Naturschutz für den Menschen?

Naturschutz auch für den Menschen? Bio-Sex? Bio-Ehe? Bio-Kinder? Da wird die Sache heikel. Wer wäre »der Mensch«, der geschützt werden sollte? Die Frage nach der Natur des Menschen wird schnell zu einem normativen Unternehmen. Der Gedanke drängt sich auf, dass man sich seiner »Natur«, seinem »Wesen« entsprechend »menschlich« verhalten müsse. Wesensbestimmungen der menschlichen Natur haben zu unmenschlichen Konsequenzen geführt. Viele halten deshalb eine deskriptive Bestimmung der Natur des Menschen von vornherein für ausgeschlossen. Wer jedoch grundsätzlich die Unterscheidung von Sein und Sollen akzeptiert, wiewohl sie praktisch immer gefährdet ist, der wird auch Versuche einer wertfreien Bestimmung der »Natur« des Menschen nicht von vornherein abweisen.

Die Philosophie unterscheidet seit Aristoteles zwischen der ersten und der zweiten Natur. Die erste Natur ist die körperlich biologische. Die zweite Natur ist die kulturelle Ausformung der ersten. Die Begriffsbildung ist zwar philosophisch schwer beladen. Dennoch ist sie geeignet, um das Denken aus der konstruktivistischen Umklammerung zu befreien, das heißt, um den Menschen als soziales Wesen zu begreifen, ohne ihn vollkommen zu entnaturalisieren.[1]

Für die Bestimmung der Natur des Menschen steht mit der Anthropologie eine ganze Disziplin mit Ausprägungen als naturwissenschaftliche, philosophische und Sozialanthropologie bereit. Anthropologie ist in der kulturalistisch orientierten Sozialwissenschaft herzlich unbeliebt, weil sie im Verdacht steht, nach dem Einfluss genetischer Faktoren auf Kognitionen und Emotionen, auf Intelligenz und sexuelle Identität zu fragen. Für diese Abneigung kann man sich anscheinend auf den großen Kant berufen. Der hatte erklärt:

»[E]ine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet … werden.« (Metaphysik der Sitten, Einleitung II. a. E.)

Aber der Anschein trügt. Kants Ethik bleibt formal, das heißt, letztlich ohne Inhalt. Eine materiale Ethik muss die Kantischen Prinzipien verletzen. Sie muss Aussagen über die Welt aufnehmen, die a priori nicht zu haben sind. Für die Unterscheidung von Natur und Kultur ist Anthropologie jedoch wenig hilfreich.

Handfestere Aussagen findet man in Biologie, Psychologie und Medizin. Auch zwischen diesen Disziplinen und der Kultur gibt es unscharfe Grenzen, verändert doch Kultur auch körperliche Vorgänge, die lange als unveränderlich galten. Aber das ist nicht eigentlich das Problem. Biologen, Mediziner und Psychologen greifen ohne Schwierigkeiten auf die erste Natur des Menschen zurück, die ihnen mindestens als relative Unverfügbarkeit begegnet, und zwar relativ in mehrfacher Hinsicht, nämlich erstens zeitlich, zweitens statistisch und drittens durch die Wahl der Grundgesamtheit. Das zeigt sich gut am Beispiel der Zweigeschlechtlichkeit, das seit Jahrzehnten die Diskussion bestimmt. Zweigeschlechtlichkeit ist insofern relativ, als sie nicht bei allen Lebewesen, sondern durchgehend nur bei Säugetieren und beim Menschen anzutreffen ist. Zweigeschlechtlichkeit ist statistisch relativ, weil sie nicht bei allen Exemplaren, die zu einer grundsätzlich zweigeschlechtlichen Gattung gehören, ausgeprägt ist. Und sie ist zeitlich relativ, weil sie sich erst im Laufe der Evolution entwickelt hat und weil man sich vorstellen kann, dass sie im Zuge der Evolution auch wieder verloren geht. Aber in diesem relativen Rahmen ist Zweigeschlechtlichkeit eben doch unverfügbar. Dieser Rahmen erscheint uns als Normalität. Was aus der Normalität fällt, ist deshalb nicht unnatürlich. Das Anormale ist Teil der Natur. Das wertend normative Urteil ist damit offen, wiewohl es unreflektiert von der normativen Kraft des Faktischen getrieben wird.

Was folgt daraus? In unserem Kulturkreis wird keiner, den wir ernst nehmen, widersprechen, wenn wir sagen, aus der »Natur der Sache« folge, dass Homosexualität nicht unmoralisch und schon garkeine Straftat sein kann, weil sie zur Natur gehört. Naturalia non sunt turpia. Die Einmütigkeit endet aber schon, wenn jemand erklärt, aus der »Natur der Sache« ergebe sich, dass Homosexualität als Behinderung im Sinne von § 2 SGB IX anzusehen sei, weil für Homosexuelle die Mehrzahl der Menschen als Geschlechtspartner ausscheidet und weil sie ohne Unterstützung Dritter keine Kinder bekommen können. Man wird sogleich entgegenhalten, damit werde ein natürlicher Zustand pathologisiert und in das binäre Geschlechterschema eingepasst. Zum Glück ist die Frage, ob Homosexualität als Behinderung subsumierbar ist, gegenstandslos, weil es keine Hilfemöglichkeiten oder gar Therapien gibt. Sie gegenstandslos aber auch deshalb, weil man aus § 9 SGB VIII Nr. 4 im Umkehrschluss folgern muss, dass die in Nr. 3 genannten nichtbinären Geschlechtlichkeiten nicht als Behinderungen anzusehen sind. Immerhin spricht das Natürlichkeitsargument für eine Privilegierung der traditionellen heterosexuellen Ehe. Doch insoweit ist der Zug längst abgefahren. Es bleibt nur noch Denkmalschutz.

Entscheidungsbedarf gibt es aber schon, wenn man fragt, ob Transsexualität und Intersexualität als Behinderung im Rechtssinne einzuordnen sind, denn hier ist medizinische Hilfe möglich, und sie wird auch gewünscht. Das ändert nichts daran, dass der Zustand ebenso natürlich ist wie ein Klumpfuss oder eine Hasenscharte. Die Situation der Betroffenen ist so individuell, dass Dritte sich schwerlich hineinversetzen können. Oft braucht es einen längeren Entwicklungsprozess, bis die geschlechtliche Identität subjektiv klar ist. Diesen Menschen darf man die sexuelle Selbstbestimmung, die eigentlich gar keine ist, nicht verwehren. Als Argument zulässig bleibt jedoch die Behauptung, die Natur spreche dagegen, fluide Geschlechtlichkeit schlechthin für wünschenswert zu halten. Dieses Argument wendet sich die Forderung nach einem Menschenrecht auf geschlechtliche Selbstbestimmung als Jedermann-Recht. Hier wird das Dilemma der Differenz relevant. Man muss sich entscheiden, was schwerer wiegt, die Vermutung, dass ein unbeschränktes Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung eine gefährliche Jugendmode befördern könnte oder die Aussicht, dass die wirklich Betroffenen entwürdigende Prüfungen über sich ergehen lassen müssen.

Auch bei trivialeren Problemen sind Natürlichkeitsargumente einschlägig, so etwa bei Bekleidungsvorschriften im Schwimmbad. In Berlin war eine Frau mit ihrer Antidiskriminierungsbeschwerde erfolgreich, die beanspruchte, sich im Schwimmbad ebenso mit bloßem Oberkörper aufzuhalten wie Männer. Gleichberechtigung ist hier der falsche Ansatz. Das Natürlichkeitsargument spricht gegen die Heranziehung des Gleichheitssatzes, denn der Oberkörper einer Frau ist »natürlich« anders als der eines Mannes. Viel eher kommt eine unzulässige Freiheitsbeschränkung in Betracht. Da wäre dann abzuwägen, was schwerer wiegt, Bekleidungs-Freiheit oder die Befürchtung vor einer Sexualisierung öffentlicher Plätze. Befürworter des Brustfrei-Schwimmens erhoffen sich im Gegenteil eine Entsexualisierung der weiblichen Brust. Dagegen ließe sich wiederum als Natürlichkeitsargument vorbringen, dass die sexuell stimulierende Wirkung sekundärer Geschlechtsmerkmale biologisch verankert sein könnte. Allein darüber könnte man dann wieder lange streiten. Während dessen käme auf einer anderen Ebene die Diskussion auf, ob aus der Erlaubnis des Brustfrei-Schwimmens nicht alsbald ein sozialer Zwang zum Frei-Schwimmen werden könnte mit der Folge, dass sich die Liste der diskriminierenden Praktiken analog zum fat shaming um ein tit-shaming verlängerte. Man sieht, es gibt keine zwingenden Argumente pro oder contra. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nur, dass Natürlichkeitsargumente nicht a limine unzulässig sind.

Natürlichkeitsargumente stützen einen Differenzfeminismus. Es gibt natürliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Daraus folgt aber nicht, dass man dem einen oder dem anderen Geschlecht irgendwelche gesellschaftlichen Positionen verwehren dürfte. Das Natürlichkeitsargument zieht jedoch gegenüber der Forderung, dass alle Geschlechter in allen gesellschaftlichen Positionen gleichmäßig repräsentiert sein müssten.

Streiten muss man über die Frage, ob auch erworbene, aber kontingente Verhaltensmuster des Menschen als natürlich gelten und damit als Basis für Natürlichkeitsargumente gelten können. Der Streit beginnt schon bei der Frage, ob es solche Muster überhaupt gibt, ob sie genetisch oder jedenfalls epigenetisch verankert sind oder ob es sich um sozialevolutionäre Errungenschaften bzw. Überbleibsel handelt. Ich habe mich auf die Sozialanthropologie Hellmuth Mayers bezogen. Mayer hatte die Vorstellung biologisch angelegter Verhaltensweisen zurückgewiesen, aber ein beträchtliches Erbe an Verhaltensmustern aus der Kleingruppenphase der Menschheitsgeschichte behauptet. Zwei Verhaltensmuser stehen immer noch und immer wieder zur Debatte: Männer zeigen ein stärkeres Wettbewerbsverhalten. Frauen haben eine größere Affinität zur Sorge für andere Menschen. Selbst wenn das zuträfe, folgte daraus kein Argument für ethische, politische oder juristische Normen. Der Gleichheitssatz ist stärker.


[1] Philip Hogh/Julia König, Bestimmte Unbestimmbarkeit. Über die zweite Natur in der ersten und die erste Natur in der zweiten, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59, 2011, 419–438, S. 421.

Ähnliche Themen

Natur und Kultur: Natur als komparativer Begriff

Der Appell an die Natur weckt die stärksten moralischen Intuitionen. »Die Natur schreit uns an«, so der Philosoph Markus Gabriel im Interview mit Blick auf Corona-Pandemie und Klimawandel. Alle wollen es »grün« und »bio«. Es ist »natürlich« vollkommen richtig, dass sich aus der Natur unmittelbar keine ethischen oder juristischen Normen ableiten lassen. Natürlichkeit ist nur ein Argument unter vielen anderen. Das Problem mit diesem Argument ist, dass mächtige Diskurse es in Verruf gebracht haben. Während Natürlichkeit in der Alltagsmoral einen hohen Stellenwert besitzt, wird das Argument von der akademischen Ethik eher verachtet. Zwei spezifischere Diskurse haben das Natürlichkeitsargument besonders ins Abseits gestellt. Da war zuerst die antireligiöse Aufklärung mit ihrem Kampf gegen eine Kosmologie, die die Berufung auf Natürlichkeit einer Aufladung durch gottgewollte Normativität verdächtigte. Später kam der gendertheoretische Diskurs, für den sich hinter Natürlichkeitsargumenten soziale Zwänge verbergen.

Natürlichkeitsargumente im engeren Sinne sind solche, welche die Natur im Sinne von physikalischen und biologischen Vorgegebenheiten zur Begründung politischer, rechtlicher oder moralischer Forderungen anführen. Sie begegnen damit allen Einwänden, die mit Wesensargumenten verbunden sind, insbesondere »natürlich« dem Einwand, sie beruhten auf einem naturalistischen Fehlschluss. Dieser Einwand ist allerdings unbegründet, wenn das Argument nicht als zwingende Ableitung vorgetragen wird, sondern lediglich fordert, bei der Abwägung auch einen (näher bezeichneten) Gesichtspunkt der Natürlichkeit einzustellen. Natürlichkeitsargumente bringen aber ein anderes Problem mit sich, das schwerer auszuräumen ist, nämlich die Unterscheidung von Natur und Kultur.

