Herstellung und Darstellung juristischer Entscheidungen

Die Kritik der juristischen Methodenlehre behauptet immer wieder, die juristische Methode sei insofern unehrlich, als sie nicht im Stande sei, außerjuristische Einflüsse bei der Entscheidungsbildung sichtbar und kontrollierbar zu machen. In der Regel wird diese Kritik unter der Überschrift »Herstellung und Darstellung juristischer Entscheidungen« vorgebracht. Es lohnt sich, dieser Kritik noch einmal nachzugehen.
Hermann Isay (1873-1938), der noch zur Freirechtsschule gezählt wird, hatte 1929 die These begründet, dass juristische Entscheidungen zunächst »durch konstruktive Phantasie und nachfolgendes Wertfühlen oder durch Intuition« gefunden und erst nachträglich an einer Rechtsnorm kontrolliert und dadurch rationalisiert würden. [1]Hermann Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, Berlin 1929. Heute knüpft man meistens bei Niklas Luhmann an, der, freilich in anderem Zusammenhang [2]Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, 1966, 51., die Unterscheidung zwischen der Herstellung und der Darstellung einer Entscheidung eingeführt hat. Sie wird vielfach benutzt, um die Leistungsfähigkeit der juristischen Methode in Zweifel zu ziehen: Die Argumente, mit denen eine Entscheidung begründet werde, seien regelmäßig gar nicht die wahren Gründe, sondern nachträgliche Rechtfertigung oder, schlimmer noch, Verdeckung der wahren Motive. Doch das war weder die Aussage Isays noch diejenige Luhmanns.
Isay hatte allerdings den Vorgang der Entscheidungsfindung als irrational bezeichnet, wollte ihn damit aber keineswegs psychologisch erklären und schon gar nicht in den Bereich der Willkür oder Unredlichkeit abdrängen. »Die Aufgabe, die hier vorliegt, darf nicht … der Psychologie zugewiesen werden, die es mit empirischen, der Beobachtung und dem Experiment zugänglichen Erlebnissen und Erlebniszuständlichkeiten des Bewußtseins zu tun hat, aber nicht ermitteln kann, was im Fühlen, im Wollen sich an Ideengehalten, an Wertgehalten usw. uns erschließt; der Bereich der Psychologie wird durch die Grenzen des vital gebundenen Seelenlebens bestimmt, außerhalb deren das Reich des geistig-noetischen Seins liegt. Neben dem Reich des Psychischen gibt es noch ein drittes Reich, das Reich der Bedeutungen, der Werte« (S. 42 f.) Dazu verwies Isay auf Rickert, Lask und Reinach und fuhr fort: »Für die Erschließung dieses Reiches ist die Methode der Erkenntnis des Psychischen nicht ausreichend. Hier kann nur die Forschungsmethode der Phänomenologie wirklich fruchtbare Ergebnisse liefern.« Gemeint war die Phänomenologie Edmund Husserls.
Psychologisch gemeint war dagegen die gleichfalls 1929 von Hutcheson geäußerte Ansicht, wonach die im Einzelfall getroffene Entscheidung des Richters aus der Intuition (hunch) zu erklären sei Die Bezugnahme auf Normen oder Präjudizien sei nur eine nachträgliche Rationalisierung, die für die Entstehung der Entscheidung ohne Bedeutung sei. [3]Joseph C. Hutcheson, The Judgment Intuitive: The Function of the ‘Hunch’ in Judicial Decision, Cornell Law Quarterly 14, 1929, 274-288 Dickinson hat ihm alsbald widersprochen mit der These, dass Richter während ihrer Ausbildung und Berufstätigkeit die im Recht angelegten Konzepte verinnerlichten, so dass sie sich selbst an diese Normen gebunden fühlten. Er zweifelte nicht, dass Gesetze und Präjudizen für die Herstellung der richterlichen Entscheidung beträchtliche Wirkung entfalteten. Allerdings ließ er die Frage offen, in welchem Verhältnis dieses rule-element zu dem Beitrag steht, der aus der Richterpersönlichkeit in die Entscheidung einfließt. [4]John Dickinson, Legal Rules: Their Function in the Process of Decision, University of Pennsylvania Law Review 79, 1931, 833-868, 839 f. [http://www.jstor.org/pss/3308003]. Auch der als Regelskeptiker bekannte Llewellyn war der Überzeugung, dass die Gemeinsamkeiten im Handeln und Denken der Juristen weit wichtiger seien als die jeweilige Richterpersönlichkeit. Und H. L. A. Hart meinte, man dürfe die Frage nach der Wirksamkeit einer Regel nicht mit dem psychologischen Prozess verwechseln, den die Person, bevor sie handelte, durchlief. »Der wichtigste Faktor aber, der uns anzeigt, daß wir beim Handeln eine Regel angewandt haben, ist der, daß, wenn unser Verhalten angezweifelt wird, wir es durch Rückbeziehung auf die Regel rechtfertigen können.« [5]Der Begriff des Rechts, 1973, 195.
Unter dem Einfluss der Hermeneutik wurde aus dem Rechtsgefühl bei Josef Esser das Vorverständnis. [6]Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Rationalitätsgrundlagen richterlicher Entscheidungspraxis, 2. Aufl., Kronberg/Ts. 1972. Der Jurist, der ein bestimmtes praktisches Problem, insbesondere einen Fall, zu lösen habe, so meinte Esser, bringe immer schon eine Vorstellung von der »gerechten« Lösung mit, bevor er eine Interpretation des Gesetzes mit den herkömmlichen Methoden versuche. Diese Vorstellung gründe sich auf vorpositive Richtigkeitsüberzeugungen des Interpreten, die sich im Laufe seiner Lebensgeschichte herausgebildet hätten. Danach werde geprüft, ob die gefundene Lösung »konsensfähig« und »plausibel« sei (Richtigkeitskontrolle). Auf dieser Stufe steuere eine Vorauswahl »einsichtiger Gerechtigkeitskriterien und sachlich überzeugender Lösungsgesichtspunkte« die Suche nach der Entscheidung. Die so gefundene Vorstellung einer gerechten Lösung bestimme dann die Wahl der Auslegungsmethode und damit das Ergebnis der Interpretation. Der Interpret halte sich also nicht offen für die Frage, welche Lösung des Falles sich aus dem Gesetz ergebe, sondern ziehe die gängigen Auslegungsmethoden und anerkannte Autoritätsquellen (Präjudizien, eine herrschende Meinung) nur heran, um zu zeigen, dass sich die schon gefundene Lösung des Falles mit dem positiven Recht vereinbaren lässt (»Stimmigkeitskontrolle«). Esser sah in dem Vorverständnis mit der ontologischen Hermeneutik ein Strukturelement des Verstehens (S 133 ff.), nicht aber ein psychisches Phänomen im Sinne eines Vorurteils oder einer Attitüde. Er verteidigte daher gegen Isay die Rationalität richterlichen Entscheidens. Die Richtigkeitskontrolle des Ergebnisses werde »mit der ersten Anpeilung von potentiell hilfreichen Normen … eingeleitet und … nicht mehr außer Acht gelassen« (S. 139f.). Später beklagte Esser, sein Buch sei nicht immer richtig verstanden worden; er sei kein Freirechtler. Die herkömmliche Methodenlehre gehöre nicht abgeschafft, sondern müsse gerade umgekehrt ernst genommen werden, weil sie einen Teil jener argumentativen Figuren liefere, in denen die Plausibilität von Begründungszusammenhängen zumindest für Juristenkreise konsensfähig werde [7]Josef Esser, Bemerkungen zur Unentbehrlichkeit des juristischen Handwerkszeugs, Juristenzeitung 1975, 555-558.
Luhmann schließlich betont, es bestehe von vornherein gar nicht der Anspruch, dass die realpsychischen Vorgänge nach den Vorschriften der Methodenlehre abliefen. »Der Schluß vom Tatbestand auf eine Rechtsfolge ist für den Juristen die Endgestalt, in der einer sein Arbeitsergebnis präsentiert, nicht aber ein Abbild oder Modell seiner faktischen Entscheidungstätigkeit. Die logische Form hat eine Darstellungsfunktion. Die juristische Entscheidung wird mithin durch bestimmte Darstellungserfordernisse, nicht aber im Prozeß ihrer Herstellung gesteuert.« (S. 51)
Das alles bedeutet nicht, dass die Methodenlehre für die Herstellung von Entscheidungen irrelevant wäre, denn die darin vorgezeichneten Darstellungsnotwendigkeiten sind immer auch bei der Herstellung psychisch präsent. Isay verwies auf Rechtsgefühl und Intuition. Luhmann meinte, der gute Einfall komme nur dem geschulten Kopf. Das Vorverständnis kann man auch als sedimentiertes Wissen betrachten. Heute würde man wohl von implizitem Wissen oder tacit knowledge (Michael Polanyi) sprechen. [8]Man könnte hier das von Glöckner herausgearbeitete Parallel-Constraint-Satisfaction-Modell der Entscheidung heranziehen. Allerdings befasst es sich nur mit der Sachverhaltsfeststellung. (Andreas … Continue reading Unergiebig sind Bemühungen, den von Peirce eingeführten Gedanken der Abduktion nutzbar zu machen. [9]Positiver Klaus Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle. Abduktion u. Falsifikation von Hypothesen im juristischen Entscheidungsprozess. 1972; Arthur Kaufmann, Die Rolle der Abduktion … Continue reading Sie laufen auf die Aufwertung des aus der Psychologie bekannten Association-Bias zu einer Theorie hinaus. Das alles sind aber nur Andeutungen. Aus sich heraus ist die Methodenlehre nicht in der Lage, ihre determinierende Kraft zu belegen oder externe Einflüsse zu beweisen oder auszuschließen. Dazu bedarf es deskriptiv-empirischer Untersuchungen. Makrosoziologische Untersuchungen bekommen die Methode jedoch nicht in den Griff. Die meisten mikrosoziologischen Studien befassen sich nicht mit der Methode der Rechtsgewinnung, sondern mit der Sachverhaltsermittlung. Dazu sei zunächst auf Ingo Schulz-Schaeffer, Rechtsdogmatik als Gegenstand der Rechtssoziologie, Für eine Rechtssoziologie »mit noch mehr Recht«, Zeitschrift für Rechtssoziologie, Zeitschrift für Rechtssoziologie 25, 2004, 141-174, verwiesen.
Nachtrag vom 5. April 2012: Als Beiheft 44 der Zeitschrift für Historische Forschung, hg. von Barbara Stollberg-Rilinger und André Krischer, ist 2010 ein Tagungsband »Herstellung und Darstellung von Entscheidungen, Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne« erschienen. Auf HSozKult gibt es einen Tagungsbericht von Andreas Pecar und eine Rezension von Hanna Sonkajärvi. Ich habe den Band noch nicht in der Hand gehabt. Nach den Berichten zu urteilen, handelt es sich um das übliche Wiederkäuen etablierter rechtssoziologischer Themen und dem kulturwissenschaftlichen Label. Die Differenz von Herstellung und Darstellung, die mein Thema war, wird in dem Band anscheinend nicht behandelt.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Hermann Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, Berlin 1929.
2 Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, 1966, 51.
3 Joseph C. Hutcheson, The Judgment Intuitive: The Function of the ‘Hunch’ in Judicial Decision, Cornell Law Quarterly 14, 1929, 274-288
4 John Dickinson, Legal Rules: Their Function in the Process of Decision, University of Pennsylvania Law Review 79, 1931, 833-868, 839 f. [http://www.jstor.org/pss/3308003].
5 Der Begriff des Rechts, 1973, 195.
6 Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Rationalitätsgrundlagen richterlicher Entscheidungspraxis, 2. Aufl., Kronberg/Ts. 1972.
7 Josef Esser, Bemerkungen zur Unentbehrlichkeit des juristischen Handwerkszeugs, Juristenzeitung 1975, 555-558
8 Man könnte hier das von Glöckner herausgearbeitete Parallel-Constraint-Satisfaction-Modell der Entscheidung heranziehen. Allerdings befasst es sich nur mit der Sachverhaltsfeststellung. (Andreas Glöckner, Zur Rolle intuitiver und bewusster Prozesse bei rechtlichen Entscheidungen, 2008, http://www.mpg.de/317987/forschungsSchwerpunkt.) Auch ein Ausflug in die Wissenssoziologie von Pierre Bourdieu bietet sich an (Entwurf einer Theorie der Praxis, 1979; Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 1984). Von Bourdieu kann man erfahren, dass eine gleichförmige Praxis nicht unbedingt aus der gehorsamen Erfüllung von Regeln hervorgeht. Bourdieu findet eine Ursache für Regelmäßigkeiten und abgestimmtes Verhalten vielmehr in einem gruppen- oder klassenspezifischen »Habitus«. In diese Richtung gehen Martin Morlok/Ralf Kölbel, Rechtspraxis und Habitus, Rechtstheorie 32, 2001, 289-304.
9 Positiver Klaus Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle. Abduktion u. Falsifikation von Hypothesen im juristischen Entscheidungsprozess. 1972; Arthur Kaufmann, Die Rolle der Abduktion Rechtsgewinnungsverfahren, in: Guido Britz/Heinz Müller-Dietz (Hg.), Grundfragen staatlichen Strafens, Festschrift für Heinz Müller-Dietz zum 70. Geburtstag, 2001, S. 349-360; Ralf Kölbel/Thorsten Berndt/Peter Stegmaier, Abduktion in der justiziellen Entscheidungspraxis, Rechtstheorie 37, 2006, 85-108. Zurückhaltend Robert Alexy, Arthur Kaufmanns Theorie der Rechtsgewinnung, ARSP Beiheft 100, 2005, 47-66.

