage wurde ab 1973 in verschiedenen Bundesländern die einstufige Juristenausbildung eingeführt. Ihr Ziel war zwar in erster Linie die Verbindung von Theorie und Praxis. Aber sie gab auch den Sozialwissenschaften größeren Raum. Nach dem Modellentwurf für die einstufige Juristenausbildung in Hessen (»Wiesbadener Modell«) war das Reformziel »der kritisch aufgeklärt-rational handelnde Jurist, der sich der Realität der Gesellschaft bewusst ist und seine eigene Funktion sowie die des Rechts reflektiert. Seine Aufgabe ist es, auf der Grundlage des veränderten Verhältnisses von Staat und Gesellschaft die freie Entfaltung der Persönlichkeit jedes einzelnen Bürgers innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung zu gewährleisten und zu fördern …«. Der künftige Jurist, so hieß es weiter, »müsse die Rechtswissenschaft als Teil der Sozialwissenschaften erkennen«, und seine Ausbildung sollte mit einem »sozialwissenschaftlich-juristischen Grundstudium« beginnen. Coing kritisierte den wissenschaftstheoretischen Ausgangspunkt, denn das Recht sei eine selbständige Wissenschaft, vor allem aber monierte er, dass in diesem Entwurf von der Bindung an Recht und Gesetz keine Rede sei.
Zwar hatte der Juristentag 1970 mit 333:5 Stimmen beschlossen:
»Die Ausbildung muss den Juristen in die Lage versetzen, die Wechselwirkung zwischen Recht und Wirklichkeit zu erfassen, die sozialen Hintergründe rechtlicher Regelungen zu erkennen und zu verarbeiten.« [2]Verhandlungen des 48. DJT, In welcher Weise empfiehlt es sich, die Ausbildung der Juristen zu reformieren? Sitzungsberichte Bd. II Teil P, 1970, S. 314 (Beschluss Nr. 2). Es bestand also mehr oder weniger Übereinstimmung, dass Alltagserfahrung und akademische Bildung nicht mehr ausreichten, um die verwickelten und teilweise verdeckten Zusammenhänge der sozialen Realität zu überschauen. Wie das geschehen sollte, gab jedoch Anlass zu politisch gefärbten Kontroversen. Die Protagonisten der Sozialwissenschaften wollten mehr als Aufklärung über den sozialen Kontext rechtlicher Regelungen. Sie stellten mit der Realitätskenntnis der Juristen auch die Legitimität des Rechts in Frage. Einige griffen unmittelbar auf marxistische Vorstellungen zurück, um Recht und Justiz als Klassenherrschaft anzuprangern. Andere verallgemeinerten (ganz unsoziologisch) rechtstheoretische Vorstellungen über den dezisionistischen Charakter juristischer Entscheidungen, um die Jurisprudenz als versteckte Politik zu entlarven. [3]Seriös und gemäßigt Rudolf Wassermann, Der Politische Richter, 1972. Fordernd sah Lautmann die »Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz«. In Bremen wollte man die »Hüter von Recht und Ordnung« durch »neue Juristen« ersetzen, der politisch aktiv handeln sollten, und Rottleuthner erklärte die Rechtswissenschaft schlechthin zur Sozialwissenschaft.
Direktes Ziel solcher Vorstöße war eine volle Integration der Sozialwissenschaften in die juristische Ausbildung. Nicht wenige vermuteten dahinter das Ziel einer Veränderung des politischen Systems, und sie sahen das »Trojanische Pferd in der Zitadelle des Rechts«. Man befürchtete, dass sich die einstufige Juristenausbildung in den für linkslastig gehaltenen Fachbereichen in Bremen, Hamburg und Frankfurt zu »linken Kaderschmieden« entwickeln könnten. Andere antworteten differenzierter, indem sie die Autonomie der Rechtswissenschaft betonten und die Relevanz der Sozialwissenschaft für die juristische Entscheidungstätigkeit in Frage stellten [4]Wolfgang Naucke, Über die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften, 1972; Helmut Schelsky, Nutzen und Gefahren der sozialwissenschaftlichen Ausbildung von Juristen, JZ 1974, 410-416. Klaus … Continue reading, und wiederum andere bemühten sich um konkrete Vorschläge, wie die Sozialwissenschaften in die juristische Ausbildung einbezogen werden könnten [5]Christian Dästner/Werner Patett/Rudolf Wassermann (Hg.) Sozialwissenschaften in der Rechts-ausbildung, Unterrichtsmaterialien für die Praxis, 1979; Dieter Grimm (Hg.), Rechtswissenschaften und … Continue reading. Das Reformprojekt endete 1984, weil es – vor allem dadurch, dass die Studenten während der Praxisphase wie Referendare bezahlt wurden – zu teuer wurde und auch politisch nicht mehr erwünscht war. Im Nachhinein hat die einstufige Juristenausbildung für ihre Verbindung von Theorie und Praxis jedoch viel Lob erhalten.