Wenn der (evangelische) Theologe Thomas Kaufmann in einem Artikel über »Den radikalen Umbruch der Reformation« (FAZ vom 25. 10. 2021) am Ende formuliert:

»Ja – der Pflichtzölibat ist eine Konsequenz des priesterlichen Jungfräulichkeitsideals; der massenhafte Kindesmissbrauch ist auch eine Folge dieser rigiden, der menschlichen Natur widerstreitenden Norm.«

gibt es vermutlich Beifall. Wer dagegen unter Berufung auf die Natur die heterosexuelle Ehe und die aus Vater, Mutter und Kindern bestehende Familie verteidigt, stellt sich ins diskursive Abseits. Aus Sicht der Gender Studies wird ein »diskursiver Klassenkampf« geführt (Sabine Hark, Dissidente Partizipation, 2005, S. 34), in dem jede Berufung auf Natur und Biologie als frauenfeindlich und homophob gilt. Die Begründung lautet, dass Natur als solche nicht erkennbar sei: Alles ist Kultur. Das unausgesprochene Motiv für diese Ablehnung liegt »natürlich« darin, dass es eben doch natürliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt und dass sich die natürliche Normalität der Zweigeschlechtlichkeit schwerlich leugnen lässt mit der Folge, dass dadurch unerwünschte normative Konsequenzen nahegelegt werden.

Die Ansicht, dass man sich nicht auf Natürlichkeit berufen dürfe, weil zwischen Natur und Kultur nicht zu unterscheiden sei, ist in der Akademie heute »h.M.«[1]. Ich halte dagegen. Die Unterscheidung ist schwierig, deshalb aber nicht unmöglich. Daher sind Natürlichkeitsargumente nicht von vornherein ausgeschlossen.

Kultur als Gegenbegriff zu Natur versteht sich im weitesten Sinne unter Einschluss aller Technik. Das Antonym natürlich/künstlich bringt das Werden aller Erscheinungen, für die Natur in Anspruch genommen wird, die Prozesshaftigkeit ihrer Entstehung, zum Ausdruck. Die Grenzen der diskurs-extern vorgegebenen Natur ändern sich laufend. Schon die Saat, die der Landmann in die mit einem Grabstock gezogene Furche legt, wächst nunmehr künstlich. Heute wird selbst das Wetter als änderbar gedacht. Nachdem klar ist, dass auch der Klimawandel menschengemacht ist, bleibt anscheinend nur noch die Sonne als reine Natur. Doch so weit müssen die Gdanken nicht ausholen. Wenn Teile der Türkei und Syriens von einem Erdbeben verwüstet werden, handelt es sich um nackte Naturgewalt, und es wäre lächerlich, dieses Ereignis als kulturelle Konstruktion begreifen zu wollen.

Die Unterscheidung von Natur und Kultur bleibt schwierig, ist aber nicht hoffnungslos. Laien wissen in der Regel recht gut, was natürlich ist. Sie reden von natürlicher Geburt oder Naturheilkunde und wünschen naturbelassene Nahrungsmittel. Zwar ist auch »Bio« heute künstlich. Aber wenn es Alternativen gibt, lässt sich doch meistens zwischen mehr oder weniger natürlich unterscheiden. Und so unterscheiden nicht nur Laien, sondern auch Politik und Recht. Naturschutz wäre eine Illusion, wenn Politik und Recht keine Vorstellung hätten, was es zu schützen gilt und wie das geschehen könnte.

Kommentare zu § 1 BNSchG definieren Natur als »nicht vom Menschen geschaffene, belebte und unbelebte Welt und die in ihr lebenden Lebewesen«. Im Anthropozän ist von einer nicht vom Menschen in irgendeiner Weise mitgestalteten Welt wenig übrig. Aus der Natur ist ein Prozess geworden, an dem Menschen mehr oder weniger beteiligt sind. Naturschutz bedeutet deshalb, die menschliche Beteiligung am Entwicklungsprozess zurückzunehmen. Als »natürlich« gilt in erster Linie der Verzicht auf einen Eingriff in den Ablauf der Dinge, auch wenn der Ausgangszustand längst nicht mehr natürlich ist. Manche Wälder, die unter Naturschutz gestellt werden, sind von Menschen angelegt worden. Landschaftsbau und Wasserwirtschaft betreiben in großem Umfang Renaturierung. Ehemalige Industrieflächen werden »der natürlichen Entwicklung überlassen«, um sich zu regenerieren (§ 1 III Nr. 2 BNSchG). Freilich genügt es nicht immer, die Natur gewähren zu lassen. Sonst kommt es zu so »unnatürlichen« Zuständen wie der explosionsartigen Vermehrung von Wildgänsen und Kormoranen. Natur wird damit zu einem komparativen Begriff gegenüber Technik und Kultur. Es geht um mehr oder weniger Natur. Aus »natürlich« wird »naturnah«. Der Umgang mit solchen Begriffen ist der Jurisprudenz vertraut. Die Natur ist kein ontologisches Nullum, aber sie ist auch »keine vom Normanwender bloß hinzunehmende, fixe Gegebenheit, sondern eine normative Zielvorstellung, die durch weitere, ihrerseits mit normativem Gehalt zu vesehende Unterkriterien – etwa Biodiversität – weiter spezifiziert und damit operationalisiert werden kann«[2]. Naturschutz, Umweltschutz und Klimaschutz scheitern jedenfalls nicht an einem ungeklärten Naturbegriff. Im Klimabeschluss (E 157, 30ff) tanzt auch das Bundesverfassungsgericht zur Melodie von Art. 20a GG den »Natural Turn«.


[1]Dieter Birnbacher, Natürlichkeit, 2006;  Alan Levinovitz, Natural: How Faith in Nature‘s Goodness Leads to Harmful Fads, Unjust Laws, and Flawed Science, 2020; Frauke Rostalski, Das Natürlichkeitsargument bei biotechnologischen Maßnahmen, 2017.

[2]  Ino Augsberg, Natur als Norm, in: Annette Meyer/Stephan Schleissing (Hg.), Projektion Natur, 2014, 164-178, S. 177.

Ähnliche Themen

Von der Soziologie der Waschmaschine zur Natur der Sache

Der vorhergehende Eintrag endete mit der Feststellung, der material turn bleibe eine Antwort, wie man aus dem Materiellen  – und damit aus der »Natur der Sache« – normative Konsequenzen ableiten kann, schuldig. Immerhin gibt es ein Sachgebiet, auf dem der material turn hilfreich zu sein scheint, nämlich auf dem Gebiet der Technik im weitesten Sinne. Da hätte es freilich einer »Wende« kaum bedurft, denn es gab und gibt schon längst eine gehaltvolle Techniksoziologie. Ein Beispiel wäre das immer noch lesenswerte Buch von Ingo Braun über die Soziologie der Waschmaschine.[1]

Der Umgang mit menschlichen Keimzellen ist durch das Embryonenschutzgesetz (ESchG) von 1990 streng reguliert. Neue Techniken der Reproduktionsmedizin rufen nach Änderungen. 2010 zog der BGH die strengen Grenzen des ESchG für Manipulationen an menschlichen Eizellen etwas weiter, als er einen Frauenarzt von der Anklage der missbräuchlichen Verwendung menschlicher Embryonen freisprach, der befruchtete Eizellen auf Genanomalien untersucht hatte, um sie ggfs. zu verwerfen.[2] Zehn Jahre später gewährte das BVerwG genetisch vorbelasteten Eltern einen Anspruch auf Präimplantationsdignostik (PID).[3]

Exemplarisch ist die Eigendynamik neuer Techniken und die Problematik ihrer Regulierung an den relativ neuen und stetig verbesserten Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin zu beobachten. Von den Optionen, die diese Technik bietet, wird in großem Umfang Gebrauch gemacht. Von 1997 bis 2018 wurden in Deutschland 319.119 Kinder nach künstlicher Befruchtung geboren. Seit 2015 liegt die Zahl jährlich über 20.000 oder etwa 2,7 % aller Geburten (Daten im Jahrbuch des Deutschen IVF-Registers, zuletzt 2021).

Vor der Inanspruchnahme neuer Technikoptionen liegt oft eine gewisse soziale Normierung. Am Beispiel der vorsorglichen Eizellkonservierung (social freezing): Es gibt keine soziale Norm, nach der man Kinder haben soll und dafür erforderlichenfalls auch medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen hat. Aber es gibt soziale Muster für das, was als gelungener Lebenslauf gilt, und daran orientiert man sich mehr oder weniger souverän. Kritische Beobachter sprechen von neoliberalen Diskursen, die wie eine Aufforderung wirken, von den Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin Gebrauch zu machen.[4]

Was Soziologie dazu beitragen kann, um zunächst die Entscheidungen des Gesetzgebers und dann auch die Rechtsanwendung zu informieren, hat van den Daele dargestellt. Vorab muss das Recht zur Kenntnis nehmen, dass »die Entstehung von (Technik-)Optionen nicht beherrschbar« ist.

 »Möglichkeiten, die irgendwo entstehen, sind im Prinzip überall verfügbar. Techniken sind der Form nach Wissen. Wissen aber ist übertragbar und stets allgemeiner als jeder Zweck, für den es geplant wird. Auch eine noch so gezielte Technikentwicklung erzeugt daher unvermeidlich einen unkontrollierbaren Überschuss weiterer Möglichkeiten.«[5]

Sodann greifen die Freiheitsrechte, im Fall der Biotechnik allen voran das Recht auf Gesundheit. Die Optionen entfalten eine Eigendynamik, indem Rechtsansprüche geltend gemacht werden »in demselben Maße, wie das faktische Können wächst«.

»Die technischen Optionen der modernen Biotechniken fallen automatisch in den Legitimationskreis des Rechts auf Gesundheit und des Rechts auf Selbstbestimmung. Das macht sie rechtlich und politisch praktisch unverfügbar. Die technische Entwicklung der Medizin löst ambivalente Reaktionen aus. Erkaufen wir das Versprechen, Krankheit und Tod abzuwenden, nicht mit einer immer bedrohlicheren totalen Manipulierbarkeit des Menschen? Diese Frage wurde schon oft gestellt und immer wieder in derselben Richtung beantwortet: Neue Techniken wurden schließlich akzeptiert und in das professionelle Repertoire der Medizin aufgenommen. Das gilt für die Reanimationstechniken, die Organtransplantationen, künstliche Organe und die Neurochirurgie. Es wird auch für die Keimbahntherapie und (vermutlich auch) für embryonale Transplantate gelten, falls sie je möglich und medizinisch sinnvoll sind.«[6]

30 Jahre später hat sich diese Prognose hinsichtlich des Embryonentransfers realisiert, und auch die PID lässt sich rechtlich nicht mehr abwehren, wenn sich die Betroffenen auf Gesundheitsvorsorge berufen.

Setzen sich also Technikoptionen »in the long run immer durch«?[7] Blickt man nur auf die Medizin, spricht vieles dafür. Andere Techniken werden dagegen relativ wirkungsvoll reguliert. Zu den Rechtstechniken der Regulierung gehört die Einräumung subjektiver Rechte zur Abwehr von Gefahren und unerwünschten Folgen des Technikgebrauchs.