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Qualitätsarbeit der Justiz IV

Der Plaghunter ist zum Bughunter geworden. Unter der Überschrift »Karlsruher Leseschwäche« nimmt Rieble (Myops 13/2011, 32-36) sich einen Beschluss der Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 1. 12. 2010 (1BvR 1572/10, NJW 2011, 1661) vor. Mit dieser Entscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht einen Beschluss des OLG Frankfurt vom 6. 5. 2010 (3 UF 350/08., FamRZ 2011, 489) aufgehoben, der aber gar nicht so ergangen war, wie das Bundesverfassungsgericht es zugrunde legte. Anscheinend hatten die Richter die Akten nicht gründlich gelesen. Genüsslich macht Rieble geltend, dass das Bundesverfassungsgericht mit zweierlei Maß messe, wenn es selbst gelegentlich daneben greife, für Fehlgriffe anderer Gerichte aber strenge Maßstäbe bereit halte.
Bei dieser Gelegenheit: Ich bin auf der Suche nach Gerichtsfehlern ein bißchen müde geworden, nachdem andere ein ganzes Forschungsprojekt daraus gemacht haben. Der Ertrag von WatchTheCourt ist aber bisher, wenn ich richtig sehe, mit ganzen drei Fällen kümmerlich.

Ähnliche Themen

Von der Rechtssoziologie zu den Kulturwissenschaften und zurück (III)