Der politische Eifer ist verflogen. Die sog. Grundlagenfächer haben durch die Studienreform von 2003, die die Prüfung insoweit aus dem Staatsexamen auf die Universitäten verlagert hat, etwas an Bedeutung gewonnen. Doch die Vorliebe von Dozenten und Studenten gehört nach wie vor der Rechtsgeschichte und der Rechtsphilosophie, und die Aufmerksamkeit der Wissenschaft gilt eher der Ökonomischen Analyse des Rechts, seiner Internationalisierung und der Steuerungsdiskussion, die jetzt unter dem Label Governance läuft.
Anmerkungen
↑1 | Gründlicher und besser Wolfgang Hoffman-Riem, Zwischenschritte zur Modernisierung der Rechtswissenschaft, JZ 2007, 1-15. |
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↑2 | Verhandlungen des 48. DJT, In welcher Weise empfiehlt es sich, die Ausbildung der Juristen zu reformieren? Sitzungsberichte Bd. II Teil P, 1970, S. 314 (Beschluss Nr. 2). |
↑3 | Seriös und gemäßigt Rudolf Wassermann, Der Politische Richter, 1972. |
↑4 | Wolfgang Naucke, Über die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften, 1972; Helmut Schelsky, Nutzen und Gefahren der sozialwissenschaftlichen Ausbildung von Juristen, JZ 1974, 410-416. Klaus Lüderssen, Wie rechtsstaatlich und solide ist ein sozialwissenschaftliches Grundstudium?, JuS 1974, 131-135. |
↑5 | Christian Dästner/Werner Patett/Rudolf Wassermann (Hg.) Sozialwissenschaften in der Rechts-ausbildung, Unterrichtsmaterialien für die Praxis, 1979; Dieter Grimm (Hg.), Rechtswissenschaften und Nachbarwissenschaften, 2 Bde, 1973; Wolfgang Hoffmann-Riem (Hg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts: Verfassungs- und Verwaltungsrecht, 1977. |
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Volkswagen Stiftung checkt die Rechtswissenschaft
Am 23. und 24. Februar 2012 wurde in Berlin die von der Volkswagen Stiftung und dem OLG Celle gemeinsam veranstaltete Tagung über »Rechtsgestaltung – Rechtskritik – Konkurrenz von Rechtsordnungen. Neue Akzente für die Juristenausbildung« fortgesetzt. [1]Über den ersten Durchgang hatte ich im Eintrag vom 8. 12. 2011 berichtet.
Im Januar 2009 hatte die Volkswagen Stiftung zusammen mit der Stiftung Mercator 10 Mill. EUR für ein Programm »Bologna – Zukunft der Lehre« ausgelobt. [2]Dazu der Eintrag vom 11. März 2009 »Schluss mit der Rechtsdidaktik«. Ich hatte daher angenommen, mit der Tagung sollte von Seiten der Stiftung das mit dieser Auslobung bekundete Interesse an Hochschullehre und Juristenausbildung verfolgt werden. Bei der Verabschiedung der Tagungsteilnehmer in Berlin deutete Prof. Dr. Hagen Hof von der Volkswagen Stiftung jedoch an – was wohl nicht nur mir bis dahin entgangen war –, dass die Stiftung ein weitergehendes Anliegen verfolgt, nämlich die Erneuerung der Universitäten aus ihren Fächern als Kontrastprogramm zu den effizienzorientierten Strukturreformen des letzten Jahrzehnts. Da diese Strukturreformen nicht zuletzt im Bologna-Prozess ihren Ausdruck fanden, ist es kein Zufall, dass die Stiftung sich der Rechtswissenschaft zugewandt hat, die sich gegen den Bologna-Prozess resistent gezeigt hatte. Es traf sich aber auch, dass angesichts dieser Resistenz der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft Pläne für eine Tagung zur Juristenausbildung aufgegeben hatte, nachdem die Festlegung auf das Bologna-Modell [3]Neue Wege in der Juristenausbildung. Die Empfehlungen der Expertenkommission, herausgegeben von Andreas Schlüter und Barbara Dauner-Lieb, Stifterverband, Essen 2010. obsolet geworden war. Schließlich erfuhr man noch, dass Tagung und Tagungsband (der schon im April erscheinen soll) auch dazu gedacht sind, auf die Beratungen des Wissenschaftsrats Einfluss zu nehmen, der sich im ersten Halbjahr 2012 mit den »Perspektiven der Rechtswissenschaft« befassen will [4]Wissenschaftsrat, Arbeitsprogramm Januar –Juli 2012, S. 12f. und dazu eine Arbeitsgruppe gebildet hat. Obwohl das Tagungsprogramm der Volkswagen Stiftung älter ist als die Veröffentlichung des Arbeitsprogramms des Wissenschaftsrats, liegt es nahe, letzteres in das Tagungskonzept hineinzulesen. Dazu sei es hier in vollem Umfang zitiert:
»Die Arbeitsgruppe wird sich mit der Frage beschäftigen, wie die Rechtswissenschaft unter den veränderten wissenschaftspolitischen Bedingungen in dem sich dynamisch entwickelnden Wissenschafts- und Hochschulsystem zu verorten ist. Die zunehmende Autonomie der Hochschulen sowie die Notwendigkeit, ein spezifisches Profil in Forschung und Lehre ausbilden zu müssen, stellen die Rechtswissenschaft vor die Herausforderung, sich als Fach in den Hochschulen selbst und im Wissenschaftssystem zu positionieren. Diese Positionierung erfolgt unter den Bedingungen einer zunehmenden Europäisierung und Globalisierung des Rechts, was eine weitere zentrale Herausforderung für die rechtswissenschaftliche Forschung und Lehre darstellt.