»Subjektive Rechte auf Leben, Gesundheit und Selbstbestimmung werden als Positionen des Widerstands gegen die Überwältigung durch Techniken in Anspruch genommen.« Aber: »paradoxerweise kann man nicht Sicherheit und Selbstbestimmung gegen neue Techniken ins Feld führen, ohne damit zugleich die Werthaltungen zu fördern, die auch das Plädoyer für die Techniken tragen. Subjektive Rechte gegenüber technischen Optionen wirken asymmetrisch: Sie implizieren im Detail Restriktionen der Technik, im ganzen schieben sie deren Entwicklung eher weiter an.«[8]

Darauf bezieht sich Karavas und fügt noch eine systemtheoretische Begründung hinzu. Das Wollen habe sich als Kommunikationsmedium verselbständigt. »Für den liberal-demokratischen Rechtsstaat, der auf der Idee der subjektiven Rechte beruht, bedeutet das aber, dass er das Wollen nicht unterbinden kann, ohne sich selbst in Frage zu stellen.«[9] Das klingt klug, ist aber nur sophistisch. Das ganze Strafrecht ist eine Veranstaltung, um »Wollen zu unterbinden«. Das Problem stellt sich vielmehr mit der Frage, ob Ziel der Regulierung die Verteidigung der natürlichen Ordnung sein kann.


[1] Ingo Braun, Stoff, Wechsel, Technik. Zur Soziologie und Ökologie der Waschmaschinen, 1988.

[2]  U. v. 06.07.2010, 5 StR 386/09.

[3]  U. v. 5.11.2020 – 3 C 12.19.

[4] Vagias Karavas, Ermächtigung durch Technik? Zum Umgang mit Technikoptionen im liberal-demokratischen Rechtsstaat am Beispiel der Eizellkonservierung, Ancilla Iuris, 2019, 102-120.

[5] Van den Daele, Freiheiten gegenüber Technikoptionen: Zur Abwehr und Begründung neuer Techniken durch subjektive Rechte, KritiV 74, 1991, 257-278, S. 276.

[6]  Van den Daele S. 277.

[7] Karavas, Ermächtigung durch Technik? Zum Umgang mit Technikoptionen im liberal-demokratischen Rechtsstaat am Beispiel der Eizellkonservierung, Ancilla Iuris, 2019, 102-120.

[8] Van den Daele S. 258.

[9]  Van den Daele S. 278; Karavas S. 119.

Ähnliche Themen

Der Material Turn verspricht mehr als er hält

»Wirklichkeit« als Begriff und Phänomen hat in den heutigen Sozial- und Kulturwissenschaften einen eher schweren Stand. Wohl auch aus Angst, eines naiven Wirklichkeitsverständnisses überfuhrt zu werden, pluralisiert man Wirklichkeit zu beobachterabhängigen Wirklichkeiten, man verflüssigt sie in kulturellen Konstruktionen, oder man löst sie gleich ganz in einem Kosmos referenzloser Simulakren auf, bis man dann in einer Art überschießender Umkehr die Materialität der Dinge unter nicht minder umständlichen Vorkehrungen wieder zum Vorschein bringen möchte.«[1]

Bis ins 20. Jahrhundert hinein standen sich Kultur und Materie weitgehend unvermittelt gegenüber. Kultur wurde als geistiges Phänomen betrachtet, für das materielle Objekte allenfalls als Aufzeichnungs- und Transportmittel dienten. Nur in der Kunst war die Verbindung enger. Spätestens die Medientheorie zeigte dann aber unübersehbar, dass das Material und seine äußere Form sich von dem Inhalt nicht vollständig trennen lassen. »The medium is the message.« Seit den 1980er Jahren gibt es ein verstärktes Interesse an stofflichen Objekten, an Dingen und Artefakten aus Natur, Technik und Kultur, das als material turn[2] geläufig ist.[3] Entsteht daraus eine neue Formel für die Natur der Sache?

Die Phänomenologie entdeckt den Körper (und qua embodiment den Menschen als Artefakt). Überall entdeckt man die Medialität des Sozialen. Cornelia Vismann entdeckt die Akten in Gericht und Verwaltung, der französische Soziologie Bruno Latour Treppenhäuser und Büroklammern im Conseil d‘Etat. Latour verkündet eine Akteur-Netzwerk-Theorie, die Menschen und Gegenstände zu einer hybriden Einheit zusammenfasst (und gleich ihr Akronym ANT mitliefert).[4] Die Dinge beginnen zu vibrieren oder zu performen. Sie zeigen Eigenlogik und Handlungsmacht. Die neue Sichtweise mündet etwa in der Frage, ob Flüssen, Tieren oder Automaten Rechtspersönlichkeit zukommt.

Latour erklärt den Unterschied zwischen der herkömmlichen Sichtweise (»soziologische Version«) und seiner eigenen Theorie (»materialistische Version«) am Beispiel einer Schusswaffe. Nach der soziologischen Version gilt: »Menschen töten Menschen, nicht Schusswaffen«, und Latour erläutert:

»Die Schusswaffe ist ein Werkzeug, ein Medium, ein neutraler Träger eines Willens. Wenn der Waffenbesitzer ein guter Mann ist, wird die Schusswaffe weise eingesetzt und nur gerecht töten. Wenn er jedoch ein Verbrecher oder Verrückter ist, dann wird ohne eine Veränderung in der Waffe selbst ein ohnehin ausgeführter Mord (einfach) effizienter ausgeführt. … die soziologische Version [macht] die Waffe zu einem neutralen Willensträger, der der Handlung nichts hinzufügt, der die Rolle eines elektrischen Leiters spielt, durch den Gutes und Böses mühelos Fließen.«

Die »materialistische Version« sagt dagegen: »Schusswaffen töten Leute«, und wiederum erläutert Latour:

»Ein unschuldiger Bürger wird ein Krimineller kraft der Waffe in seiner Hand. Die Waffe befähigt natürlich, aber sie instruiert auch, lenkt, zieht sogar am Abzug – und wer hätte nicht, mit einem Messer in der Hand, zu einer gewissen Zeit jemanden oder etwas erstechen wollen? Jedes Artefakt hat sein Skript, seinen Aufforderungscharakter, sein Potenzial, Vorbeikommende zu packen und sie dazu zu zwingen, Rollen in seiner Erzählung zu spielen.«[5]

Das hatte die klassische Phänomenologie schon besser im Griff, in dem sie den Aufforderungscharakter von Situationen unter Einschluss iher Dingwelt beschrieb. Nunmehr wird den Objekten selbst agency zugeschrieben, ein schwer übersetzbarer soziologischer Begriff für Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit, der zu neuen Wortschöpfungen führt: Materie wird zum Aktanten, sie ist wirkmächtig, eigensinnig oder gar agentativ. Es werden Studien über Naturjoghurt als Resonanz der industriellen Landwirtschaft[6] oder Biografien von Kunststofftüten verfasst, die im Feuilleton einen Ehrenplatz fänden.

Wenn man sich dem Recht zuwendet, geht es darum, wie belebte und unbelebte Körper, Akten, Gerichtsäle, Gebäude, Roben, Büroklammern und Stempel, im Konzert des Rechts mitspielen. Keine Frage, dass man Richter als Frauen oder Männer ansehen kann, die Roben und Unterwäsche tragen, die in Gerichtsgebäuden auf Bürostühlen vor Desktops oder Laptops sitzen, die Dateien und Akten produzieren und Toiletten benutzen. Keine Frage, dass Nichtjuristen beim Paragraphenzeichen oder im Kriminalmuseum Rothenburg an Recht denken. Keine Frage, dass Historiker aus Artefakten Rechtsgeschichte rekonstruieren können. Keine Frage, dass Material und Materialisierungen des Rechts auch ästhetisches Interesse wecken. [7] Doch die »Natur der Sache«, die für die juristische Argumentation von Interesse ist, findet sich hier nicht.

Für die Beziehungen zwischen der materiellen und der sozialen Welt wird eine Fülle von Umschreibungen angeboten: Der Mensch als Teil eines sozio-materiellen Arrangements; Zusammenspiel von sozialem und materialem Raum, von biologischen und psychischen Phänomenen mit sozialem Handeln; Mitwirkung des Materiellen in sozialen Praktiken; Eigengesetzlichkeit von Materialität, soziale Vorgängigkeit der Objekte;  Widerständigkeit von Dingen und von Körpern; usw. usw. Daran schließen sich Forderungen wie die, die Blindheit für die materiale Dimension des Sozialen zu überwinden, hegemoniale Konzeptionen des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft zu irritieren, Sozialität und Materialität zu resymmetrieren; materialitätssensibel zu verfahren; Körper, Dinge, Objekte und sogar Materie selbst als prozesshaft und relational zu verstehen, Materie in ihrer Unverfügbarkeit als immer schon grundlegend medial zu erfassen, die interaktive Verschränkung von Sozialem und Materie in den Blick zu nehmen, Akteure als leiblich zu begreifen, sie in ihrer Leiblichkeit ernst zu nehmen; die Relevanz von Materialität und Leiblichkeit für die soziologische Analyse anzuerkennen; die Technik und Medien weder als distinktive Bereiche der sozialen Wirklichkeit zu verhandeln noch diese essentiell in eins zu setzen, usw. Das alles soll zu einer radikalen Neuverhandlung der Frage der Materialität führen mit dem Ergebnis einer Neurahmung von Dinghaftigkeit als Relationalität und Materie als Materialisierung, die in relationalen Konzepten von Körper, Natur und Materie; in pluralen und offenen Ontologien oder postessentialistische Theorien des Materiellen mündet. Eine konsolidierte Theorie ist nicht in Sicht.

Als Neuer Materialismus ist der material turn ein feministisches Unternehmen geworden.[8] Es wendet sich, anders als der Neorealismus, nicht grundsätzlich gegen den kulturalistischen Konstruktivismus, sondern reagiert auf ein selbstgeschaffenes Problem der Queer-Theorie, die Umdeutung des biologisch-anatomischen Geschlechts zu einer sozialen Konstruktion. Der Neue Materialismus kommt mit einer epistemologischen und mit einer normativen Botschaft. Epistemologisch richtet sich er gegen einen positivistischen Tatsachenbegriff und damit gegen die Dualismen von Subjekt und Objekt, Körper und Geist, Natur und Kultur. Normativ fordert er einen sorgsameren Umgang mit materiellen Objekten, zu denen auch der menschliche Körper zählt.

Der Neue Materialismus widmet sich kaum der Materie an sich, sondern wissensgenerierenden Prozessen und kehrt so zu einem Konstruktivismus der Kontingenz und Unbestimmtheit der Materie zurück. Erneut steht dahinter das Anliegen des queertheoretischen Feminismus, auf epistemologischer Ebene die empirische Differenz der Geschlechter auszuhebeln. Das Startzeichen setzte Donna Haraway. Sie verlangte von einem

»feminist empiricism … simultaneously an account of radical historical contingency for all knowledge claims and knowing subjects, … and a no-nonsense commitment to faithful accounts of a ›real‹ world, one that can be partially shared and that is friendly to earthwide projects of finite freedom, adequate material abundance, modest meaning in suffering, and limited happiness«[9].

Karan Barad entwickelt einen agential realism, der Realität nicht vorfindet, sondern erst aus der Begegnung von Menschen und Dingen entstehen lässt.[10] Barad hatte sich als Physikerin dem Feminismus zugewandt. Da lag es nahe, an den Welle-Teilchen-Dualismus und die damit verbundene Unschärferelation anzuknüpfen. Das berühmte Diktum von Nils Bohr, es gebe keine Realität jenseits der Beobachtung, stützte sich auf das Phänomen, dass subatomare Teilchen nicht unabhängig von ihrer Beobachtung zu lokalisieren sind. Barad schließt daraus, dass Materie und menschliche Erkenntnistätigkeit erst in aktivem Zusammenwirken zum Wissenserwerb führen. Die Analogie zur Teilchenphysik überzeugt nicht. Die Analogiebasis taugt nichts, hängt doch die Lokalisierbarkeit subatomarer Teilchen keineswegs von menschlicher Beobachtung ab, sondern von der Nachbarschaft anderer Teilchen. Albert Einstein soll Bohr gefragt haben: Glaubst Du wirklich, dass der Mond nicht da ist, wenn niemand hinsieht? Die Antwort Bohrs war nicht weniger spitzfindig als die Frage: Beweise mir das Gegenteil! Es kommt nicht darauf an, ob Menschen hinsehen. Entscheidend ist, dass in der Masse des Mondes subatomare Teilchen kein Eigenleben führen und als solche nicht beobachtbar sind. Man kann schwerlich von fehlender Realität sprechen, wenn sich das Verhalten der Teilchen so berechnen und steuern lässt, dass man damit funktionierende Quantencomputer bauen kann.