Der kulturwissenschaftliche Ansatz führt zu einer souveränen Geringschätzung all dessen, was die »Disziplinen« immerhin schon geleistet haben.
1. Keines der genannten Themen ist wirklich neu.
2. Kulturwissenschaften setzen zu sehr auf den homo symbolicus und damit auf einen neuen homunculus.
3. Kulturwissenschaften gebärden sich empiriefeindlich.
4. Zur beherrschenden Methode wird die wissenssoziologische Rekonstruktion.
5. Kulturwissenschaften verfahren einseitig poststrukturalistisch.
Zu 1. und 2 im Eintrag vom 16. September 2011.
Zu 3. – Homo symbolicus: Nachdem homo sociologicus und homo oeconomicus mühsam zu Grabe getragen wurden, zieht mit dem homo symbolicus der Kulturwissenschaften ein neuer Homunculus ein. Methodisch führen die Begriffe kulturelles Wissen und kulturelles Gedächtnis zur (neuen) Wissenssoziologie. Methoden der Wahl sind »dichte Beschreibung« und Rekonstruktion. Es geht dabei um die qualitativen Methoden der Sozialforschung, die im Anschluss an die »interpretative Wende« der Soziologie auch von der Rechtssoziologie rezipiert worden sind.
In den Kulturwissenschaften beanspruchen die qualitativen Methoden ein Übergewicht oder gar eine Monopolstellung. Es mag wohl zutreffen, »dass die Gestalt der Dinge in letztlich historisch und sozial kontingenten Sinnzusammenhängen und Praktiken kulturell produziert wird« [1]Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien, 2000, Studienausgabe mit Nachwort 2006; S. 39.. Die sinnhafte Konstitution der Wirklichkeit steht außer Frage. Nur darf man darüber die Reifizierung des Sinnhaften nicht vergessen. Geäußerter Sinn wird zu etwas Dinglichem, an dem man sich stoßen kann. Es ist nicht ganz einfach, Menschen, die hinter Gittern sitzen, bei denen die Gerichtsvollzieherin vor der Tür steht, den Opfern von Vergewaltigung oder Betrug oder auch nur dem Steuerzahler zu sagen, die soziale Welt existiere nur als symbolische; was sie erlebten, beziehe seine Bedeutung aus kollektiven Wissensordnungen, sei sozial konstruiert und deshalb kontingent. Rechtssoziologie muss daher nach wie vor bei Handlungen und Konflikten, Normen und Institutionen ansetzen.
Zu 4. – Empiriefeindlichkeit: Im Zentrum der Kulturwissenschaft geht es noch um anderes und mehr als um eine Eroberung des Gegenstandsfeldes der Geistes- und Sozialwissenschaften. Es geht um die Auswechslung von Basis und Überbau. Die geistig-ideelle Sphäre, die dem Marxismus als bloßer Überbau des Materiellen galt, wird zur Basis aller sozialen Phänomene. Menschliches Handeln und menschliche Beziehungen sind nunmehr nur noch Epiphänomene einer symbolisch sinnhaft konstituierten Welt. Dagegen wäre eigentlich nichts einzuwenden. Juristen haben das Recht nie anders als ein kollektives Sinnsystem behandelt. Aber jetzt wird der Spieß umgedreht. Eine postempirische oder postpositive Epoche wird ausgerufen. Methoden, die zählen und messen, werden als empiristisch denunziert. Psychologische und biologische Beobachtungen passen schon gar nicht mehr ins Bild. Stattdessen sind Interpretation und Rekonstruktion angesagt. Für beide gilt ein radikaler Kontextualismus. Er geht davon aus, dass kulturelle Produkt kulturelle Praktiken außerhalb des Kontextes nicht fassbar sind. Generalisierungen, die doch eigentlich das Ziel von Wissenschaft sind, werden damit ausgeschlossen.
Zu 5. – Wissenssoziologische Rekonstruktion: Methodisch führt Kulturwissenschaft zu einer wissenssoziologischen »Rekonstruktion« dessen was bisher in der Rechtssoziologie als Rechtsbewusstsein geläufig war. Immerhin gibt es hier durch einen entschiedenen Blick auf die Alltagskultur (im Sinne von Lebenswelt) neue Akzente. Es wird betont, dass »Recht« weitaus ubiquitärer ist, als es die klassische Frage nach »knowledge and opinion about law« aufdecken kann. Recht beeinflusst die Menschen nicht von außen, sondern ist Teil ihres Selbstverständnisses. Sie sehen sich selbst, wie das Recht sie sieht, und daraus bezieht wiederum das Recht seine Bedeutung. So wird in von den Kulturwissenschaften mit immer neuen Formulierungen und Beispielen die Zirkularität des Denkens beschworen. Als Beispiel hier eine Formulierung von Ulrich Haltern [2]Ulrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, S. 18.:
»Das Recht konstituiert die Erfahrung des Selbst und des Anderen. Es ist Teil des kulturellen Bedeutungs- und Symbolgewebes, in das der Mensch verstrickt ist. Damit ist nicht nur gesagt, dass das Recht weitaus ubiquitärer ist, als instrumentalistische Theorien meinen, sondern vor allem, dass es bereits integraler Bestandteil dessen ist, was es regelt. Recht beeinflusst uns nicht von außen, sondern ist Teil unseres Selbstverständnisses. Wir beginnen uns zu sehen, wie das Recht uns sieht, indem wir an der Konstruktion von Bedeutungen teilnehmen, die das Recht vornimmt. Wir internalisieren die Repräsentationen, die das Recht von uns formt, und können unsere Ziele und Einsichten nicht länger von ihnen trennen.«
Das ist der gute alte hermeneutische Zirkel kulturtheoretisch gewendet.
Das Ergebnis solcher Anstrengungen ist ein mehr oder weniger radikaler Konstruktivismus. Es lohnt nicht, daran zu zweifeln, dass alle Beobachtungen und Interpretationen letztlich ein Produkt menschlicher Sinne und Denkwerkzeuge sind. Es ist längst eine Trivialität, dass jede Beobachtung durch den Standpunkt des Beobachters bestimmt ist. Es mag ja zutreffen, dass wissenschaftliche Theorien durch Fakten oder Daten irreduzibel unterbestimmt bleiben. Es ist ja richtig, dass sich zwischen Theoriesprache und Beobachtungssprache letztlich nicht differenzieren lässt. Aber was sich auf dem Feld der Kulturtheorien ereignet, ist ein Kurzschluss zwischen philosophischer Wissenschaftstheorie und dem operativen Geschäft der Normalwissenschaft. Der radikale (epistemologische) Konstruktivismus als wissenschaftstheoretische Position wird nicht hinreichend vom kognitiven und sozialen Konstruktivismus unterschieden. Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
Zu 6. – Poststrukturalismus: Die Kulturwissenschaften verstehen sich als poststrukturalistisch. Die klassischen Analyseraster wie Subjekt und Objekt, Sein und Sollen, Struktur und Prozess werden als falsche Dualismen zurückgewiesen. Eine Folge ist der weitgehende Verzicht theoretischen Verallgemeinerungen und die Konzentration auf das Prozesshafte des sozialen Geschehens in mikrosoziologischen Konversationsanalysen.
Kulturwissenschaften im Verbund mit der neuen Wissenssoziologie treten mit einem imperialen Anspruch auf. Sie reklamieren mehr oder weniger alle Themen für sich, die bislang spezialisierten Sozial- und Geisteswissenschaften zugerechnet wurden. Als Preis für die Aufnahme in das Reich der Kulturwissenschaften sollen Rechtswissenschaft, Rechtssoziologie und andere mehr ihre Individualität hergeben und zu einer sozialen Einheitswissenschaft verschmelzen. Der Preis wäre die Vielfalt der ganz unterschiedliche Erkenntnismöglichkeiten bergenden geistes- und sozialwissenschaftlichen Ansätze. Die Rechtssoziologie muss daher den imperialistischen Anspruch der Kulturwissenschaften zurückweisen.
Auch manche Rechtssoziologen (und Juristen) berufen sich heute auf den kulturwissenschaftlichen Ansatz. Ihr Flirt mit den Kulturwissenschaften ist zunächst wohl opportunistisch begründet. Es will einfach nicht (mehr?) gelingen, mit dem alten Label »Rechtssoziologie« institutionelle Unterstützung zu finden und eine größere Truppe hinter sich zu versammeln. Aber der Flirt bleibt nicht ohne Folgen. Kulturwissenschaftliche Rechtsforschung ist in ihrer Vielfalt kaum koordiniert und wenig vernetzt. Vieles steht unverbunden nebeneinander und verliert dadurch an Wirkung. Da es den einschlägigen Arbeiten an der Selbstwahrnehmung als rechtssoziologisch fehlt, verzichten sie darauf, von dem vorhandenen und bewährten Angebot der Rechtssoziologie Gebrauch zu machen. Die Folge ist Zersplitterung und der Verlust von möglichem Kooperationsgewinn. Vielfach wird längst Bekanntes reproduziert. Andererseits werden verdienstvolle Arbeiten nicht gebührend zur Kenntnis genommen oder bald wieder vergessen, weil sie nicht in einen größeren Zusammenhang eingebettet sind. Hier breitet sich eine neue Unübersichtlichkeit aus. Vor allem aber verliert die Rechtssoziologie ihren Biss. Ein Interview mit dem Kriminologen Nigel Fielding für den Nuffield-Report [3]Hazel Genn/Martin Partington/Sally Wheeler, Law in the Real World: Improving our Understanding of How Law Works, London 2006, S. 33. bringt die Sache auf den Punkt:
»Younger social scientists seem to lack the interest in the critical matters of social structure, power and social class that lead one very quickly to the law a major element in constituting society as it is. Sociology has turned from matters of production to matters of consumption. For example, a great deal of research attention is now given to how people use mobile telephones. If a previous generation had had those devices, the issue would have been how they were socially distributed. Now the issue is, how they are decorated.«
Zu erkennen ist Rechtssoziologie letztlich nur an Thema und Methode. Ihre Methode ist keine andere als die der allgemeinen Soziologie. Das bedeutet vor allem, dass immer in irgendeiner Weise kontrollierte Empirie dazugehört. Ihr Thema ist das Recht als integraler Bestandteil der Gesellschaft. Ganz gleich, wer auch immer in diesem Sinne arbeitet und in welchem institutionellen Zusammenhang das geschieht: Es handelt sich um Rechtssoziologie. Und als solche sollte man sie benennen. In diesem Sinne gibt es eine ganze Menge Rechtssoziologie, nicht nur bei Juristen und Soziologen, sondern auch bei Politikwissenschaftlern, Ökonomen, Historikern, Anthropologen und auch bei denen, die sich als Kulturwissenschaftler verstehen.
Eine kulturelle Wende der Rechtswissenschaft empfiehlt Ulrich Haltern. [4]Ulrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005. Er verspricht sich davon eine Öffnung der Jurisprudenz für Interdisziplinarität, ohne dass das Recht seine Autonomie verliert und ohne dass die Rechtswissenschaft in den Nachbarschaften aufgeht. Dazu soll das Recht als eine spezifische »Imagination« der Welt und vor allem des Politischen verstanden werden. »Statt nur danach zu fragen, wie man das Recht verbessern könne, kann man Raum schaffen für den akademischen Versuch, den Platz des Rechts in der Kultur zu verstehen und die Macht zu beschreiben, die das Recht über die Imagination der Bürger besitzt.« (S. 12). Für diesen Ansatz nutzt Haltern die Bezeichnung »Recht im Kontext«. Der Kontext des Rechts gerät allerdings wieder etwas aus dem Blick, wenn wir (S. 18) erfahren, der kulturtheoretische Ansatz habe sich »auf das Bedeutungssystem des Rechts zu konzentrieren, das sich in Symbolen materialisiert.« Und weiter:
»Der zentrale Auftrag der kulturtheoretischen Perspektive im Recht besteht darin, diesen symbolischen Formen nachzugehen und die Beobachtungen sichtbar zu machen, die Menschen einerseits an das Recht herantragen und die sie andererseits aus dem Umgang mit ihm gewinnen. Symbolische Formen wie Recht verweisen nicht nur auf etwas oder sind der Ausdruck von etwas, sondern üben selbst strukturierende und konstituierende Kraft in alltäglichen, politischen und anderen Bereichen aus, indem sie die in subtiler und oft diffuser Weise durchdringen.«
Zur Rechtssoziologie kommt man von dort zurück, wenn man den Symbolbegriff präzisiert, so dass Symbole einer empirischen Untersuchung zugänglich werden. [5]Dazu mein Aufsatz über »Die Macht der Symbole«,
in: Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hg.), Wie wirkt Recht?, Baden-Baden: Nomos, S. 267-299.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien, 2000, Studienausgabe mit Nachwort 2006; S. 39.
2 Ulrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, S. 18.
3 Hazel Genn/Martin Partington/Sally Wheeler, Law in the Real World: Improving our Understanding of How Law Works, London 2006, S. 33.
4 Ulrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005.
5 Dazu mein Aufsatz über »Die Macht der Symbole«,
in: Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hg.), Wie wirkt Recht?, Baden-Baden: Nomos, S. 267-299.