In einem ersten Schritt sollte die Arbeitsgruppe das Wissenschaftsverständnis der Jurisprudenz als Fach im Spannungsfeld von Wissenschafts- und Praxisorientierung klären, um Parameter sowohl für die Bewertung rechtswissenschaftlicher Forschung als auch rechtswissenschaftlicher Ausbildung zu entwickeln. Diese Klärung bildet eine Voraussetzung, um Empfehlungen zum Umgang mit den beiden zentralen Herausforderungen zu erarbeiten, nämlich sich als Rechtswissenschaft im Hochschul- und Wissenschaftssystem zu positionieren und strukturelle Antworten auf die Internationalisierung und Europäisierung in Forschung und Lehre zu entwickeln. Dabei können die Binnenausrichtung der Rechtswissenschaft, zum Beispiel das Verhältnis von Grundlagen- und dogmatischen Fächern, aber auch das Wechselverhältnis von Rechtswissenschaft und Rechtsprechung, die Kooperation mit anderen Wissenschaften sowie die internationale Anschlussfähigkeit Gegenstand von Empfehlungen sein.«
Auf den ersten Blick liegt es fern, von einer Tagung zur Juristenausbildung Antworten auf die vom Wissenschaftsrat aufgeworfenen Fragen zu erhoffen. Da scheint der Schwanz mit dem Hund zu wackeln. Aber der Zusammenhang von Rechtswissenschaft, Juristenausbildung und Fachdidaktik ist nicht so eindeutig, dass die Ausbildung nur Appendix wäre. Unbedacht geht man leicht davon aus, dass das Curriculum (hier im Sinne von Ausbildungsziel und Stoffkatalog) aus einem als konsolidiert gedachten Bestand von wissenschaftlichen Theorien, Methoden und mit ihrer Hilfe erarbeiteten Materien abgeleitet wird und dass die Didaktik dann wiederum nur das Instrument bildet, um den Stoffkatalog zur Erreichung der Ausbildungsziele zu mobilisieren. Aber in der unendlichen Diskussion über die Juristenausbildung hat sich immer wieder gezeigt, dass man eben nicht von einer konsolidierten Rechtswissenschaft ausgehen kann und dass Anforderungen der Praxis über die Ausbildung auf die Wissenschaft zurückwirken. Deshalb ist die Ausbildungsdiskussion auch ein Prüfstein für Wissenschaftsverständnis und Perspektiven der Rechtswissenschaft. Und deshalb war die Ausrichtung der Tagung auf die Juristenausbildung und hier wiederum die Problematisierung des Verhältnisses von Theorie und Praxis für die Fragestellung des Wissenschaftsrats durchaus relevant. Dazu passte auch die Beteiligung des Oberlandesgerichts Celle als Mitveranstalter. Natürlich konnte die Tagung nicht alle vom Wissenschaftsrat aufgeworfenen Fragen abdecken. Insbesondere diejenige nach der Positionierung der Rechtswissenschaft im Wissenschafts- und Hochschulsystem lag jenseits der Thematik. Auch die Kooperation mit anderen Wissenschaften, Europäisierung, Globalisierung und internationale Anschlussfähigkeit lagen allenfalls am Rande. Im Mittelpunkt standen – immer aus der Sicht der Ausbildung – das Verhältnis von Grundlagen- und dogmatischen Fächern und die Praxisorientierung der Rechtswissenschaft.