Plausibel wäre dagegen die Wissenschaftstheorie des Biologen Hans Mohr, welche die Leistungsfähigkeit und Grenzen der menschlichen Denk- und Erkenntnisstrukturen durch die Evolution bestimmt sieht.[11] Damit wären letztlich auch die apriorisch gedachten Kategorien von Zeit, Raum und Kausalität sowie die klassische Logik nur das Ergebnis evolutionär verfestigter Erfahrung. Die Erfahrung ist durch die Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane begrenzt mit der Folge, dass unsere kognitiven Strukturen nur dem Bereich der »mittleren Dimensionen«, dem so genannten Mesokosmos angepasst sind. Insoweit entsprechen sie den Realstrukturen der Welt.

»Die Auflösungskraft unseres Sehvermögens z. B. ist etwa 1/10 mm im Raum und 1/16 s in der Zeit. Der Grund für die Begrenzung unseres sensorischen Systems und damit unserer Anschauungsformen und kognitiven Strukturen ist darin zu suchen, daß die genetische Evolution des Menschen abhing von der Struktur und Auflösungskraft jener Sinnesorgane, die ihrer prinzipiellen Konstruktion nach viel früher in der tierischen Evolution angelegt waren und kaum noch verbessert werden konnten. Demgemäß war die genetische Evolution der Hominiden in den letzten zwei Millionen Jahren in erster Linie eine Evolution des Gehirns, eine Evolution der Datenverarbeitung.«[12]

Die Folge ist, dass unser Vorstellungsvermögen für Mikrokosmos und Makrokosmos nicht ausreicht, wiewohl auch dort die Realstrukturen mehr oder weniger denen des Mesokosmos entsprechen dürften, so dass indirekte Methoden der Beobachtung und die Mathematik nicht versagen. Die Quantenphysik hat jedenfalls die Suche nach einer Realität mit Ursache und Wirkung nicht aufgegeben.[13]

Es sind Menschen, die über das Verhältnis von Materie und Mensch theoretisieren. Sie können nicht aus ihrer Haut, schreiben aber über etwas außerhalb ihrer selbst, bestätigen damit den Dualismus von Subjekt und Objekt, Geist und Materie, den sie doch überwinden wollen. Das ist der performative Widerspruch der Beobachtung. Der Beobachter ist Teil der Welt, die er beobachtet, und hat doch keine Wahl als die Welt wie etwas Fremdes anzusehen, also als Subjekt über Objekte zu denken und zu reden.

Normativ wendet der Neue Materialismus sich gegen den mit den beklagten Dualismen verbundenen Anthropozentrismus und fordert einen sorgsameren Umgang mit Natur und Umwelt. Barad spricht von verantwortungsvoller Objektivität. Solche Forderungen sind gerne akzeptiert. Dazu braucht es keinen Umweg über die Epistemologie. Mit Epistemologie lässt sich keine Ethik begründen. Der Begriff des Anthropozentrismus entwickelt insoweit eine Eigendynamik, weil er einerseits für die epistemologische Position des Repräsentationalismus und andererseits für ein normatives Konzept steht. Beides hängt allenfalls historisch zusammen. Anthropozentrismus als normatives Konzept hat auch keineswegs zwangsläufig eine Geringschätzung von Natur und Umwelt zum Inhalt. Im Gegenteil: Allein der Mensch kann und muss Verantwortung gegenüber Umwelt und Natur übernehmen.

Es ist keine Frage, dass Raum, Zeit und Materialitäten aller Art menschliches Handeln bestimmen. Aber solche Bestimmung findet ihren Weg immer nur über das menschliche Wahrnehmungs- und Handlungsvermögen, oft auf vielen Umwegen, so dass es an aktuellem Bewusstsein fehlen mag. Materie wirkt, aber sie handelt nicht. Sie liefert Dispositive, nicht mehr und nicht weniger. In letzter Instanz bleibt es der Mensch, der handelt.

Eine Antwort, wie man aus dem Materiellen im weitesten Sinne – und damit aus der »Natur der Sache« – normative Konsequenzen ableiten kann, bleibt der material turn schuldig. Nur wenn man ihn oberflächlich beim Namen nimmt, kann man daraus einigen Nutzen ziehen, sei es, dass man öfter ins Museum geht, um die Materialisierungen der Kultur zu bewundern, sei es, dass man sich ermutigt fühlt, um mit der »Natur der Sache« zu argumentieren.


[1] Patrick Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, 2015, Einleitung S. 9.

[2] Dazu allgemein Tony Bennett/Patrick Joyce (Hg.), Material Powers. Cultural Studies, History and the Material Turn, 2010 (Einleitung der Hg. S. 1-19); Peter J. Bräunlein, Material Turn, in: Georg-August-Universität Göttingen (Hg.), Dinge des Wissens 2012, 30-44; Katharina Hoppe/Thomas Lemke, Neue Materialismen zur Einführung, 2021 (Rezension von Martin Küpper, Zeitschrift für philosophische Literatur 9, 2021, 52-57; Martin Küpper, Materialismus, 2017; Hyo Yoon Kang/Sara Kendall, Introduction, Law Text Culture 23, 2019, 1-15; Chandra Mukerji, The Material Turn, in: Robert A. Scott/Stephan M. Kosslyn (Hg.), Emerging Trends in the Social and Behavioral Sciences 2015, S. 1-13. Seit 1996 erscheint bei SAGE ein Journal of Material Culture.

[3] uf der gleichen Ebene liegen temporal turn und spatial turn, die aber selten mit mit dem material turn zusammen gebracht werden.

[4] Bruno Latour, Das Parlament der Dinge: für eine politische Ökologie, 2001 [La fabrique du droit, Une ethnologie du Conseil d‘Etat, 2002], Rezension von Fabian Steinhauer, Der Staat, 56, 2017, 293-304.

[5] Über technische Vermittlung, in: Belliger/Krieger (Hg.), ANThology, 2006, 483-528, S. 485.

[6] Gianna Behrendt, Soziologie der Resonanz Der Naturjoghurt, in: Anna Henkel (Hg.), 10 Minuten Soziologie: Materialität 2018, 29-39.

[7] Hyo Yoon Kang, Law‘s Materiality: Between Concrete Matters and Abstract Forms. How Matter Becomes Material, in: Andreas Philippopoulos-Mihalopoulos (Hg.), Routledge Handbook of Law and Theory, 2019, 453-474, S. 454 u. 458.

[8] Martin Kallmeyer, New Materialism: neue Materialitätskonzepte für die Gender Studies, in: Beate Kortendiek u. a. (Hg.), HB Interdisziplinäre Geschlechterforschung, 2017, 1-10; Nina Lykke, Feministische Postkonstruktionismus, in: Tobias Goll u. a. (Hg.), Critical Matter. Diskussionen eines neuen Materialismus, 2013, S. 36-48.

[9] Donna Haraway, Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, Feminist Studies 14, 1988, 575-599, S. 579.

[10] Karen Barad, Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter, Signs: Journal of Women in Culture and Society 28, 2003, 801-831; dies., Agentieller Realismus, Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken, 4. Aufl. 2020; dazu; Katharina Hoppe/Thomas Lemke, Die Macht der Materie: Grundlagen und Grenzen des agentiellen Realismus von Karen Barad, Soziale Welt 66, 2015, 261-279; Sigrid Schmitz, Karen Barad: Agentieller Realismus als Rahmenwerk für die Science & Technology Studies, in: Diana Lengersdorf/Matthias Wieser (Hg.), Schlüsselwerke der Science & Technology Studies, 2014, 279-291. .

[11] Hans Mohr, Natur und Moral, 1987.

[12] Mohr S. 26f.

[13] Das lässt sich der Nobelpreisrede von Anton Zeilinger entnehmen: https://www.youtube.com/embed/fW4SwcMQYdA.

Ähnliche Themen

Rasse als soziale Züchtung

Es ist heuchlerisch, den Rassenbegriff zu vermeiden, wenn man sich gegen Rassismus wenden will. Ein Workshop im Otto-Suhr-Institut der FU Berlin (von dem ich nur aus einer Pressenotiz erfahren habe) widmet sich am 10. Februar dem Rassenbegriff. Das ist für mich Anlass, noch einmal ausführlich aus der Anthropologie des Strafrechtlers und Kriminologen Hellmuth Mayer zu zitieren, die dieser 1977 unter dem Titel » Die gesellige Natur des Menschen« veröffentlich hatte.

Mayers Rede von der Rassen als »sozialer Züchtung« wird manchen abstoßen, wiewohl sie in der Sache antirassistisch ist.

»Die soziale Veranlagung der recenten Menschheit dürfte im Wesentlichen als gleichartig angesehen werden können. Zwar finden wir bei ethnologischen Beobachtungen sehr große Unterschiede in den Sozialstrukturen und damit auch in den sozialen Verhaltensweisen. Es ist bisher aber nirgends gelungen, diese Unterschiede aus Rassenunterschieden abzuleiten, während sie sich ziemlich mühelos historisch-soziologisch erklären lassen. … Selbst wenn wir gewisse Populationen als rassisch einheitlich bestimmt betrachten, so sind doch die Unterschiede zwischen den Individuen einer Population immer viel größer als die Unterschiede zwischen den rassisch bestimmten Populationen.« (S. 14)

»Die älteren Versuche der Rassenanthropologen, die verschiedenartigen Gestaltungen, wie wir sie in Sozialformen und Sozialverhalten bei Natur- und Niederkulturvölkern vorfinden, aus Rassenunterschieden abzuleiten, überzeugen nicht. Sozialformen wirken ihrerseits züchtend und bringen verschiedenartige Typen von Menschen hervor. Hirtenkrieger (Massai) und Feldbauern (Bantu) sehen heute zweifellos verschieden aus, aber die verschiedenen Typen sind das Züchtungsergebnis verschiedener Lebensweisen.« (S. 71f)

»Der Kulturzustand der rezenten Menschheit ist überaus verschieden. In ihrer Jugendsünden Maienblüte hat die junge Wissenschaft der Genetik im Seitenzweig der Rassenlehre diese Kulturunterschiede rassenpsychologisch erklären wollen. Heute ist Mode, die Möglichkeit von Rassenunterschieden prinzipiell zu leugnen. Naturwissenschaftlich ist dies ebenso töricht, wie der vormalige Hochmut der Europäer, welche historisches Glück mit ihrer angeblich so vorzüglichen Rasse fehlerklärten. Die Menschen sind nun einmal nicht gleich, weil es Gleichheit in der lebendigen Natur nicht geben kann. Aber nüchterne Beobachtungen belehren uns darüber, daß diese problematischen Unterschiede nicht ausreichen, um die wirklich vorhandenen Kulturunterschiede zu erklären, so daß man von einer relativen Gleichheit der Menschen ausgehen kann. Alle Rassen sind auf allen Gebieten lernfähig, die Lernfähigkeit ist allerdings teilweise bedingt durch die von Generation zu Generation gesteigerten Traditionsvorteile.« (S. 90)

»Die Befähigung junger Jurastudenten auf afrikanischen Hochschulen, mit den Denkmitteln der englischen Präjudizienjurisprudenz umzugehen, kann einen deutschen Professor mit Neid erfüllen.« (S. 91)

Ähnliche Themen

Satire, Fake News und Hate Speech

Heute ein Zwischenruf aus meinem Notizbuch. Vor zwei Jahren schon hatte ich einen Eintrag zur Ästhetik der Satire angekündigt. Was ich mir dazu notiert hatte, betraf eher deren Geschmacklosigkeit.

Wo endet die Freiheit des ästhetischen Urteils? Wo beginnt ästhetische Diskriminierung oder gar ästhetischer Rassismus? Diese Frage richtet sich auch an die so beliebte Satire, zumal wenn sie Bilder einsetzt. Bilder haben per se eine stärkere ästhetische Anmutung als Sprache. Die HeuteShow im ZDF nutzt die Möglichkeit der digitalen Bildbearbeitung für Effekte, die, würden sie sprachlich ausformuliert, unter der Gürtellinie träfen. Hier ein noch relativ harmloses Beispiel aus der Heute-Show vom 20. 11. 2020:

Personen werden mit ihren Gesichtszügen, Bewegungen oder anderen Äußerlichkeiten in einer Weise vorgeführt, für die despektierlich noch ein mildes Attribut darstellt. Beliebte Gags sind ungewöhnliche Perspektiven, Zeitlupe oder Wiederholungen kurzer Ausschnitte, welche die Betroffenen als Trottel erscheinen lassen. Rechtlich ist das, jedenfalls wenn Prominente betroffen sind, alles nicht greifbar. Ein Schüler, der auf Facebook oder Instagram das leicht entstellte Bild einer Mitschülerin auf einer Schnecke reiten ließe, wie die HeuteShow die Bundeskanzlerin, bekäme Ärger wegen Cybermobbing.