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Hohfelds analytisches Schema der Rechte (sollte man vergessen)

Immer noch taucht in der rechtstheoretischen Literatur das analytische Schema der Rechte von Wesley Newcomb Hohfeld auf. [1]Zuletzt etwa Andreas Funke, Rechtstheorie, in: Julian Krüper (Hg.), Grundlagen des Rechts, 2011, S. 45-64/56 f. Recht ausführlich wird es von Alexy [2]Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Nachdruck der 1. Aufl., 2006, 187 ff. behandelt. Er weist zwar darauf hin, dass Bentham eigentlich schon weiter war und bescheinigt Hohfeld Unvollständigkeit, meint jedoch [3]In Fn. 96., da Hohfelds Unterscheidungen anschaulicher seien als die Benthams und das Standardsystem der deontischen Logik zwar nicht explizit verwendeten, aber implizit voraussetzten, böten sie »eine ideale Basis für weitere Untersuchungen«. Ich frage mich, für welche denn.
Hohfelds Schema geht zurück auf zwei Aufsätze »Some Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning« und »Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning«, die Hohfeld 1913 und 1917 im Yale Law Journal veröffentlicht hatte. Heute zitiert man nach einer postumen Ausgabe, die 1919 für Yale University Press von Walter Wheeler Cook besorgt wurde. Sie ist im Internet verfügbar, lädt sich aber, da es sich um Bilder handelt, nur sehr mühsam und ist schwer zu lesen. Besser lesbar ist das Buch, wenn man Zugang zu Hein Online hat. Dass es immer noch für bedeutsam gehalten wird, mag man daraus entnehmen, dass es 2010 neu aufgelegt worden ist.
Hohfelds Problem war die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks »Recht« (right). Deshalb unterschied er claim rights, liberty rights oder privileges, powers (abilities) und immunities. Claim rights sind subjektive Rechte im Sinne von klagbaren Ansprüchen. Powers entsprechen ziemlich genau dem, was wir unter Kompetenzen verstehen. Dagegen bleiben die Kategorien der liberty rights (privileges) und der immunities unklar. Zur Erläuterung der liberty rights erfahren wir, wenn A das Freiheitsrecht habe, X zu tun, dann sei A weder gegenüber einer bestimmten Person B noch gegenüber irgend jemandem sonst verpflichtet, X zu unterlassen. Das Freiheitsrecht begründe aber auch weder bei B noch bei irgendeinem Dritten eine Pflicht, A bei der Ausübung zu unterstützen. Das ist aus unserer Sicht die deontische Modalität der Freistellung. Als Beispiel für immunities dienen etwa das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung oder das »Recht« eines Vertragspartners, dass der andere Teil den Vertrag nicht einseitig ändert. Bei den immunities handelt es sich also um Abwehrrechte oder um die Kehrseite fehlender Kompetenz.
Das Verhältnis des Rechtsinhabers zu einem Verpflichteten oder zu Dritten versucht Hohfeld mit dem Begriff jural correlatives zu erfassen, den man wohl mit Rechtsverhältnis übersetzen kann.
Aus deutscher Sicht ist Hohfelds Schema der Rechte verwirrend und unterkomplex. Es ist verwirrend, weil es nicht zwischen Rechten und deontischen Modalitäten (Gebot, Verbot, Freistellung, Tun und Unterlassen) unterscheidet. Keinen Platz haben in diesem Schema Pflichten aus Verboten, denen kein unmittelbar Berechtigter gegenüber steht (z. B. Parkverbote im Straßenverkehr) Es ist aber auch deshalb verwirrend, weil die Kategorie der immunities Konstellationen zusammenfasst, die nicht zusammenpassen. Hohfelds Schema ist unterkomplex, weil es die Unterscheidung von subjektiven Rechten im Sinne von Ansprüchen und im Sinne von primären oder Stammrechten verfehlt und weil es nicht zwischen absoluten und relativen Rechten differenziert. Das ist keine Kritik an Hohfeld, denn heute sind wir 100 Jahre klüger. Was ich kritisiere, ist, dass das alte Hohfeld-Schema immer noch mitgeschleppt wird. Man sollte es – mindestens in Deutschland – schnellstens vergessen.
Nachtrag Juni 2012: Neu ist der (kurze) Artikel von Lawrence B. Solum in seinem »Legal Theory Lexicon«: Hohfeld. Er gibt keinen Anlass, meine Einschätzung zu ändern.

Nachtrag September 2024: Im Englischen gibt es anscheinend keine Entsprechung für den deutschen Begriff der Freistellung. Dort werden Erlaubnis und Freistellung als permission angesprochen. Daraus resultiert eine überflüssige Diskusssion über den deontischen Status des Begriffs permision (Andrew Halpin, Overcoming von Wright’s Anxiety, 2024, SSRN 4826949). Halpin will das Problem mit Hilfe von Hohfelds Schema der Rechte lösen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Zuletzt etwa Andreas Funke, Rechtstheorie, in: Julian Krüper (Hg.), Grundlagen des Rechts, 2011, S. 45-64/56 f.
2 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Nachdruck der 1. Aufl., 2006, 187 ff.
3 In Fn. 96.