Allerdings konnte man nicht erwarten, dass die Tagungsbeiträge einzeln oder in ihrer Gesamtheit den Weg für eine Erneuerung der Rechtswissenschaft von innen zeigen würden, und zwar allein schon deshalb nicht, weil die Referenten diesen Hintergrundauftrag wohl überwiegend gar nicht wahrgenommen und sich dem ausformulierten Tagungskonzept entsprechend auf die Ausbildung konzentriert hatten. Für eine Erneuerung der Rechtswissenschaft von innen fehlt es aber auch an einer tragenden Idee. Die drei bekannten Kandidaten, von denen keiner bisher Mehrheiten überzeugen konnte – Systemtheorie, postmoderne Rechtstheorie und Ökonomische Analyse des Rechts – sehen inzwischen schon ziemlich alt aus. In den Referaten spielte keiner von ihnen eine tragende Rolle. Europäisierung und Globalisierung sind zeithistorische Phänomene, liefern aber per se keine Wegweiser, wie sich die Rechtswissenschaft künftig aufstellen könnte und sollte. So war es wohl eine gute Idee, kleine Brötchen zu backen und die Renovierung der Jurisprudenz aus der Perspektive der Ausbildung aufzurollen.
Über einige Inhalte, die auf der Tagung zur Sprache kamen, will ich in einem Folgebeitrag berichten.
Anmerkungen
↑1 | Über den ersten Durchgang hatte ich im Eintrag vom 8. 12. 2011 berichtet. |
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↑2 | Dazu der Eintrag vom 11. März 2009 »Schluss mit der Rechtsdidaktik«. |
↑3 | Neue Wege in der Juristenausbildung. Die Empfehlungen der Expertenkommission, herausgegeben von Andreas Schlüter und Barbara Dauner-Lieb, Stifterverband, Essen 2010. |
↑4 | Wissenschaftsrat, Arbeitsprogramm Januar –Juli 2012, S. 12f. |
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Volkswagen Stiftung will den Theorie-Praxis-Bruch in der Juristenausbildung kitten
Im Eintrag vom 28. Januar 2012 über »Rechtstheorie, Methoden und Methodenlehre« hatte ich darauf hingewiesen, dass es eher kontraproduktiv seien könnte, die von der Volkswagen Stiftung artikulierte Kritik und ihre Forderungen an die Juristenausbildung der juristischen Methodenlehre anzulasten. Allerdings findet sich die Stiftung in guter Gesellschaft, wenn sie die Methodenlehre für alle Übel verantwortlich macht. Aber diese Gesellschaft verwechselt, wie gesagt, Methode im Allgemeinen mit dem engeren Programm der juristischen Methodenlehre. Josef Esser begann sein Buch über »Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung« (1970) mit der Feststellung, »daß unsere akademische Methodenlehre dem Richter weder Hilfe noch Kontrolle bedeutet«. Seither gehört es zum guten Ton, in das Klagelied über den Abstand zwischen juristischer Methodenlehre und Rechtspraxis einzustimmen. [1]Ein Stimmregister bei Christian Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, 130. Zahlreiche Beiträge zum Theorie-Praxis-Bruch bietet das Sonderheft »Juristische … Continue reading
Die These vom Theorie-Praxis-Bruch lässt sich so verstehen, dass die Praxis hinter der (an sich brauchbaren) Theorie zurückbleibt. Oder sie kann besagen, dass die juristische Methodenlehre an der Praxis vorbeiläuft. Als Indiz für die Irrelevanz der Methodenlehre für die Praxis dient die Tatsache, dass Gerichtsurteile nur selten explizit auf die Standards der Methodenlehre Bezug nehmen, sondern sich in der Regel mit der Anführung von Kommentarstellen und höchstrichterlicher Rechtsprechung zufrieden geben. Aber die Erwartung, dass die juristische Praxis ständig die Methodenlehre bemüht, geht von falschen Erwartungen aus. Die Rechtsgewinnung lege artis ist so aufwendig, dass sie als Praxismethode nur ausnahmsweise in Betracht kommt. Die Praxis darf und muss sich auf die Vorarbeit des juristischen Schrifttums und auf Präjudizien verlassen und sich deren Argumentation zu Eigen machen. Das Geschäft der Rechtswissenschaft besteht zu einem erheblichen Teil darin, für die Rechtsprechung methodisch haltbare Begründungen vorzuschlagen, fehlende Begründungen nachzuliefern oder die Unbegründbarkeit von Entscheidungen zu konstatieren.