Ich habe das Kabarett einst sehr geschätzt. Es gibt immer wieder Comedians, denen es gelingt, die Probleme der Welt elegant und geistreich aufzuspießen. Der originale Wortwitz etwa eines Olaf Schubert schafft echtes Vergnügen. Die Karikaturen von Greser & Lenz haben ihren eigenen Stil und stechen oft in faule Diskursknoten. Aber es gibt gute und schlechte Satire.

Die Satire muss sich auch ihrerseits ein Geschmacksurteil gefallen lassen. Das Kabarett war einmal Kleinkunst (mit Betonung auf der zweiten Silbe). Man erinnert sich mit Vergnügen an die Münchener Lach- und Schießgesellschaft, an die Berliner Stachelschweine oder an das Düsseldorfer Kommödchen. Und natürlich an Georg Kreisler mit seinem Schlager »Geh’ ma Hundevergiften im Park«[1]. Satire ist jedoch weithin zu einem Massenprodukt geworden. Witz und Eleganz werden durch Lautstärke und Grobheiten ersetzt. Spezialität der Heute Show sind billige Bildmanipulationen. Ihre Satire zeichnet sich durch eine Pseudoästhetik der Häme aus. Damit setzt sie Maßstäbe für die Social Media und für die Alltagswelt. Der kurze Weg von Karikatur und Comedy zu Fake News und Hate Speech führt über verzerrte Gesichter sowie verkürzte und verfremdete Wort- und Bildzitate.

Nachtrag: Von den Medien, die für sich Seriosität in Anspruch nehmen, zeichnet sich neben der Heute Show besonders das relativ neue elektronische Medium The Pioneer von Gabor Steingart aus. Dort wird fast jede Ausgabe mit einem Deepfake prominenter Personen eingeleitet.


[1] So hatte die Satire-Zeitschrift Kot & Köter das bekannte Taubenlied umgedichtet, was ihr ein Ermittlungsverfahren eintrug.

Ähnliche Themen

Zurück zur »Natur der Sache«

Mit dem Eintrag vom 27. 4. 2021 hatte ich eine Reihe zum dem von mir so genannten natural turn begonnen (Die Natur der Sache als Schlüssel zur Interdisziplinarität). Die Reihe hatte ich nach 15 Fortsetzungen unterbrochen, um mich auf das Analogiethema zu konzentrieren. Das hat länger gedauert als vorhergesehen. Nach insgesamt 17 Fortsetzungen habe ich das Thema endlich (für mich) abgeschlossen. Wenn ich nun auf die »Natur der Sache« zurückkomme, will ich nicht wieder da anfangen, wo ich aufgehort habe (nämlich bei einem Referat der Sozialanthropologie des Strafrechtlers und Kriminologen Hellmuth Mayer), sondern das Thema schnell zu einem Ende bringen. Ich knüpfe an an den Eintrag vom 10. Oktober 2021 Eine Anthropologie für den Natural Turn.

Anthropologie ist aus der Mode gekommen. Das liegt an dem ungeheuren Mißbrauch, der unter diesem Titel in der Nazizeit getrieben wurde. Das gilt insbesondere für die biologisch Anthropologie. Immerhin gibt es seit 1977 in Leipzig ein Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthro-pologie (dessen Direktor Svante Pääbo 2022 den Nobel-Preis für seine paläogenetischen For-schungen erhalten hat).

Viele erwarten von der Anthropologie Hinweise auf ein naturalistisches Verhaltensprogramm des Menschen. Doch biologische und evolutionäre Anthropologie haben insoweit die Erwartungen bisher enttäuscht. Über die klassischen phänomenologisch-philosophischen Arbeiten von Helmuth Plessner und Arnold Gehlen ist man nicht hinausgekommen. Allgemein akzeptiert wird die Aussage Arnold Gehlens, der Mensch sei ein Mangelwesen, das heißt, sein Verhalten sei nicht durch angeborene Instinkte festglegt, sondern werde von Kultur bestimmt. Diese Unbestimmtheit drückt auch Plessners berühmte Formel von der Plastizität des Menschen aus. Näher am Recht war die Sozialanthropologie Hellmuth Mayers. Sie überragt vieles, was zum Thema geschrieben worden ist.

Zur Einordnung ist hier an die Diskussion zu erinnern, die vor bald einem Menschenalter der Ethologe Konrad Lorenz durch seine Forschungen (an Stichlingen) über angeborene Verhaltensweisen ausgelöst hat. Damals kam es darauf an zu akzeptieren, dass Menschen eben nicht durch angeborene Verhaltensweisen programmiert sind, sondern erst durch Kultur lebensfähig werden. Das musste vor allem die Kriminologie lernen. In den USA war sie schon länger zur Kriminalsoziologie geworden. In Deutschland betrieb Mayer die Ablösung von der Kriminalbiologie, sozusagen im Umkehrschluss zur Verhaltensforschung (Ethologie) von Tinbergen, Lorenz, Eibl-Eibesfeld und anderen. Das geschah zunächst 1962 aus dem damals aktuellen Anlass der großen Strafrechtsreform in der Programmschrift »Strafrechtsreform für heute und morgen«. 1977 folgte eine komplette Sozialanthropologie: »Die gesellige Natur des Menschen«. Es handelt sich um die letzte Veröffentlichung des Autors. Darin findet noch einmal die ganze Persönlichkeit Hellmuth Mayers Ausdruck: Historisch gebildet und scharfsinnig, lebenserfahren und illusionslos, konservativ–liberal und rechtsstaatsfest, bekennender Protestant, dessen Nächstenliebe besonders den Obdachlosen und hoffnungslos weggesperrten Sicherungs­verwahrten galt. Dieses Buch ist nicht mehr rezipiert worden, wiewohl es in seinen Sachaussagen moderner und umsichtiger war als die Soziologie seiner Zeit. Ein Grund dafür sind die zahlreichen »qualitativen« Beobachtungen, die sich zu einem Teil einer außerordentlichen historischen und literarischen Bildung und zum anderen Teil dem bewussten Erleben fast des ganzen 20. Jahrhunderts verdanken

Es liegt nahe, das opus magnum von Ernst-Joachim Lampe heranzuziehen, das die »Historiogenese« des Rechts mit dem ganzen Instrumentarium wissenschaftlicher Akribie aufarbeitet (und dabei Mayers Texte ignoriert). Aber auch Lampes Buch führt in der Sache nicht über Mayer hinaus. Lampe betrachtet die Rechtsgeschichte als evolutionäres Geschehen. Das bringt die Gefahr mit sich, Zustände, die man ex post als Ergebnis der Evolution beobachtet, auf Entwicklungstendenzen zurückzuführen. Das wird zum Zirkelschluss, denn Evolution ist ungerichtet.

Mayers Pointe liegt in der These, dass es Reste biologisch angelegter Verhaltenstendenzen geben mag, dass sich aber Bewusstsein und in der Folge subjektiver und objektiver Geist gegen die Natur stellen können, wie das unter anderem in der Frauenbewegung erfolgreich geschehen sei. Ein »zurück zur Natur« kommt daher für Mayer nicht in Betracht. Der »Protest gegen die Natur« ist wie Fahrradfahren bei Gegenwind. Er ist anstrengend, und es kommt darauf an, ob das Ziel die Anstrengung lohnt. Mehr ist von Anthropologie nicht zu erwarten.

Die Fortsetzung wird einen Umweg über den material turn nehmen.

Ähnliche Themen

Ist die Analogie als juristische Methode überflüssig?

Man unterscheidet bekanntlich Gesetzesanalogie und Rechtsanalogie. Mit der Gesetzesanalogie werden bestimmte einzelne Regelungen auf einen ähnlichen Fall übertragen. Bei der Rechtsanalogie wird zunächst aus einer Mehrzahl vorhandener Vorschriften ein Prinzip herauspräpariert und dieses sodann auf den von den Ausgangsbestimmungen nicht erfassten Fall erstreckt. Paradebeispiel der Rechtsanalogie ist die Ableitung der allgemeinen Unterlassungsklage aus den §§ 12, 862, 1004 BGB. Es handelt sich dabei um eine normative Induktion. Das las man schon bei Enneccerus-Nipperdey.[1]

Eine deontische Logik scheitert bekanntlich nicht an Jörgensens Dilemma.[2] Die Subsumtion ist als Deduktion gültig, da sie als erste Prämisse einen Normsatz verwendet und damit einen Fehlschluss vom Sein aufs Sollen vermeidet. Entsprechendes – ich bin versucht zu sagen, Analoges – gilt auch für die normative Induktion, da hier aus singulären Normsätzen ein allgemeinerer Normsatz gefolgert wird. Die Rechtsanalogie läuft auf Rechtsgewinnung durch systematische Auslegung hinaus – und ist damit als spezifische juristische Methode überflüssig.

Die Gesetzesanalogie geht davon aus, dass zwei Fälle ungleich, aber ähnlich sind und deshalb die Rechtsfolgen von Fall A auf Fall B übertragen werden können oder müssen. Wie entdecken Juristen die Ähnlichkeit zwischen den vom Gesetz ungleich behandelten Fällen? Die Strukturmerkmale für die Feststellung der Ungleichheit sind im gesetzlichen Tatbestand »enkodiert«. Die Ähnlichkeit wird daraus erschlossen, dass die ungleichen Fälle jedenfalls in einigen Tatbestandsmerkmalen übereinstimmen oder dass mehrere Tatbestandsmerkmale phänomeno­logisch dem Vergleichsfall ähnlich sind. Die Rechtfertigung des Analogie­schlusses folgt dann aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 I GG. Als Vermittlungselement dienen der (Schutz-)Zweck des Gesetzes und als dessen Kehrseite die gleichartige Interessenlage.

Fall A: Fall B ≈ Schutzzweck: Interessenlage

In dem Vergleichszeichen ≈ steckt der Gleichheitssatz. Das ist Pseudologik, die nicht weiterhilft. Sie legt aber den Gedanken nahe, dass auch die Gesetzesanalogie als spezifische Methode überflüssig sei. An ihrer Stelle kann man direkt auf das allgemeine Gleichbehandlungsgebot zurückgreifen. Die Schwachstelle der Analogie, das heißt die Stelle, an der das entscheidende Werturteil gefällt werden muss, ist die Feststellung der (relevanten) Ähnlichkeit. Hier wird entschieden, dass die ungleichen Fälle in einem »höheren« Sinne gleich sind. Es wird ein Strukturmerkmal hinzugefügt, durch das die ungleichen Kandidaten in eine höhere Gattung aufrücken und insoweit gleich werden. Das BVerfG hat 1979 den nur für alleinstehende Frauen mit eigenem Haushalt gewährten Hausarbeitstag für unvereinbar mit Art. 3 II GG erklärt, weil die Regelung gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau verstieß.[3] Ohne die speziellen Vorschriften des Art. 3 II 1 und III hätte man auch mit einer Analogie arbeiten können, und tatsächlich argumentiert das Gericht, als ob die Gewährung eines Hausarbeitstages für Männer aus einer Analogie abzuleiten sei. Das zeigt: Für die Analogie ist mindestens dort kein Platz, wo spezielle Gleichbehandlungsregeln greifen.