Ähnliche Themen

Von der Rechtssoziologie zu den Kulturwissenschaften und zurück (II)

1. Der kulturwissenschaftliche Ansatz führt zu einer souveränen Geringschätzung all dessen, was die »Disziplinen« immerhin schon geleistet haben.
2. Keines der genannten Themen ist wirklich neu.
3. Kulturwissenschaften setzen zu sehr auf den homo symbolicus [1]Ernst Cassirer sprach vom animal symbolicum (An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture New Haven 1944, 26; dt. Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der … Continue reading und damit auf einen neuen homunculus.
4. Kulturwissenschaften gebärden sich empiriefeindlich.
5. Zur beherrschenden Methode wird die wissenssoziologische Rekonstruktion.
6. Kulturwissenschaften verfahren einseitig poststrukturalistisch.
Heute nur zu den ersten beiden Punkten.
Zu 1. – Geringschätzung der traditionellen Disziplinen: Die Kulturwissenschaften verstehen sich als Neubeginn. Damit können sie, was von den traditionellen Wissenschaften geleistet worden ist, bequem beiseiteschieben: Die in ihren Disziplingrenzen befangenen Juristen, Historiker, Germanisten usw. haben ohnehin nichts verstanden. Kulturwissenschaftler sind anscheinend nicht bereit, sich näher auf den Objektbereich, über den sie reden wollen, einzulassen. Ihre Ergebnisse sind oft trivial. Juristen sind sie schwer zu vermitteln.
Zu 2. Themenangebot: Für eine kulturwissenschaftlich inspirierte Rechtsforschung wird eine lange Reihe von Themen [2]Die Aufzählung – nicht dagegen die Bewertung – folgt weitgehend dem meines Wissens unveröffentlichten Förderungsantrag von Ulrich Haltern und Christoph Möllers für eine Tagung … Continue reading empfohlen:
a) Gedächtnis: Kultur bildet einen Komplex identitätssichernden Wissens, sozusagen das Gedächtnis einer sozialen Gruppe oder gar der Gesellschaft. So verstanden ist Kultur das Arrangement von Symbolen, das die Bilder und Zeichen, Geschichten und Charaktere, Szenarien und Metaphern bereit hält, mit deren Hilfe die Mitglieder einer Gruppe ihrem Leben und der Welt um sie herum einen Sinn geben. Im Anschluss an Aleida und Jan Assmann ist daher das »kulturelle Gedächtnis« zu einem Schlüsselbegriff der Kulturwissenschaften geworden. Das Gedächtnis nimmt in Mythen und Riten, Liedern und Festen, Bildern und Texten Gestalt an. Eine »gedächtnisorientierte« Wissenschaft sucht dann nach den Ursprungsmythen moderner Institutionen. Und sie wäre keine solche, entdeckte sie nicht überall, wonach sie sucht, etwa für das Verfassungsrecht einen revolutionären Ursprungmythos, der es dem Verfassungsrecht gestatten soll, »an die Partikularität und Körperlichkeit von Revolutionen anzuknüpfen«. Oder sie beschwört den demokratischen Gründungsmythos der sogenannten verfassungsgebenden Gewalt des Volkes (Giorgio Agamben, Homo sacer, 2002, 50 ff.). Die entdeckten Symbole sind oft nicht viel besser als der Kadaver des Ziegenbocks, der in der Essener Inszenierung der »Elektra« über dem Kopf Klytaimnestras pendelte. Es handelt sich regelmäßig um paradigmatische Überinterpretationen, die in der Soziologie keinen Platz haben. Das meiste, was die Kulturwissenschaft als kulturelles Gedächtnis behandelt, ist längst Thema der Mediensoziologie und von dort auch in die Rechtssoziologie übernommen worden. In der allgemeinen Soziologie spricht man vom kollektiven Gedächtnis. Es spielt u. a. bei der Erklärung der Evolution des Rechts eine Rolle.
b) Alltagskultur und Popkultur: Die Kulturwissenschaften halten sich weiter zugute, dass sie den Blick auf die Bedeutung des Alltagswissens und der Populärkultur gelenkt habe. Da war die Rechtssoziologie allerdings auch schon ohne ihre Hilfe angekommen.
c) Visualität: Auf die Alltags- und Popkultur ist die Rechtssoziologie mittelbar durch Film und Fernsehen aufmerksam geworden, die in ihrem Themenhunger nicht nur Kriminalthemen, sondern viel allgemeiner Recht und Gerichte zum Thema von Unterhaltungsstoffen gemacht haben. Auf diesem Umweg ist nicht nur die visuelle Kommunikation, sondern viel allgemeiner die Relevanz der Kommunikationsmedien für das Recht Thema der Rechtssoziologie geworden.
d) Zeitlichkeit des Rechts: Raum und Zeit geben der Welt im Erleben der Menschen Struktur. Diese Struktur ist primär natürlich, beim Raum durch die Gestalt der Erde und ihrer Landschaften, bei der Zeit durch den Wechsel von Jahreszeiten, Tag und Nacht. Aber die natürliche Struktur wird überlagert durch eine soziale. Die Landschaften sind durch Besiedlung und Bauten gestaltet. Die Zeit erhält durch Kalender, Uhren und Gewohnheiten und Pläne ihren Rhythmus. Zeit korrespondiert mit Kausalität, denn Kausalität wird als eine zeitliche Abfolge von Ereignissen gedacht. Die Wahrnehmung der Vergangenheit durch Rechtsgeschichte und historische Soziologie bringt Periodisierungen hervor, die auf das Verständnis des aktuellen Rechts zurückwirken. Für den Alltagsgebrauch sind es die sog. Narrationen, die das Recht zeitlich gliedern. Monoton wird beklagt, dass die Beziehung zwischen Recht und Zeit wissenschaftlich vernachlässigt worden sei. Z. B. von Rebecca R. French, Time in the Law, University of Colorado Law Review 72, 2001, 663-748/663: »Time is always necessary in the law, yet it is rarely examined.«.)) Tatsächlich ist die Literatur zum Thema gar nicht so spärlich. [3]David M. Engel, Law, Time, and Community, Law and Society Review 1987, 605-638; Carol J. Greenhouse, Just in Time: Temporality and the Cultural Legitimation of Law, Yale Law Journal 98, 1631-1651; … Continue reading
Überall im Recht ist die Zeit präsent, beim Alter von Personen, in Fristen und Terminen, bei der Verjährung, der Dauer einer Strafe usw. usw. Positivität des Rechts bedeutet Änderbarkeit und begründet damit auch ein Zeitphänomen. Das ist durch Niklas Luhmann zu einem klassischen Thema der Rechtssoziologie geworden. Das alles ist trivial. Aber die Kulturwissenschaften leben davon, Trivialitäten hochzustilisieren. Interessanter als die Zeitlichkeit des Rechts ist die Veränderung der Zeitperspektive der Gesellschaft. Zu beobachten sind gegenläufige Entwicklungen. Auf der einen Seite steht die Dehnung der für relevant angesehenen Zeit. Traditionelle Verjährungsvorstellungen sind zu einem erheblichen Teil obsolet geworden. 1949 verjährte die Verfolgung von Mord noch in 20 Jahren. Dann wurde diese Verjährungsfrist im Blick auf die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen auf 30 verlängert, und als 1979 auch diese Spanne ablief, ganz aufgehoben. Aber auch zivilrechtliche Wiedergutmachungsansprüche werden heute ohne Rücksicht auf Fristen zugelassen. Hier sind ganz deutlich die rechtlichen Konsequenzen einer Neubewertung von Kolonialismus und Sklaverei, Naziverbrechen und sozialistischen Diktaturen zu spüren. In der Sprache der Kulturwissenschaften: In den 1960er Jahren hat man von einer Kultur des Vergessens auf eine Kultur der Erinnerung umgestellt. Die Konsequenz ist eine »Vermessung der Geschichte durch die Gerichte« [4]Angelika Nußberger, Die Vermessung der Geschichte durch die Gerichte, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 7. 2010; ferner Lukas H. Meyer (Hg.), Justice in Time, Responding to Historical … Continue reading. Rückwirkende Moralisierung schlägt auf das Recht durch. Auf der anderen Seite Beschleunigung: Die Beschleunigung von Transport- und Kommunikationsvorgängen durch die moderne Technik und die (dadurch beförderte) Globalisierung der Wirtschaft mit dem daraus folgenden Konkurrenzdruck haben zu einer Art Nonstop-Gesellschaft geführt. Die rechtliche Regelung von Feiertagen und Ladenschluss, Arbeitszeiten und Fristen aller Art muss darauf reagieren.
e) Raum: Recht braucht einen Anwendungsbereich. Der ist, seitdem die Menschen sesshaft geworden sind, in erster Linie räumlich bestimmt. Traditionelle Rechtsvorstellungen sind daher mit Stadt und Staat verbunden. Eine alte Fragestellung der Rechtssoziologie befasst sich dem Phänomen lokaler Rechtskulturen, nämlich damit, dass Recht, das seinem Anspruch nach in einem bestimmten Territorium eigentlich einheitlich gelten sollte, in der Praxis ganz unterschiedliche Ausprägungen annimmt. Das geht bis hin zu den illegalen Siedlungen in Großstädten von Schwellen- und Entwicklungsländer, in denen sich relativ unabhängig vom staatlichen Recht ein Ordnungssystem entwickelt, für das die Bewohner Rechtsqualität in Anspruch nehmen. [5]Boaventura de Sousa Santos, The Law of the Oppressed: The Construction and Reproduction of Legality in Pasargada, Law and Society Review 12, 1977, 5-126.
Mit der Beförderungs- und der Kommunikationstechnik sind die Menschen mobiler geworden. Politischer Druck und wirtschaftlicher Sog bringen sie in Bewegung. Grenzen sind durchlässiger geworden. Raum und Mobilität haben dadurch als Rechtstatsachen Bedeutung gewonnen. Das ist offensichtlich, wenn es um die Globalisierung des Rechts oder um Immigration und Integration geht. Durch die neue Mobilität haben sich die Raumerfahrung auch das Selbstverständnis der Menschen und damit ihre Beziehung zum Recht verändert. Die über den Raum vermittelte Loyalität zu Stadt, Staat und Recht hat sich abgeschwächt. Das alles ist nicht neu und reicht sicher nicht aus, um, etwa analog zur Wirtschaftsgeographie, wie sie der Nobelpreisträger Paul Krugman, angeregt von Ansätzen deutscher Raumwirtschaftstheoretiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wiederentdeckt und fortentwickelt hat, einer Rechtsgeographie das Wort zu reden. Was dazu angeboten wird [6]Nicholas K. Blomley/David Delaney, Richard T. Ford, (Hg.), The Legal Geographies Reader, Law, Power, and Space, Oxford 2001; Kim Economides/Mark Blacksell/Charles Watkins, The Spatial Analysis of … Continue reading, lässt sich einfacher in den konventionellen Kategorien der Rechtssoziologie unterbringen.
Man kann das Raumthema aber auch kunsthistorisch und architekturästhetisch ausmalen. Alessandro Nova [7]Nova ist Direktor des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, das als Max-Planck-Institut firmiert. hat gerade einen Vortrag über »Recht und Piazza« angekündigt. Um sich unter diesem Thema etwas vorstellen zu können, muss man wohl erst den von Nova und Jöchner herausgegebenen Band »Platz und Territorium: urbane Struktur gestaltet politische Räume« (2010) zur Hand nehmen. Man kann sich auch das Programm einer Tagung im Frankfurter MPI für Europäische Rechtsgeschichte über »Recht, Bild und Raum« ansehen.
In der modernen Soziologie ist zwar viel von Räumen (space) die Rede. Meistens wird der Begriff aber nicht geographisch, sondern im übertragenen Sinne verwendet wie von Bourdieu, wenn er von juristischen Feldern [8]Pierre Bourdieus, La force du droit. Éléments pour une sociologie du champ juridique, Actes de la recherche en sciences sociales, 64, 1986, 3-19. spricht. Als Metapher trägt er wenig zur Sache, aber viel zur Komplikation der Darstellung bei. Von den Herausgebern des Legal Geographies Reader ( S. XII f.) erfahren wir:

»First, by reading the legal in terms of the spatial and the spatial in terms of the legal, our understandings of both, ›space‹ and ›law‹ may be changed. Old stabilities begin to reveal gaps and tensions. … Second, … the spaces of experience and imagination are profoundly molded by inherited legal notions such as ›rights‹, ›ownership‹ and ›sovereignty‹ … Social space is saturated with legal meanings, but these meanings are always multiple and usually open to a range of divergent interpretations. … Third … the legal and the spatial are, in significant ways, aspects of each other and as such, they are fundamental and irreducible aspects of a more holistically conceived social-material reality.«

Es ist sicher richtig, dass man bei Untersuchungen über die Wirklichkeit des Rechts auch über Immigration und Globalisierung hinaus vielfach an räumlichen Grenzen anknüpfen kann, etwa bei der Verteilung von Grundeigentum oder bei der Durchsetzung von Ordnung in öffentlichen Plätzen. Dass räumliche Grenzen, etwa die zwischen Slums und guten Wohnvierteln oder gar fenced communities auch Grenzen zwischen Arm und Reich, Stark und Schwach darstellen, ist bekannt. Für all das braucht man weder eine Rechtsgeographie noch die Kulturwissenschaften.
f) Technik: Das Verhältnis von Recht und Technik wird seit jeher unter der Überschrift »Recht und sozialer Wandel« thematisiert.
g) Gewalt fasziniert die Kulturwissenschaften im Zusammenhang mit dem Recht wegen ihrer Doppelrolle. Das Recht versteht sich als Friedensordnung. Historisch ist es aber nicht selten durch einen gewaltsamen Akt, durch Krieg oder Revolution, entstanden. Einerseits bekämpft das Recht die Gewalt, wenn sie als Selbsthilfe, gewöhnliche Kriminalität oder gar Terrorismus auftritt. Andererseits droht das Recht seinerseits mit Gewalt und wendet sie bei Bedarf auch an. Der Beitrag der Kulturwissenschaften besteht darin, dass sie diese Doppelrolle zur Paradoxie hochstilisiert.
h) Körperlichkeit: Wenn Kulturwissenschaftler der Rechtsforschung den Körper als Thema nahelegen, so meinen sie verschiedene Dinge. [9]Die Kulturwissenschaften teilen die postmoderne Neigung zu Wortspielereien und zur Ausschöpfung von Mehrdeutigkeiten. In diesem Zusammenhang etwa ist regelmäßig von embodiment die Rede. Offen … Continue reading Erstens geht es um die physische Gewalt. Die ist immer schon ein Thema von Psychologie und Soziologie gewesen. Zweitens geht es um die materielle (körperliche) Basis der Rechtskommunikation: »Das Recht wird als Zeichenkörper konstituiert.« [10]Ludger Schwarte/Christoph Wulf (Hg.), Körper und Recht. Anthropologische Dimensionen der Rechtsphilosophie, 2003, Einleitung, S. 7. Solche aufgeblasenen Formulierungen sind für die Kulturwissenschaften typisch. Drittens: Manchmal geht es aber auch nur um metaphorischen Sprachgebrauch, so wenn wir erfahren, in Hobbes’ Leviathan erscheine der Staat als Verkörperung des Rechts. Viertens geht es um die Einwirkung des Rechts auf den Körper. Immer wieder fasziniert die Geschichte der Leibes- und Lebensstrafen. Aber es ist wohl richtig, dass heute über der Technik und den sozialen Strukturen die Leiblichkeit vernachlässigt oder gar vergessen wird. Es scheint, als ob das moderne Recht direkte Zugriffe auf den menschlichen Körper möglichst ausspart. Folter und Todesstrafe sind indiskutabel, körperliche Züchtigung jeder Art verboten. Fünftens: Gegenüber dem Zugriff von Medizin und Neurowissenschaft auf den Körper ist das Recht weitgehend ratlos. Sechstens: Ein interessanter Aspekt von Körperlichkeit wird in der Soziologie als »tacit knowledge« (M. Polanyi) oder (von Bourdieu) als Habitus thematisiert. Es geht darum, dass es zur Erklärung von Handlungen nicht genügt, bloß das Bewusstsein der Handelnden zu analysieren, weil es von einer unbewussten Handlungsbereitschaft getragen wird, die zu situationsadäquaten Improvisationen befähigt. So können Jazzmusiker zusammen spielen, ohne bewusst bestimmten Regeln zu folgen, weil sie die Fähigkeit entwickelt haben, auf das zu hören, was die anderen spielen, und darauf passend zu reagieren. Autofahrer entwickeln einen »sens pratique«, der sie Gas geben, lenken und bremsen lässt, ohne dass sie überlegen oder sich auch nur bewusst machen, was sie tun. Wenn ich an der Tastatur sitze und schreibe, geben meine Finger nicht ganz selten Zeichenketten ein, die dem gemeinten Wort ähnlich sind. Was daraus für das Recht folgen könnte, ist mir noch unklar.
h) Textbegriff: Für Recht und Rechtssoziologie nicht ganz unwichtig ist eine Erweiterung des Textbegriffs, manche sprechen sogar von einem textual turn: Zunächst muss ein neuer Ausdruck her: Textualität. Textualität ist eine Eigenschaft der Kultur, die nicht von Texten im technischen Sinne des gesprochenen oder geschriebenen Wortes abhängt. Die ganze Welt wird zum Text. Damit ist der Text nicht mehr selbstgenügsam und verliert seine Funktion als Bedeutungsträger. Danach geht es an die Dekonstruktion. Dabei hilft der Begriff der Kontingenz: Kultur ist alles, was anders hätte ausfallen können, also ein Konstrukt. Jedes Konstrukt kann auf alternative Konstruktionsmöglichkeiten befragt werden; es kann dekonstruiert werden. Das gilt sowohl für den vorgefundenen Text wie für dessen Lektüre. Der Beobachter zweiten Grades findet auf beiden Seiten, auf der des Textes und der der Lektüre, eine Wahl, die so oder anders hätte getroffen werden können. Der Text müsste nicht so da stehen, wie er steht, und der Leser hätte ihn anders verstehen können als er tat. Einige Varianten mögen manifest erscheinen. Andere werden nur als Negationshorizont mitgeführt und könnten bei Anlass oder Bedarf belebt werden. Text und Lektüre demontieren sich auf diese Weise selbst. Doch es ist nicht nur der Leser, der so bei der Lektüre beobachtet wird. Textualität der Kultur soll vielmehr besagen, dass jeder Text in vielfältiger Weise mit anderen verflochten ist und darüber hinaus einem sich ständig verändernden Kontext angehört.
Die Rechtssoziologie hat auf dieses Themenangebot längst reagiert, unter anderem durch das Konzept des Legal Pluralism und durch die Rezeption qualitativer Methoden der Sozialforschung.
(Fortsetzung folgt.)