Die Methodenlehre stellt sich prinzipiell auf den Standpunkt eines Revisionsgerichts. Deshalb ist von vornherein nicht zu erwarten, dass die Instanzgerichte explizit die Methodenlehre bemühen. Anders liegt es bei den Revisionsgerichten. Inzwischen liegt eine Reihe empirischer Untersuchungen zur Begründungspraxis des BGH vor. Raisch [2]Peter Raisch, Vom Nutzen der überkommenen Auslegungskanones für die praktische Rechtsanwendung, 1988., Seiler [3]Wolfgang Seiler, Höchstrichterliche Entscheidungsbegründungen und Methode im Zivilrecht, 1992. und Muscheler [4]Karlheinz Muscheler, Entstehungsgeschichte und Auslegung von Gesetzen in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: Joachim Bohnert (Hg.), Verfassung – Philosophie – Kirche, … Continue reading haben Zivilurteile des BGH durchgesehen, Simon [5]Eric Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, Eine Analyse der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 2005. sowie Kudlich und Christensen [6]Hans Kudlich/Ralph Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen, Eine medienwissenschaftliche Inhaltsanalyse von Entscheidungsgründen in Strafsachen samt rechtstheoretischen Anschlussfragen, … Continue reading Strafurteile. Die Untersuchungen zeigen übereinstimmend, dass Präjudizien das wichtigste Begründungselement in obergerichtlichen Urteilen bilden. [7]Die Prognose Ladeurs (Computerkultur und Evolution der Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 74, 1988, 218-238, S. 237 Fn. 114), »wegen des Zerfalls … Continue reading Aber bemerkenswert häufig wird explizit die juristische Methodenlehre bemüht und ebenso bemerkenswert ist es, dass häufig auf eine historische Gesetzesauslegung zurückgegriffen wird. Solche Untersuchungen begegnen allerdings dem Einwand, dass die Bezugnahme auf die Methode nur der nachträglichen Darstellung der Entscheidung gedient habe. Die Methodenlehre sei insofern unehrlich, als sie nicht im Stande sei, außerjuristische Einflüsse bei der Entscheidungsbildung sichtbar und kontrollierbar zu machen. Dieser Gesichtspunkt wird gewöhnlich – so auch hier schon – unter der Überschrift »Herstellung und Darstellung juristischer Entscheidungen« abgehandelt. Doch das ist nicht der Ansatzpunkt der Berliner Tagung.
Spezifischer wird die These vom Theorie-Praxis-Bruch mit dem Vorwurf, die juristische Methodenlehre räume dem »Fall« als lebensweltlicher Anbindung aller Rechtsfindung keinen angemessenen Platz ein. Mit dem Subsumtionsideal werde das abstrakt-generelle Gesetz von dem konkret individuellen Rechtsfall abgespalten [8]Rolf Gröschner, Verhältnis zwischen Theorie und Praxis in einer dialogisch rekonstruierten Techne der Jurisprudenz, Rechtstheorie 32, 2001, 213-225, S. 214.. Die Praxis sei in erster Linie mit der Sachverhaltsermittlung befasst, einem Handlungsbereich, der von der juristischen Methodenlehre völlig vernachlässigt werde [9]Hans-Joachim Strauch, Grundgedanken einer Rechtsprechungstheorie, Thüringer Verwaltungsblätter, 2003, 1-7, S. 2.. Diese Kritik wird von der Volkswagen Stiftung aufgenommen mit der Forderung, die Methodenlehre um eine »Ausbildung in der Erfassung von Sachverhalten« anzureichern. [10]Tagungskonzeption S. 4 unter f).
Was den Umgang mit Sachverhalten betrifft, so gibt es drei Problemkreise. Nur einer gehört jedenfalls am Rande in die Methodenlehre und wird dort als Frage nach der Konstitution oder Konstruktion des Rechtsfalls behandelt. Ein zweiter Problemkreis hat mit der Lebensfremdheit von juristischen Übungsfällen zu tun, die als »Lehrbuchkriminalität« [11]Nach Herbert Jäger, Glosse über Lehrbuchkriminalität, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1973, S. 300-306. bekannt wurde. Der dritte Problemkreis betrifft die Ermittlung zweifelhafter Tatsachen in der forensischen und anwaltlichen Praxis.
1. »Die Konstitution des Rechtsfalls« [12]Nach dem Titel des Buches von Joachim Hruschka, Die Konstitution des Rechtsfalles, Studien zum Verhältnis von Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung, 1965. Die Konstitution oder »Konstruktion … Continue reading
In der juristischen Ausbildung wird die Methode der Rechtsgewinnung an Fällen geübt, die kontextfrei auf bestimmte Normen zugeschnitten sind. In der Praxis gewinnt der Fall, der entschieden werden soll, seine Konturen jedoch oft erst aus der anzuwendenden Rechtsnorm, während umgekehrt die Rechtnorm im Blick auf einen bestimmten Sachverhalt gewählt wird – eine spezielle Erscheinungsform des hermeneutischen Zirkels. Nach einer sprichwörtlich gewordenen Formulierung von Engisch [13]Karl Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, Heidelberg 1943, 15. geht es um das »Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt«. Dieses Phänomen taugt nicht als Argument gegen die Entscheidungserheblichkeit der üblichen juristischen Auslegungsmethoden. Aber es lenkt den Blick auf die Verantwortung des Juristen für die Erfassung des Sachverhalts, die sich im Prozess als richterliche Aufklärungspflicht konkretisieren kann. Insofern heißt es im Tagungskonzept der Volkswagen Stiftung zutreffend, »in den Studierenden [müsse] eine kritische Sensibilität für die subjektiv bedingte ›Zurichtung‹ des Sachverhalts durch den juristischen Entscheider geweckt werden« [14]Tagungskonzept S. 4 unter f)..