Man zögert für einen Augenblick, die Gesetzesanalogie mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 I GG ganz abzulösen. Die Hürde kommt vermutlich daher, dass man den Gleichheitssatz in der Regel als Waffe gegen diskriminierende Beschränkungen von Individuen im Blick hat. Art. 3 GG steht im Grundrechtsteil der Verfassung und wird für die Durchsetzung von Grund- und Bürgerrechten in Anspruch genommen. Die Probleme, die mit der Gesetzesanalogie gelöst werden, sind jedoch meist sehr viel trivialer. Die Suche nach »Analogie« in der Rechtsprechungsdatenbank JURIS ergab am 10. 3. 2022 27.553 Treffer. Da geht es etwa um die Gewerbesteuerbefreiung ambulanter Pflegedienste oder um die Anrechnung ehrenamtlicher Tätigkeiten auf die Beitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung. Da beruft sich niemand auf Art. 3 GG. Doch die Anwendung des Gleichheitssatzes funktioniert genau wie eine Analogie. Stets geht es darum, Objekte, die an sich verschieden sind, unter einem bestimmten Gesichtspunkt als gleich oder ungleich zu vergleichen.[4] Man stellt also zunächst Ungleichheit fest und sucht dann nach Ähnlichkeiten, um am Ende die Ungleichheit durch Ähnlichkeit zu überwinden.

»Treating relevantly similar cases similarly is a fundamental aspect of rationality. Any application of a general principle or rule—whether in logic, morality, law, or administration—requires that we have a sense of which cases are relevantly similar and merit similar treatment.«[5]

Ein Zitat aus einer sprachwissenschaftlichen Arbeit zur Analogieforschung legt den Gedanken, nahe, dass die Analogie der große Gleichmacher sein könnte:

»Die sprachwissenschaftlichen Definitionen der Analogie stimmen darin überein, daß sie als Tendenz (Ausgleichungstrieb) zwischen zwei begrifflich assoziierten Wörtern (semantische A.) oder einander entsprechenden Wortformen (formale A.) wirksam sei und auf eine lautliche Annäherung (Uniformierung) abziele.«.[6]

Der Gedanke beruht zwar auf einem Kurzschluss, ausgelöst durch das Stichwort »Uniformierung«, lässt sich aber doch nicht einfach von der Hand weisen.

Die Analogie, wie sie hier erörtert wurde, ist anderes und mehr als Nachahmung, nämlich ein gedanklicher Prozess, an dessen Ende etwas Neues steht. Was Analogie als Nachahmung von der Analogie als produktivem Argument unterscheidet und was beide verbindet, wäre ein Thema für sich. Immerhin geht es in beiden Fällen um Ähnlichkeit, und de facto führt auch Nachahmung selten oder nie zu einer bloßen Kopie. Indessen führt das Zitat in die Irre, wenn man nicht bedenkt, dass die antiken Grammatiker ἀναλογία zusammen mit ἀνωμαλία als Gegenbegriff verwendeten, um so zu erklären, dass Wortbedeutung und sprachliche Formen oft uneinheitlich verwendet werden. So galt die korrekte Verwendung einer Vokabel oder einer Flexionsform als analog, die abweichende dagegen als anomal. In der Kontroverse der alten Grammatiker um Analogie und Anomalie[7] stand Analogie also für Uniformität im Sinne eines einheitlichen Sprachgebrauchs.

Der Gleichheitssatz des Art. 3 GG ruft jedermann auf, Ungleichheiten zu konstatieren, um sodann nach Ähnlichkeiten zu suchen, so dass im Ergebnis Ungleiches gleich behandelt werden kann. Wo  immer Menschen einen anderen als Träger von Rechten wahrnehmen, die ihnen selbst versagt sind, mögen die Rollen, an welche die Berechtigung geknüpft ist, noch so verschieden sein, lässt sich stets behaupten, dass die Beteiligten jedenfalls als Menschen gleich sind und die Situation mithin trotz unterschiedlicher Rollen so ähnlich ist, dass Gleichbehandlung geboten sei. Damit erweist sich die Analogie im Recht am Ende doch als Gleichmacher.

Was folgt aus alledem für die Jurisprudenz? Wenig, was man dort nicht schon wusste. Aber der Ausflug in die Interdisziplinarität war interessant, ähnlich wie ein Museumsbesuch.


[1] Ludwig Enneccerus/Hans Carl Nipperdey, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, 1. Band: Allgemeine Lehren, Personen, Rechtsobjekte, 14. Aufl., 1952, S. 210.

[2] Pavel Holländer, Rechtsnorm, Logik und Wahrheitswerte. Versuch einer kritischen Lösung des Jörgensenschen Dilemmas, 1993; Jörgen Jörgensen, Imperatives and Logic, Erkenntnis 7, 1937/38, 288-296.

[3] Beschluss vom 13. November 1979 1 BvR 631/78, BVerfGE 52, 369.

[4] Konrad Hesse, Der Gleichheitsgrundsatz im Staatsrecht, AöR NF 38 , 1951/52, 167-224, S. 172.

[5] Trudy Govier, A Practical Study of Argument, 7. Aufl. 2014, S. 320..

[6] So zitiert Karl-Heinz Best, Probleme der Analogieforschung, 1973, gleich eingangs (in kritischer Absicht) aus dem  Sprachwissenschaftlichen Wörterbuch von Johann Knobloch (1961ff, S. 111f).

[7] Vgl. Karl-Heinz Best, Probleme der Analogieforschung, 1973, S.  13ff.

Ähnliche Themen

Analogie, Casus und Regula

Wenn der eingangs zitierte Levi und viele andere das Fallrecht des Common Law als institutionalisierte Analogiebildung erklären, so rufen sie damit die alte Frage nach dem Verhältnis von casus und regula[1] in Erinnerung. Vom Fallrecht des klassischen Rom unterscheidet sich das Common Law dadurch, dass es explizit Präjudizien als verbindlich deklariert. Für das Common Law ist umstritten, ob die Präjudizienbindung durch Analogie oder durch die Übernahme einer im Präjudiz implizit enthaltenen Regel realisiert wird. Anhänger der Regeltheorie[2] nehmen an, dass man einem Präjudiz nur dadurch folgen kann, dass man die ratio decidendi, das holding des Präzedenzfalles, zur Regel abstrahiert und auf den neuen Fall anwendet. Die Analogiker dagegen sehen in der Anwendung eines Präjudizes die unmittelbare Übernahme der Rechtsfolge in einem hinreichend ähnlichen Fall.

Hier noch einmal das Levi-Zitat:

»The basic pattern of legal reasoning is reasoning by example. It is reasoning from case to case. It is a three-step process described by the doctrine of precedent in which a proposition descriptive of the first case is made into a rule of law and then applied to a next similar situation. The steps are these: similarity is seen between cases; next the rule of law inherent in the first case is announced; then the rule of law is made applicable to the second case.« (An Introduction to Legal Reasoning, University of Chicago Law Review 15, 1948, 501-574, S. 501f.)

Sieht man genauer hin, ist die Formulierung ambivalent. Einerseits wird dem Präjudiz eine Regel entnommen, die auf den neuen Fall angewendet wird. Andererseits ist der neue Fall ein »ähnlicher« Fall. Auf Ähnlichkeit kommt es aber nicht mehr an, wenn man eine Regel hat. So ist denn heftig umstritten, ob die Präjudizienbindung nur durch Fallvergleich oder durch die Übernahme einer im Präjudiz implizit enthaltenen Regel realisiert wird. Anhänger der Regeltheorie nehmen an, dass man einem Präjudiz nur dadurch folgen kann, dass man die ratio decidendi, das holding des Präzedenzfalles, zur Regel = Rechtsnorm abstrahiert und auf den neuen Fall anwendet. Mit einer Formulierung von Robert Alexy:

»Die Verwertung eines Präjudizes bedeutet die Verwertung der der präjudiziellen Entscheidung zugrunde liegenden Norm.« [3]

Das ist der Standpunkt der Analogieskeptiker, die keine reine oder originäre Analogie akzeptieren.

Die traditionelle Auffassung geht jedoch dahin, dass ein unmittelbarer Fallvergleich grundsätzlich möglich ist. Prüfstein ist das »nackte« Urteil, das heißt ein Urteil nur mit Tatbestand ohne Begründung. Auch ein »nacktes« Urteil taugt zum Präjudiz. Urteilsgründe braucht man nur, wenn der aktuelle und der Altfall nicht gleich erscheinen. Dann liegt es ähnlich wie bei einem Gesetz, dass sich von seinem Wortlaut her nicht zweifelsfrei anwenden lässt. Dann muss das Gesetz ausgelegt und analog muss das Präjudiz interpretiert werden. Es kommt also darauf an, ob die Fälle gleich oder nur ähnlich sind. Der Analogieskeptiker wird geltend machen: Schlechthin gleiche Fälle gibt es nicht. Keine zwei Objekte sind völlig gleich und ebenso wenig weisen zwei Objekte gar keine Ähnlichkeit auf. Er schließt daraus, dass die Unterscheidung zwischen Gleichheit und Ähnlichkeit beliebig sei und die Analogie als selbständige Argumentation entsprechend wertlos. Analogiker wie z. B. Weinreb erwidern: Die Fähigkeit, Muster zu erkennen, und so zwischen passend und unpassend, gleich und ungleich zu unterscheiden, ist schon bei allen Wirbeltieren vorhanden.  Auch beim Menschen ist die Fähigkeit zur Mustererkennung eine angeborene Kompetenz. Sie wird an unendlich vielen Beispielen trainiert und befähigt zur Unterscheidung von gleich, ähnlich und verschieden. Psychologen sprechen vom mappping der zu vergleichenden Situationen. Dem mapping entspricht der Fallvergleich der Jurisprudenz.

Der Fallvergleich ist eine wie selbstverständlich geübte juristische Praxis, die allerdings methodisch wenig reflektiert wird. Daher sei hier noch einmal an die Kontroverse zwischen Fritjof Haft und Arthur Kaufmann erinnert. Für Haft war der Fallvergleich »die zentrale juristische Operation«.[4] Er wandte sich gegen die »Grundvorstellung, daß es dem Rechtsanwender vorgegebene Rechtsideen gebe, und daß diese in abstrakten Begriffen festgehalten werden könnten. … [Denn] Die Gerechtigkeit ist eine Sache des Einzelfalles. Der Einzelfall wird nicht an vorgegebenen Ideen gemessen. Er trägt die richtige Lösung allein in sich« (S. 156f). Über eine »bewußt gestaltete Vergleichsfalltechnik« erfährt man von Haft freilich nicht viel mehr, als dass es sich um »rhetorisches Problem« handelt (S. 160). Auch Arthur Kaufmann sah im Fallvergleich den zentralen Akt der Rechtsgewinnung, nämlich »die Gleichsetzung des zu entscheidenden Falles mit solchen Fällen, die der einschlägigen Norm sicher unterfallen, also eine Analogie«.[5] Der Fallvergleich erfolge im Lichte einer durch Abduktion gewonnenen Normhypothese. Kaufmann wandte sich damit ausdrücklich gegen die Auffassung von Haft, dass ein Fallvergleich ohne Norm oder Regel möglich sei, die als tertium comparationis dient.

Indessen verdient weder die Position Hafts noch diejenige Kaufmanns Zustimmung. Hafts Regelnihilismus ist nicht akzeptabel. Ohne Abstraktionen könnten wir uns nicht durch die Welt bewegen. Es geht immer nur um den Grad der Verallgemeinerung. Kaufmann stützte sich auf einen ungewöhnlich engen Subsumtionsbegriff, so dass er praktisch nicht mehr zwischen gleich und ähnlich, Subsumtion und Analogie unterscheiden konnte. Als subsumierbar unter ein Gesetz akzeptierte Kaufmann nur Zahlbegriffe. Jede andere Anwendung einer Regel fordert nach seiner Auflassung eine »Gleichsetzung«, die er als Analogie einordnete (S. 25). Subsumtion war für Kaufmann gleichbedeutend mit Deduktion. Damit verwendete er den Subsumtionsbegriff in dem engen Sinne, der in der formalen Logik maßgeblich ist. Juristen nutzen den Subsumtionsbegriff aber meistens in einem weiteren Sinne, der eine »kleine« Auslegung einschließt. Kaufmanns enger Subsumtionsbegriff hat einen (zu) weiten Analogiebegriff zur Folge, der die Realität der Musterkennung durch menschliche und künstliche Intelligenz verfehlt. Kognitive Neuroinformatik ist heute imstande, auch komplexe Verkehrssituationen eindeutig zu identifizieren.