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Ernst Cassirer sprach vom animal symbolicum (An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture New Haven 1944, 26; dt. Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, 1990, 51.
2 Die Aufzählung – nicht dagegen die Bewertung – folgt weitgehend dem meines Wissens unveröffentlichten Förderungsantrag von Ulrich Haltern und Christoph Möllers für eine Tagung »Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft«, die 2006 im ZIF in Bielefeld stattgefunden hat. Das Themenangebot lässt sich auch an den vielen »turns« ablesen, die als Epigonen des Cultural Turn ausgerufen wurden; zu diesen Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29. 3.2010. Vgl. auch meinen Eintrag vom 15. 10. 2010 zum Temporal Turn.
3 David M. Engel, Law, Time, and Community, Law and Society Review 1987, 605-638; Carol J. Greenhouse, Just in Time: Temporality and the Cultural Legitimation of Law, Yale Law Journal 98, 1631-1651; Ali Khan, Temporality of Law, McGeorge Law Review 40, 2008; Bruce C. Peabody, Reversing Time’s Arrow: Law’s Reordering of Chronology, Causality, and History, Akron Law Review 40, 2007, 587-622; Charles F. Wilkinson, American Indians, Time and the Law, Yale University Press 1987.
4 Angelika Nußberger, Die Vermessung der Geschichte durch die Gerichte, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 7. 2010; ferner Lukas H. Meyer (Hg.), Justice in Time, Responding to Historical Injustice, 2004.
5 Boaventura de Sousa Santos, The Law of the Oppressed: The Construction and Reproduction of Legality in Pasargada, Law and Society Review 12, 1977, 5-126.
6 Nicholas K. Blomley/David Delaney, Richard T. Ford, (Hg.), The Legal Geographies Reader, Law, Power, and Space, Oxford 2001; Kim Economides/Mark Blacksell/Charles Watkins, The Spatial Analysis of Legal Systems: Towards a Geography of Law? , Journal of Law and Society 13, 1986, 161-181.
7 Nova ist Direktor des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, das als Max-Planck-Institut firmiert.
8 Pierre Bourdieus, La force du droit. Éléments pour une sociologie du champ juridique, Actes de la recherche en sciences sociales, 64, 1986, 3-19.
9 Die Kulturwissenschaften teilen die postmoderne Neigung zu Wortspielereien und zur Ausschöpfung von Mehrdeutigkeiten. In diesem Zusammenhang etwa ist regelmäßig von embodiment die Rede. Offen bleibt dabei, ob es sich um die Verkörperung von Sinn in Bildern oder anderen Zeichen handelt oder um den Niederschlag von irgendetwas im menschlichen Körper.
10 Ludger Schwarte/Christoph Wulf (Hg.), Körper und Recht. Anthropologische Dimensionen der Rechtsphilosophie, 2003, Einleitung, S. 7.

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Neu: SOZBLOG– Blog der Deutschen Gesellschaft für Soziologie

Seit Monatsbeginn hat nun auch die DGS ihr Blog. Willkommen in der Blogosphäre! Ein Buchstabe im Namen, gut drei Jahre und 180 Artikel Vorsprung sowie das Geschlecht machen den Unterschied zu RSOZBLOG. Bei der DGS ist das Ding männlich. Da hätte ich doch etwas mehr Gender-Mainstreaming erwartet.
Es gibt natürlich noch mehr Unterschiede zu RSOZBLOG. Vom Themenspektrum einmal abgesehen der wichtigste, dass SOZBLOG als sequentielles Gemeinschaftsblog angekündigt ist, das heißt, dass zwar nur ein Autor zur Zeit tätig ist, aber nach zwei Monaten abgelöst wird. Als Einzelkämpfer steht man da schon unter erheblichem (selbstproduzierten) Druck, jede Woche oder jedenfalls alle vierzehn Tage zu posten; und das Ergebnis mag oft kümmerlich sein. Aber es ist ja niemand gezwungen, meine Ergüsse zu lesen.
Ich habe schon oft daran gedacht, RSOZBLOG zu einem Gemeinschaftsblog umzugestalten. Aber bisher habe ich es nicht gewagt, jemanden einzuladen, und es hat sich auch niemand angeboten. Ein Wagnis schienen mir Einladungen nicht nur deshalb, weil ich mir damit einen Korb einhandeln könnte, sondern weil ich damit auch das Blog aus meiner etwas eigenwilligen Hand geben müsste.
Auf SOZBLOG schreibt im September und Oktober der Industrie- und Techniksoziologie G. Günter Voß von der TU Chemnitz. Voß hat Erfahrung mit einem eigenen Microblog auf Twitter. In seinem ersten Posting auf SOZBLOG holt er erst einmal nach, was ich hier sukzessive »In eigener Sache« notiert habe. Ich bin gespannt auf die nächsten Einträge und wünsche viel Erfolg. Als Vorschusslorbeer nehme ich SOZBLOG in meine Blogroll auf.
Zunächst aber habe ich mir natürlich die Webseite von Voß angesehen und daraus einigen Kollateralnutzen gezogen. Seine »subjektorientierte Soziologie« war mir bisher entgangen. Verwiesen wird dazu auf ein recht informatives Internetportal »Arbeit und Leben«. Wenn man dort sucht, findet man durchaus implizite Verbindungen zu rechtssoziologischen Themen. Was unter dem Stichwort »Arbeitskraftunternehmer« abgehandelt wird, betrifft teilweise die gleichen Entwicklungen, die man in Verwaltung und Justiz als New Public Management und Ökonomisierung [1]Meine letzten Arbeiten zum Thema Ökonomisierung der Justiz und richterliche Unabhängigkeit (2009) sowie Reform der Justiz durch Reform der Justizverwaltung (2010)., behandelt. Bei »Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit« geht es auch »um die rechtliche Entgrenzung von Arbeit und Beschäftigung«, die freilich ein bißchen einseitig mit dem Stichwort Deregulierung verkoppelt wird. Besonders interessant finde ich den Begriff des »arbeitenden Kunden«. Dabei geht es um die besonders durch die EDV erweiterten Formen der Selbstbedienung. Es liegt auf der Hand, dass hier die klassischen Vertragsmodelle überprüft werden müssen. Die Fortsetzung in den Dienstleistungsbereich bietet das Thema »Interaktive Arbeit«. Auch hier sind über die arbeitssoziologischen Aspekte hinaus rechtssoziologische Fragen naheliegend. Auf welchen Umwegen auch immer: Bloggen lohnt sich.