2. Die juristischen Übungsfälle sind nicht nur kontextfrei, sondern auch lebensfremd. Dazu bereits der Eintrag vom 13. 12. 2009 über die Fallerzählungen der Juristen. Die Abstraktheit der Übungsfälle ist kein Defizit, sondern Absicht, weil die Fälle gebildet werden, um bestimmte Normstrukturen zu verdeutlichen.
3. Tatsachenfeststellung vor Gericht, in Verwaltungsverfahren und in der anwaltlichen Praxis – in erster Linie darum geht es auf der Berliner Tagung der Volkswagen Stiftung. Die Sachverhaltsfeststellung fordert ganz andere Methoden als die Rechtsgewinnung. Daher überlässt die akademische Methodenlehre den Themenbereich der Sachverhaltsermittlung dem Verfahrensrecht. Aber auch das Verfahrensrecht befasst sich nicht wirklich mit der Sachverhaltsermittlung, sondern behandelt zunächst nur die Modalitäten der Beweiserhebung und allgemeine Grundsätze der Beweiswürdigung. Anleitungen für die Sachverhaltsermittlung selbst ergeben sich daraus unmittelbar nicht. Das Bedürfnis dafür liegt jedoch auf der Hand.
Der Versuch, eine wissenschaftliche Beweislehre in das Prozessrecht zu integrieren und sie damit auch für die Ausbildung verfügbar zu machen, ist nicht ganz neu. Das war ein Anliegen u. a. des von Rudolf Wassermann betriebenen Projekts der Alternativkommentare, und hier insbesondere des AK-ZPO. Dort wiederum hatte es vor allem Helmut Rüssmann [15]Vgl. auch Helmut Rüssmann, Allgemeine Beweislehre und Denkgesetze, RuP 1982, 62; ders., Das Theorem von Bayes und die Theorie des Indizienbeweises, ZZP 103 (1990), 62; ders., Zur Mathematik des … Continue reading übernommen, die Grundlagen einer wissenschaftlichen Beweislehre einzuarbeiten. Es stellt sich die Frage, warum dieses Projekt letztlich gescheitert ist. Das liegt wohl daran, dass es gar nicht möglich ist, jedem Juristen so viel Vernehmungspsychologie, Kriminalistik, medizinische, bau- und verkehrstechnische Kenntnisse zu vermitteln, dass mehr als Scheinwissen oder Dilettantismus herauskommt. Bei Interesse und Bedarf kann die Aneignung solider Kenntnisse durchaus gelingen. Eine der besten Beweislehren ist von Juristen verfasst worden [16]Rolf Bender/Armin Röder/Wolf-Dieter Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 3. Aufl. 2007.. Aber es gibt so viel außerjuristisches Wissen, über das Juristen für die Sachverhaltsermittlung »eigentlich« verfügen müssten – Wirtschaftswissenschaft, Bilanzkunde, Soziologie, Psychologie, Kriminologie, Informatik usw. –, dass keiner alles beherrschen kann. [17]Und es werden immer neue Wünsche angemeldet, so in NJW-aktuell 8/2012 S. 12 die Forderung nach speziellen psychologischen Kenntnissen für Anwälte in familiengerichtlichen Verfahren.
Man muss wohl trennen nach Ermittlungen, die Juristen sozusagen eigenhändig vornehmen, also in erster Linie die Auswertung von Akten und Urkunden und die Vernehmung von Auskunftspersonen, sowie nach Ermittlungen, für die sie sachverständige Hilfe bemühen. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich der der Do-it-yourself-Bereich durch die Informationstechnologie sehr verändert. Der technische Sprung von der Filmkamera zur Digitalkamera hat die Produktion von und den Umgang mit Standbildern Filmen so einfach, so billig und so ubiquitär werden lassen, dass heute bei vielen, wenn nicht den meisten Sachverhalten, die juristisch relevant werden, Bilder vorhanden sind. Die Nutzung von Bildern aller Art als Beweismittel in Gerichtsprozessen ist daher längst Routine, deshalb aber nicht unproblematisch. [18]Dazu kürzlich Benjamin Kertai, Das Bild im Strafverfahren. Strafprozessuale Probleme bei der Visualisierung, Multimedia und Recht 2011, 716-720. Für den Do-it-yourself-Bereich gibt es in Kommentaren [19]Wie sehr das Gebiet vernachlässigt wird, zeigt die 70. Auflage des ZPO-Kommentars von Baumbach-Lauterbach von 2012, die das wichtige Werk von Bender/Röder/Treuer, das 2007 in 3. Auflage erschienen … Continue reading und Praktikerliteratur [20]Aus wissenschaftstheoretischer Sicht wird die Sachverhaltsfeststellung von Arne Upmeier, Fakten im Recht, 2010, analysiert. Die Untersuchung bestätigt, was im Grund bekannt ist, dass wir nämlich … Continue reading eher kümmerliche Hinweise. Eine kompakte, für die Ausbildung brauchbare Beweislehre sehe ich nicht. Die Ausbildung kann daher wohl kaum mehr leisten, als die angehenden Juristen von der Existenz einer wissenschaftlichen Beweislehre zu überzeugen und ein Problembewusstsein hinsichtlich der Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen, der Qualität digitalisierter Information und der Leistungsfähigkeit von Sachverständigengutachten [21]Es gibt z. B. Literatur zum Sachverständigenbeweis im Bauprozess, im Verkehrsrecht, im Medizinhaftungsprozess usw. Aber ein kompaktes Handbuch wie das »Reference Manual on Scientific Evidence« des … Continue reading zu vermitteln.