Die Differenz zwischen Haft und Kaufmann verschwindet, wenn man den juristischen Begriff der Subsumtion als Kategorisierung im Sinne der kognitiven Psychologie versteht und zwischen gelingender und zweifelhafter Kategorisierung unterscheidet. Auch ohne (externen) Vergleichsmaßstab kann man feststellen, dass zwei Objekte gleich sind. Wäre es anders, gäbe es keine Kategorisierung und damit keine Begriffsbildung. Wenn die Objekte verschieden sind, kann man immer noch Ähnlichkeit konstatieren, wenn einzelne Merkmale übereinstimmen. Die Kategorie als kognitives (internes) Muster ist wohl Vergleichsmaßstab, aber noch keine (Rechts-)Norm. Erst wenn es darum geht, zwei Fälle trotz Verschiedenheit als ähnlich gleichzusetzen, braucht man einen weiteren Vergleichsmaßstab. Dann geht es nicht mehr um Ähnlichkeit an sich (ontische oder phänomenale Ähnlichkeit), sondern um relevante Ähnlichkeit.

Die juristischen Kategorien für Gleichheit liefern die Tatbestandmerkmale einer Norm. Wenn die Kategorisierung = Subsumtion misslingt, weil nicht alle, sondern nur einige Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, geht es nicht länger um Gleichheit, sondern um Gleichsetzung aufgrund von Ähnlichkeit. Die Ungleichsetzung entspricht dem distinguishing im Common Law. Black’s Law Dictionary (5. Aufl. 1979, S. 425) definiert: »To point out an essential difference.« Für Scott Brewer handelt es sich dabei um eine umgekehrte Analogie (disanalogy[6]).

Regeln müssen mit Gattungsbegriffen ausgedrückt werden, die ebensowenig scharf sind wie die kognitiven Muster des Vergleichens. Nicht nur im Alltag unterscheidet man zwischen gleich, ähnlich und verschieden. Auch künstliche Intelligenz kann Muster als gleich identifizieren und ähnliche herausfiltern. Es lässt sich schwerlich bestreiten, dass wir Personen, Gegenstände oder Örtlichkeiten, die wir einmal wahrgenommen haben, auch ohne Anlass wiedererkennen. Das gilt nicht nur für identische, sondern auch für gleiche Objekte unabhängig davon, ob Alltagsbegriffe oder Fachtermini als Kategorien dienen. Schwieriger als der Vergleich von kompakten Objekten ist der Vergleich von komplexeren Situationen, wie ihn der Fallvergleich fordert, der die Heranziehung eines Präjudizes rechtfertigen soll. Auch »Situationen« können nur mit Hilfe von Begriffen = Kategorien beschrieben werden. Situationen lassen sich verhältnismäßig einfach kategorisieren, wenn man nur auf einzelne perzeptiv prominente Merkmale abstellt, z. B. auf die Beteiligten (Mann, Frau, zwei, viele), auf den Streitgegenstand (Geld, Beziehung, Politik) oder den Orts- und Zeitbezug. Solche Kategorisierung dient im Vorfeld des Gerichtsprozesses für die Zuständigkeitsverteilung. Sie ist nicht von vornherein teleologisch, sondern – wenn man so will – ontologisch. Sie könnte auch für statistische Zwecke genutzt werden oder für die Zusammenstellung einer Stichprobe in der Sozialforschung. Aber singuläre Merkmale machen noch keinen »Fall«. Wenn es um den Tatbestand eines Präjudizes geht, wird es insofern schwierig, als der Fall keine schlechthin objektive Einheit bildet. Was als Fall definiert wird, ist ein interessengeleiteter Ausschnitt aus der Welt. In juristischem Zusammenhang erhält der Fall seine Konturen aus vorhandenen oder gewünschten Regeln, aus Urteilstatbeständen und Klagevorbringen. Immerhin ist der Altfall ist abgeschlossen. Man darf nicht mehr nach Umständen fragen, die dem Erstgericht nicht bekannt waren. Dagegen ist der neue Fall noch offen. Man kann immer noch nach ergänzenden Tatbestandselementen suchen, die einen Unterschied machen. Dennoch bleibt ein vorjuristischer, sozusagen ontologischer Fallvergleich möglich. Die Jurisprudenz würde auf ein wichtiges Element ihrer Urteilskraft verzichten, wenn sie sich nicht zutraute, zwischen Gleichheit, Ähnlichkeit und Verschiedenheit zu differenzieren.

Es geht um die Frage, ob ein Gleichheitsurteil möglich ist, ohne dass man den Sinn und Zweck einer Regel bemühen muss. Unser Alltagsrealismus spricht für eine positive Antwort, ist aber wenig beweiskräftig, auch wenn die Epistemologie unter Berufung auf so prominente Autoren wie W. V. Quine einen naturalized turn verzeichnet (o. XXX). Zum Alltagsrealismus tritt der professionell geschulte Realitätssinn hinzu. Dem kann man, wie Brożek[7] und Schauer (S. 88)[8] von vornherein mit Skepsis begegnen. Doch wer mit dem Recht nicht grundsätzlich auf Kritikfuß lebt, wird die Herausbildung von professionellen kognitiven Mustern nicht als Defizit, sondern (mit Weinreb[9]) als Gewinn verbuchen.

»… the choice of which analogy to prefer is not like the flip of a coin. Just as her common sense, the accumulation of ordinary experience, tells Edna that it makes no difference how much cranberry juice costs or whether it is imported, a lawyer or judge relies on his knowledge and experience of law. The greater his experience in the particular area of law, the more likely is it that the analogy he chooses will be convincing to others (just like Edna’s advice [der darin bestand, sie solle den roten Saftflecken mit dem gleichen Mittel bekämpfen wie einen Rotweinflecken], to Mary would be more convincing if Edna had a degree in food chemistry). The choice is informed also by a broad understanding of what is relevant to the sort of decision being made – a matter of liability (Adams) or regulation or business or individual rights – and broader still, what generally ›counts‹ in law.«

Juristische Expertise bietet keine Garantie, aber eine gute Chance, sich bei Vergleichen (beim mapping oder distinguishing) auch Charakteristisches und Relevantes zu konzentrieren und Neben­säch­liches und Gleichgültiges auszuschalten. Es hilft, sich an die Relationstechnik (Gutachtentechnik) zu erinnern, die der Referendar in der Zivilstation beim Landgericht lernt. Dafür ist ein Tatbestand anzufertigen, der alle potenziell rechtlich relevanten Umstände aufführt, aber auch nur diese. Dagegen kommt es nicht darauf an, ob die Umstände am Ende entscheidungsrelevant sind. Meist fällt es nicht schwer, eine Vielzahl von Umständen für irrelevant zu befinden. Ob der Kläger vor dem Vertragsschluss Rührei oder Müsli gefrühstückt hat ist dann ebenso unerheblich wie seine Haarfarbe.

In vielen Fällen liegt das Gleichheitsurteil auf der Hand. Wurde dem Käufer eines Audi mit Dieselmotor des Baujahrs 2008 Schadensersatz zugebilligt, weil der Motor des Typs EA189 mit einer so genannten Schummel-Software ausgerüstet war, so liegt der Fall des Käufers eines anderen Audi mit diesem Motor, der nunmehr seinerseits Ersatz fordert, gleich. Für das Gleichheitsurteil bedarf es keiner Regel, wiewohl man eine Regel formulieren könnte, die gleiche Fälle dieser Art, und nur diese erfasst. Die Begriffe dieser Regel wären vollständig konstituiert durch ihre frühere Anwendung. In dieser Regel erschöpft sich das holding des Präjudizes.

So klar ist das Gleichheitsurteil nicht immer, aber auch nicht ganz selten. Es gibt viele Standardsituationen. Eine Abtreibung ist eine Abtreibung, ist eine Abtreibung. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Variationen (früh – spät, nach Vergewaltigung, Gesundheitsgefahr für die Mutter, Wahrscheinlichkeit eines kranken Kindes).

Fällt die Kategorisierung von Fällen als gleich »analog« zur Kategorisierung qua Subsumtion zweifelhaft aus, dann allerdings muss ein weiterer Vergleichsmaßstab her. Aber da hilft keine einzelne Regel. Eine Regel deckt entweder nur den Altfall oder nur den Neufall. Für eine Analogie, welche ähnliche Fälle gleichstellt, benötigt man eine Norm, die beide Fälle einschließt. Erst eine weiter gefasste Norm kann herangezogen werden, um die verschiedenen Fälle als hinreichend ähnlich gleichzusetzen. Es stehen also drei Regeln zur Wahl. Dann gilt es zu begründen, welche Regel den Vorzug verdient. Zur Begründung einer Regel dienen in erster Linie ihr Zweck und als Kehrseite ihre Folgen. Damit setzt ein Wechselspiel von Fallvergleich, Regelbildung und Begründung ein. Das nackte holding ist ein theoretischer Grenzfall. Man geht davon aus, dass sich die Richter bei ihrem Urteil etwas gedacht haben, und das fließt bei der »hermeneutischen« Rekonstruktion[10] des Präjudizes ein. Die relevante Ähnlichkeit ergibt sich aus der Begründung der Norm. Aber es bleibt dabei, dass auch der unmittelbare (phänomenologische) Fallvergleich die Wahl der Regel mitbestimmt. Fallvergleich und teleologische Überlegungen wirken zusammen.[11] Die bloße Ähnlichkeit der Fälle gibt Anlass, auf den Zweck der im Präjudiz ausgedrückten Regel zurückzugehen, denn der Zweck kann die Gleichsetzung per Analogie stützen, weil er zeigt, welche Ähnlichkeit relevant ist. Auch wenn man nicht so weit geht, wie Fritjof Haft mit der Ansicht, der Einzefall trage die richtige Lösung allein in sich, so weckt doch der Fall eine starke Intuition, die sich nicht ganz unterdrücken lässt.


[1] Dazu 2015 drei Einträge auf Rsozblog.de: Casus und Regula; Die Hellenismuskontroverse; Das Motto des Freirechts: »Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat«.

[2] Zu diesen zählen u. a. Larry Alexander, Constrained by Precedent, Southern California Law Review 63, 1989, 1-64; Larry Alexander/Emily Sherwin, Demystifying Legal Reasoning, 2008; Ronald M. Dworkin, In Praise of Theory, Arizona State Law Journal 29, 1997, 353-376, S. 371: »An analogy is a way of stating a conclusion, not a way of reaching one, and theory must do the real work.«; Melvin Aron Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988, S. 83f: »Reasoning by analogy differs from reasoning from precedent and principle only in form. … Cases are not determined in the common law simply by comparing similarities and differences.«; Neil MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, 2003 [1978],  S. 161, 186; Richard A. Posner, Overcoming Law, 1995, S. 177, 519f; Kent Greenawalt, Law and Objectivity, 1992, S. 200; Peter Westen, On »Confusing Ideas«: Reply, Yale Law Journal 91, 1982, 153-1165, S. 1163: »One can never declare A to be legally similar to B without first formulating the legal rule of treatment by which they are rendered relevantly identical.«; Frederick F. Schauer, Playing by the Rules, A Philosophical Examination of Rule-Based Decision-Making in Law and Life, 1991; ders., Thinking Like a Lawyer, A New Introduction to Legal Reasoning, 2009 (S. 85ff).

[3] Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 336.

[4] Fritjof Haft, Falldenken statt Normdenken, Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (Hg.), Der deutsche Sprachgebrauch, Bd. II, 1981, 153-161, S. 153.

[5] Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung – eine rationale Analyse, Deduktion, Induktion, Abduktion, Analogie, Erkenntnis, Dezision, Macht, 1999, S. VI.

[6] Scott Brewer, Exemplary Reasoning: Semantics, Pragmatics, and the Rational Force of Legal Argument by Analogy, Harvard Law Review 109, 1996, 923-1028, S. S. 936, 983, 1006.

[7] Bartosz Brożek, Analogy in Legal Discourse, ARSP 94, 2008, 188-201, S. 193.

[8] Frederick Schauer, Thinking Like a Lawyer. A New Introduction to Legal Reasoning, 2009, S.88.

[9] Lloyd L. Weinreb, Legal Reason. The Use of Analogy in Legal Argument, 2. Aufl., 2016, S. 59f.

[10] Ralf Poscher, The Hermeneutics of Legal Precedent, SSRN 2022, 4042864.

[11] Weinreb S. 60ff.

 

Ähnliche Themen

Relevante Ähnlichkeit

Will man Fragen beantworten oder gar Probleme mit einer Analogie lösen, so hilft nicht jede Ähnlichkeit. Es kommt auf relevante Ähnlichkeiten an.[1] Der Relevanzbegriff ist allerdings kaum schärfer als derjenige der Ähnlichkeit.[2] Der Relevanz kommt man jedoch auf die Spur, wenn man die Beispiele für (mögliche) Analogien nicht abstrakt ansieht, sondern mit den Augen unterschiedlicher Betrachter, die jeweils ihre eigenen Fragen stellen.

Aristoteles wollte bei der Bildung seines Beispiels zeigen, was Sprache leisten kann. Mit Dionysos und Ares hatte er zwei Götter und Söhne des Zeus vor Augen, also zwei gleiche Objekte. Vor Augen hatte er aber auch die verschiedenen Attribute, den einen Gott mit Becher, den anderen mit Schild. Gleichheit und Ungleichheit zusammen ergibt Ähnlichkeit. In dieser Situation, so zeigt Aristoteles uns mit seinem Beispiel, können die Attribute als Ersatz für die Namen dienen.

Den Besucher der Antikenabteilung des Museums, der nebeneinander zwei Vasen mit figürlichen Darstellungen erblickt, bewegt die Frage, wen die Figuren darstellen könnten. Er wird zunächst Gleichheit konstatieren: Auf beiden Vasen sind Figuren aus der Mythologie abgebildet. Dann wird er nach Unterschieden suchen und bemerken, dass beide Figuren einen anderen Gegenstand in der Hand tragen. Nun erscheinen ihm die Figuren nicht länger als gleich, sondern nur noch als ähnlich. Wenn sein Vorwissen ausreicht, wird er mit Hilfe der Attribute aus seinem Vorwissen die Namen der dargestellten Figuren erschließen.

Der Aristoteles-Übersetzer will einen passenden Ausdruck für die Vokabel φιάλη finden, mit der Aristoteles den Becher des Dionysos bezeichnete. Der Übersetzer weiß, dass Dionysos im Bild meistens mit dem κάνθαρος, dem zweihenkligen Weinbecher, dargestellt wurde. Gigon übersetzte daher mit »Becher«, Fuhrmann dagegen mit »Schale«, vielleicht, um sprachlich eine Ähnlichkeit der unterschiedlichen Attribute zum Ausdruck zu bringen, die vielleicht schon Aristoteles im Sinn hatte, hat doch ein Schild umgedreht die Form einer Schale (und im Deutschen kommt die passende Alliteration hinzu). Anstelle des Bechers hätte Aristoteles auch den Thyrsos wählen können. So hat jeder einen anderen Blick auf die Dinge. Was als Ähnlichkeit wahrgenommen wird, liegt im Auge des Betrachters.

Für das »Auge des Betrachters« nutzen Psychologie, Soziologie und Linguistik das Konzept des Framing.[3] Frames sind kognitive Strukturen, die Wissen über bestimmte Phänomene oder Situationen ad personam bündeln. Diese Rahmung hängt von der Position (dem Aspekt) des Fragers ab und bestimmt damit dessen Definition der Situation. Damit schließt sich der Kreis zum Mapping und Encoding. Eine komplexe Situation wird subjektiv durch eine Auswahl konkreter Merkmale strukturiert, die als handlungsleitende Rahmung die Wahrnehmung lenkt. Merkmale, die im frame nicht enkodiert sind, bleiben draußen vor. Unberücksichtigt bleiben so im Beispiel des Aristoteles etwa die verschiedenen Mütter der beiden Zeus-Söhne, aber auch deren weitere Attribute.

Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten: Zwischen zwei beliebigen Objekten gibt es praktisch immer Unterschiede und ebenso Übereinstimmungen, die als Ähnlichkeiten wahrgenommen werden können. Jedes Mapping einer Situation, das durch das die Enkodierung von Merkmalen und Relationen die Erkennung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden möglich macht, lässt viele Merkmale unberücksichtigt. Was verschieden, gleich oder ähnlich ist, ist relativ zum frame desjenigen, der die Antwort auf eine von ihm gestellte Frage sucht. Gelegentlich springen Ähnlichkeiten aber auch unabhängig von bestimmten Problem- oder Fragestellungen ins Auge.

In vielen Situationen bietet der Rechtsstandpunkt einen Bezugsrahmen, der sich gegenüber anderen Rahmungen (wirtschaftlicher Standpunkt, politischer Standpunkt, Interessenstandpunkte) abgrenzen lässt. Der Rechtsrahmen kann jedoch zerfallen, wenn eine Analogie herangezogen werden soll, um ihn auszufüllen. Weinreb versucht zu beruhigen mit der These, dass juristische Ausbildung und Praxis zu einem einheitlichen Urteilsvermögen verhelfen:

»The legal knowledge and experience that lawyers and judges bring to the facts of a case tell them (…) that some similarities count for the matter at hand and others do not.« [4]

Brozek ist kritisch.[5]

»I find Weinreb’s conception problematic for one simple reason: he offers no structural account of analogical reasoning and the fact that we do (and often successfully) use analogies on daily basis is not a strong argument to the effect that analogy can serve as justification in rational legal discourse.«

Volle Skepsis gegenüber dem Ähnlichkeitsurteil der Juristen formuliert Schauer, wenn er schreibt:

» … lawyers do not select analogies that they will believe will not lead someone – judge or jury – to the conclusion that they are advocating, and judges do not select analogies that they believe will not help the reader of an opinion see the wisdom in heir conclusion.«[6]

Ich bin hin- und hergerissen. Deshalb will ich Weinreb ausführlicher zitieren.

»Although no rule dictates a decision, in the manner of a deductive argument, the choice of which analogy to prefer is not like the flip of a coin. Just as her common sense, the accumulation of ordinary experience, tells Edna that it makes no difference how much cranberry juice costs or whether it is imported, a lawyer or judge relies on his knowledge and experience of law. The greater his experience in the particular area of law, the more likely is it that the analogy he chooses will be convincing to others (just like Edna’s advice [der darin bestand, sie solle den roten Saftflecken mit dem gleichen Mittel bekämpfen wie einen Rotweinflecken], to Mary would be more convincing if Edna had a degree in food chemistry). The choice is iformed also by a broad understanding of what is relevant to the sort of decisionbeing made – a matter of liability (Adams) or regulation or business or individual rights – and broader still, what generally ›counts‹ in law.« (S. 59f)

»Without having any general rule or principle to work with, we often can tell with reasonable assurance what is likely to be relevant, because we have had more or less similar experiences, of how things work. Sometimes experience fails us. Who would have thought that the mold that forms on brad and other foods would be the source of an invaluable medicine? But over the lare range, our experience is ordely and serve us well.« (S. 122)

»The coherence and stability of a legal order is an analog of the orderliness of nature. The Analogy is not complete because our knowledge of the natural order depends on the overriding premise that its regularities are part of an objective reality that is there to be discovered. Regularities of the legal order , on the other hand, are the product of human design and have to be constructed. Nevertheless, in an ongoing legal order, they enable us to subject analogies in the law to the ordinary demands of substantive reasonableness, in light of what we know.

In short, support for the analogy on which an analogical legal argument depends is found in its legal context, or, more simply, in the law itself. Those who insist, that there is no basis for validating a legal argument except by deduction or induction suppose that lawyers and judges make their argument in a vacuum, as if they have no more reason to choose one analogy over another than would a visitor from Mars who was asked to explain why the lawn is wet.« (S. 125)

Und noch einmal vollständiger von S. 127:

»The legal knowledge and experience that lawyers and judges bring to the facts of a case tell them … that some similarities count for the matter at hand and others not. Their ability to make such distinctions is no more mysterious in the one case than it is in the other. If a legal analogy cannot be put to the test in the same way that a practical analogy can, it is nevertheless subject to tests of consistency and coherence with rules of law that together indicate the relevance of particular facts to the issue in question, although neither individually nor collectively do they prescribe conclusively for the specific situation.«

Weinreb findet in der Fähigkeit, situationsadäquat Gleichheit, Verschiedenheit und Ähnlichkeit wahrzunehmen, eine jedem Menschen angewachsene Kompetenz.[7]

»Ther is no question, however, that the ability is acquired very early and that it cannot be assimilated or reduced to deductive reasoning, because deductive reasoning depends on it.«

Dazu bezieht sich Weinreb auf W. V. Quine, bei dem zu lesen ist [8]:

»A standard of similarity is in some sense innate.«

Das Zitat stammt aus dem berühmten Aufsatz »Natural Kinds« (dort S. 274), in dem Quine dem Induktionsproblem mit einem realistischen Gattungsbegriff auf die Spur kommen wollte. Auch daraus sei ausführlicher (von S. 272) zitiert:

»For surely there is nothing more basic to thought and language than our sense of [similarity]; our sorting of things into kinds. The usual general term, whether a common noun or a verb or an adjective, owes its generality to some resemblance among the things referred to. Indeed, learning to use a word de pends on a double resemblance: first, a resemblance between the present circumstances and past circumstances in which the word was used, and second, a phonetic resemblance between the present utterance of the word and past utterances of it. And every reasonable expectation depends on resemblance of circumstances, together with our tendency to expect similar causes to have similar effects. The notion of a kind and the notion of similarity or resemblance seem to be variants or adaptations of a single notion. Similarity is immediately definable in terms of kind; for, things are similar when they are two of a kind. The very words for ›kind‹ and ›similar‹ tend to run in etymologically cognate pairs. Cognate with ›kind› we have ›akin‹ and ›kindred‹. Cognate with ›like‹ we have ›ilk‹. Cognate with ›similar‹ and ›same‹ and ›resemble‹ there are ›sammeln‹ and ›assemble‹, suggesting a gathering into kinds. We cannot easily imagine a more familiar or fundamental notion than this, or a notion more ubiquitous in its applications. On this score it is like the notions of logic: like identity, negation, alternation, and the rest. And yet, strangely, there is something logically repugnant about it. For we are baffled when we try to relate the general notion of similarity significantly to logical terms. One’s first hasty suggestion might be to say that things are similar when they have all or most or many properties in common.«

Was folgt aus alledem? Anscheinend gibt es so etwas wie einen Naturalized Turn in Epistemology (Chase Wrenn im der Routledge Handbook of Social Epistemology, 2019). Die Epistemologie kann den Alltagsrealismus doch nicht ganz ingnorieren. Es kommt auf die Suchrichtung an. Wenn man eine Matter of Question im Kopf hat und nach Ähnlichkeiten sucht, findet man nur relevante Ähnlichkeit. Fragt man dagegen nach Gleichheit, vergleicht man also zwei Objekte, so drängen sich auch natürliche (ontologische) Ähnlichkeiten auf.


[1] Bartosz Brożek, Analogy in Legal Discourse, ARSP 94, 2008, 188-201, S. 193.

[2] Brewer (wie Fn. 5) S. 933.

[3] Für die philosophische Argumentationstheorie baut Harald Wohlrapp auf dieses Konzept: wie Fn. 24 und ausführlich in: The Concept of Argument. A Philosophical Foundation, 2014, S. 175ff. .

[4] Lloyd L. Weinreb, Legal Reason. The Use of Analogy in Legal Argument, 2. Aufl., 2016, S. 127.

[5] Bartosz Brożek, Analogy in Legal Discourse, ARSP 94, 2008, 188-201, S. 193.

[6] Frederick Schauer, Thinking Like a Lawyer, A New Introduction to Legal Reasoning, 2009, S. 88.

[7] S. 114ff.

[8] Willard van Orman Quine, Natural Kinds, in: Essays in Honor of Carl G. Hempel,1969. Ich zitiere nach dem Abdruck in: Jaegwon Kim/Daniel Z. Korman/Sosa (Hg.), Metaphysic. An Anthology, 2012, 271-280, S. 272.

Ähnliche Themen