Einleuchtend sind auch die im Tagungskonzept ventilierten Forderungen nach Vermittlung einer »Instrumentenlehre«, einer »Institutionenlehre« und einer »Verfahrenslehre«. [22]Im Konzeptionspapier heißt es dazu: »Ferner bedarf es einer breiter angelegten ›Instrumentenlehre‹, die das verfügbare Arsenal rechtlicher Regelungsinstrumente systematisch sichtet auch unter … Continue reading Ich befürchte nur, dass auch insoweit erst die Wissenschaft handliche Konzepte liefern muss, bevor sich in der Ausbildung etwas ändern kann. Ich bin daher gespannt, was die Referenten vorschlagen werden.
Anmerkungen
↑1 | Ein Stimmregister bei Christian Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, 130. Zahlreiche Beiträge zum Theorie-Praxis-Bruch bietet das Sonderheft »Juristische Methodenlehre« = Heft 2-3 der Zeitschrift für Rechtstheorie Bd. 32, 2001, hg. von Werner Krawietz und Martin Morlok. Es handelt sich um Beiträge zu einer im Oktober 2000 veranstalteten Tagung in Hagen. Sie sollte den Start für ein Forschungsprojekt bilden, das die in der juristischen Praxis verwendeten Argumentationsweisen empirisch erheben sollte. Das Projekt unter der Leitung von Martin Morlok hat jedoch nicht zu einer abschließenden und zusammenfassenden Veröffentlichung geführt. Immerhin sind daraus zwei wichtige Dissertationen entstanden, nämlich Agnes Launhardt, Topik und Rhetorische Rechtstheorie, Eine Untersuchung zu Rezeption und Relevanz der Rechtstheorie Theodor Viehwegs, 2010, sowie Peter Stegmaier, Wissen, was Recht ist, Richterliche Rechtspraxis aus wissenssoziologisch-ethnografischer Sicht, 2009. |
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↑2 | Peter Raisch, Vom Nutzen der überkommenen Auslegungskanones für die praktische Rechtsanwendung, 1988. |
↑3 | Wolfgang Seiler, Höchstrichterliche Entscheidungsbegründungen und Methode im Zivilrecht, 1992. |
↑4 | Karlheinz Muscheler, Entstehungsgeschichte und Auslegung von Gesetzen in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: Joachim Bohnert (Hg.), Verfassung – Philosophie – Kirche, Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, 2001, S. 99. |
↑5 | Eric Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, Eine Analyse der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 2005. |
↑6 | Hans Kudlich/Ralph Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen, Eine medienwissenschaftliche Inhaltsanalyse von Entscheidungsgründen in Strafsachen samt rechtstheoretischen Anschlussfragen, 2009. |
↑7 | Die Prognose Ladeurs (Computerkultur und Evolution der Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 74, 1988, 218-238, S. 237 Fn. 114), »wegen des Zerfalls der Kontinuität und Ordnung stiftenden Erfahrung« werde die Orientierungsfunktion der Präzedenzfälle für die Rechtsprechung an Bedeutung verlieren, ist bisher nicht eingetroffen. |
↑8 | Rolf Gröschner, Verhältnis zwischen Theorie und Praxis in einer dialogisch rekonstruierten Techne der Jurisprudenz, Rechtstheorie 32, 2001, 213-225, S. 214. |
↑9 | Hans-Joachim Strauch, Grundgedanken einer Rechtsprechungstheorie, Thüringer Verwaltungsblätter, 2003, 1-7, S. 2. |
↑10 | Tagungskonzeption S. 4 unter f). |
↑11 | Nach Herbert Jäger, Glosse über Lehrbuchkriminalität, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1973, S. 300-306. |
↑12 | Nach dem Titel des Buches von Joachim Hruschka, Die Konstitution des Rechtsfalles, Studien zum Verhältnis von Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung, 1965. Die Konstitution oder »Konstruktion des Rechtsfalls« ist auch Gegenstand empirischer Forschung gewesen. (Jeannette Schmid/Thomas Drosdeck/Detlef Koch, Der Rechtsfall – ein richterliches Konstrukt, 1997; zusammenfassend Kent D. Lerch, Wissen oder Willkür? Zur Konstruktion des Rechtsfalls durch den Richter, in: Ulrich Dausendschön-Gay (Hg.), Wissen in (Inter-)Aktion, 2010, S. 225-247; Peter Stegmaier, Wissen, was Recht ist, 2009; Birte Hellmig, Recht als Verantwortungsinstanz, in: Michelle Cottier u. a. (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010, S. 391-407.) Im Ergebnis laufen diese Untersuchungen auf eine Rechtfertigung der richterlichen Praxis hinaus. Für eine Kritik der juristischen Methodenlehre liefern sie kein Material. |
↑13 | Karl Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, Heidelberg 1943, 15. |
↑14 | Tagungskonzept S. 4 unter f). |
↑15 | Vgl. auch Helmut Rüssmann, Allgemeine Beweislehre und Denkgesetze, RuP 1982, 62; ders., Das Theorem von Bayes und die Theorie des Indizienbeweises, ZZP 103 (1990), 62; ders., Zur Mathematik des Zeugenbeweises, FS Nagel, 1987, 329; ders., Indizien, Kausalität und Wahrscheinlichkeit, in: Gerhard Pasternack (Hrsg.), Erklären, Verstehen, Begründen, 1985, 139 [alle Arbeiten von Rüssmann wiederabgedruckt in: Robert Alexy u. a. (Hg.), Elemente einer juristischen Begründungslehre, 2003]. |
↑16 | Rolf Bender/Armin Röder/Wolf-Dieter Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 3. Aufl. 2007. |
↑17 | Und es werden immer neue Wünsche angemeldet, so in NJW-aktuell 8/2012 S. 12 die Forderung nach speziellen psychologischen Kenntnissen für Anwälte in familiengerichtlichen Verfahren. |
↑18 | Dazu kürzlich Benjamin Kertai, Das Bild im Strafverfahren. Strafprozessuale Probleme bei der Visualisierung, Multimedia und Recht 2011, 716-720. |
↑19 | Wie sehr das Gebiet vernachlässigt wird, zeigt die 70. Auflage des ZPO-Kommentars von Baumbach-Lauterbach von 2012, die das wichtige Werk von Bender/Röder/Treuer, das 2007 in 3. Auflage erschienen ist, noch mit der 2. Auflage von 1995 anführt (Einführung vor § 284). In der Übersicht vor § 373 wird die neuere Auflage genannt. Dort wird auch auf Arntzen/ Michaelis-Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, 5. Aufl., 2011 hingewiesen, nicht jedoch auf Arntzen/ Ebbinghaus-Pitzer, Vernehmungspsychologie, 3. Aufl., 2008. Inhaltlich wird solche Literatur nicht integriert. |
↑20 | Aus wissenschaftstheoretischer Sicht wird die Sachverhaltsfeststellung von Arne Upmeier, Fakten im Recht, 2010, analysiert. Die Untersuchung bestätigt, was im Grund bekannt ist, dass wir nämlich auch bei der Faktenermittlung auf eine Referenzbeziehung zwischen Sprache und realer Welt verzichten müssen mit der Folge, »dass beim Gang von einem zeitlich-räumlichen Geschehen zu dessen Formulierung im Tatbestand des Urteils auf jeder Übertragungsstufe kreativ-konstruktionale Elemente eine wesentliche und nicht eliminierbare Rolle spielen« (S. 136). Methodische Anleitungen ergeben sich daraus aber nicht. |
↑21 | Es gibt z. B. Literatur zum Sachverständigenbeweis im Bauprozess, im Verkehrsrecht, im Medizinhaftungsprozess usw. Aber ein kompaktes Handbuch wie das »Reference Manual on Scientific Evidence« des Federal Judicial Center finde ich hier nicht. |
↑22 | Im Konzeptionspapier heißt es dazu: »Ferner bedarf es einer breiter angelegten ›Instrumentenlehre‹, die das verfügbare Arsenal rechtlicher Regelungsinstrumente systematisch sichtet auch unter Berücksichtigung von Voraussetzungen, Erscheinungsformen, Reichweite und Leistungsgrenzen der einzelnen Instrumente. Sie ist zu ergänzen durch eine ›Institutionenlehre‹, die die Bildung organisatorischer Einheiten für bestimmte Zwecksetzungen, mögliche Erscheinungsformen, Kompetenzausstattung, Leistungsgrenzen und Einordnung neben anderen Institutionen behandelt. Darüber hinaus erscheint eine methodisch angeleitete ›Verfahrenslehre‹ notwendig, die die Anforderungen unterschiedlicher Verfahren vergleichend sichtet, ihre Durchführung begleitet und ihre Leistungsgrenzen kalkulierbar macht.« |