Anmerkungen

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Von der Rechtssoziologie zu den Kulturwissenschaften und zurück (I)

Der Begriff der Kultur ist noch unschärfer als derjenige des Rechts. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte der Kulturbegriff als normativer Kampfbegriff etwa gegen die französische »Zivilisation« dienen. Ein halbes Jahrhundert später waren »Kulturindustrie« (Horkheimer/Adorno) oder »affirmative Kultur« (Marcuse) Gegenstand kritischer Analyse. Heute ist der Kulturbegriff durch inflationären und vieldeutigen Gebrauch verwässert. Das Spektrum reicht von »Multikulturalität« und »interkultureller Vermittlung« über »Alternativ-, Pop-, Medien-, Alltags-« oder »Unternehmenskultur« bis zur »Netz-« und »Industriekultur«. Der Schriftsteller Eckhard Henscheid hat ironisch 756 Kulturen identifiziert. [1]Eckhard Henscheid, Alle 756 Kulturen: eine Bilanz, 2001. Als soziologischer Klassiker gilt A. L. Kroeber/Clyde Kluckhohn, Culture, A Critical Review of Concepts and Definitions, Cambridge Mass. 1952. … Continue reading Doch ähnlich wie beim Recht muss man gar nicht mit einer Definition beginnen. Meistens weiß man auch so, was gemeint ist.
Das Recht ist Teil der Gesellschaft und damit in deren Kultur eingebettet. Das ist eigentlich eine Trivialität, und ebenso selbstverständlich sollte es sein, dass das Recht seinerseits einen Teil dieser Kultur bildet. Aber Trivialitäten sind langweilig, und gelegentlich werden sie vergessen oder verdrängt, so auch, wenn man sich zu intensiv nur mit dem einen oder dem anderen beschäftigt, die wechselseitige Bedingtheit von Kultur und Recht. Dann wird früher oder später eine Wende ausgerufen, nach dem linguistic turn und dem pictorial turn nun auch der cultural turn. Um 1980 war noch alles Struktur und Funktion. Heute ist alles Kultur. Nicht wenige Juristen und Rechtssoziologen sind mit einem geradezu heroischen Willen zur Interdisziplinarität bemüht, die Deutungshoheit über Begriffe ihres Faches an die Kulturwissenschaften abzutreten.
Eine erste kulturalistische Wende in den Human- und Sozialwissenschaften gab es schon am Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie ist mit den Namen wie Sigmund Freud oder Aby Warburg verknüpft. Ähnlich wie die Rechtssoziologie gab und gibt es auch eine Kultursoziologie. Auch sie beruft sich auf große Namen wie Max Weber oder Georg Simmel. In die Ahnenreihe gehört auch der als Rechtssoziologie bekannte Theodor Geiger. Von Geiger stammt der in diesem Zusammenhang wichtige Begriff der repräsentativen Kultur. Sie ist das Gegenstück zur anonymen Volkskultur, deren Bestände sich – vergleichbar der Sprache oder dem Gewohnheitsrecht – formlos vererben und sich dabei laufend verändern. Dadurch unterscheidet sie sich von der (von Geiger so genannten) substanziellen Kultur, die sich aus individualisierbaren Werken zusammensetzt und in ihrer Summe die repräsentative Kultur ausmacht.

»Diese substanzielle Fassung des Kulturbegriffs entspricht unserem Kulturstil selbst. Sie ist Ausdruck dafür, dass unsere Zeit im Zeichen einer Repräsentativ-Kultur steht. Damit ist gemeint, dass aufgespeicherte Kulturbestände, deren jegliches Stück einem – bekannten oder unbekannten—Urheber zugeschrieben wird, ›die Kultur der Epoche‹ repräsentieren.« [2]Theodor Geiger, Aufgaben und Stellung der Intelligenz in der Gesellschaft, 1949, 2.

Repräsentative Kultur ist Hochkultur. Sie stellt die hegemonialen Muster für die Deutung der sozialen Wirklichkeit bereit.

»Repräsentative Kultur … entwickelt sich in allen arbeitsteiligen Gesellschaften, sobald eine spezifische Gruppe oder Schicht entsteht, die sich auf Erhalt und Tradierung der immateriellen Kultur, der ursprungssagen, der Mythen, der Religion, der Riten und des kollektiven Gedächtnisses, spezialisiert. Sie entwickelt den Deutungsrahmen des Alltagshandelns fort, baut neue Ereignisse (Naturkatastrophen, Kriege) in den alten Rahmen ein, legitimiert oder delegitimiert politische Herrschaft und kann auf Anerkennung ihrer Sinndeutungen rechnen. Repräsentative Kultur entwickelt also notwendig einen Anspruch auf Geltung, der über die unmittelbare Trägerschicht hinausreicht.« [3]Clemens Albrecht, Wie Kultur repräsentativ wird: Die Politik der Cultural Studies, in: Udo Göttlich u. a. (Hg.), Populäre Kultur als repräsentative Kultur, Die Herausforderung der Cultural … Continue reading

Protagonisten sind Geisteswissenschaftler, Künstler, Literaten und Journalisten, Intellektuelle und Kulturschaffende, wie man sie anerkennend oder abschätzig nennen mag. Die Trägerschicht dieser Kultur ist aber viel breiter. Man hat sie oft mit dem Bürgertum identifiziert. Bürgerliche Kultur, wie sich sie in Bildung und Habitus äußert, wurde damit – als Kultur der herrschenden Klassen – neben der Stellung der Menschen im Produktionsprozess zu einem Merkmal der sozialen Schichtung.
Die neue Wende zur Kultur ging in den 60er Jahren von amerikanischen und britischen Anthropologen aus. Sie wurde angetrieben von der politischen Forderung, sich nicht länger auf das Studium der Objektivierungen menschlichen »Geistes« in Geschichte, Literatur und Künsten zu kaprizieren, sondern die pluralen Ausdrucksformen von a priori gleichberechtigten Kulturen anzuerkennen. Mit Kritik an der »Hochkultur« verband sich die Hoffnung auf ein subversives Potential der »Subkulturen«. Anthropologie und Ethnologie, die sich bislang auf »fremde« Kulturen beschränkt hatten, beobachteten nun die eigene Gesellschaft und erschlossen sich so mit den cultural studies neue Gegenstandsbereiche. Das geschah mit dem politischen Anspruch, Felder sozialer Ungleichheit zu entdecken, die überkommene Unterscheidung zwischen Hochkultur und Popularkultur aufzubrechen und den Kampf um Bedeutungen zu analysieren.
Auch in Europa wurde den 1990er Jahren »Kultur« zum Leitbegriff für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Hier fehlt ihm allerdings der starke kritisch-politische Angriffsgeist. Die Geistes- und Sozialwissenschaften stehen unter einem erheblichen Legitimationsdruck. Mit einer Neuorientierung als Kulturwissenschaften hoffen sie, sich die Überlebensfähigkeit zu sichern. Daraus hat sich eine merkwürdige Eigendynamik ergeben. Während die cultural studies mit einem kritischen Impetus gestartet waren, geht es heute um Studiengangsplanung und Berufsorientierung akademischer Abschlüsse im Sinne der ökonomischen Verwertbarkeit kultureller Kenntnisse oder gar um die Möglichkeiten der Wirtschaftsförderung durch Kultur. Vor allem aber ermöglicht die Hinwendung zu »Kultur« eine beinahe beliebige Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Geistes- und Sozialwissenschaften. Als Kulturwissenschaften fühlen sie sich für alles zuständig, auch für das Recht. Sozusagen als Gegenleistung gibt es ein dreifaches Versprechen:
1. Aus dem Abbau der Disziplingrenzen soll eine Perspektiven-erweiterung resultieren.
2. Es sollen neue Themenfelder eröffnet werden.
3. Eine neue Methode soll die »kulturellen Differenzerfahrungen« der Moderne erschließen.
Die Versprechen klingen gut. Aber nach zwanzig Jahren Kulturwissenschaft ist die Bilanz für die Rechtssoziologie gemischt.
Als Disziplin mit institutioneller Basis und Organisation gab es die Rechtssoziologie eigentlich nie. Sie wurde und wird in der Hauptsache von Juristen und in der Nebensache von Soziologen und vielen anderen betrieben. Rechtssoziologie war immer schon in dem Sinne interdisziplinär, dass in ihrem Namen Juristen ihre Disziplingrenzen überschritten haben. Viel zu öffnen gibt es also gar nicht. Immer schon waren zur Rechtssoziologie alle eingeladen, die sich für das Recht interessieren. Als Kulturwissenschaft verkleidet haben nun mehr oder weniger alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen, etwa Literaturwissenschaft, Kunstwissenschaft, Medienwissenschaft und andere mehr das Recht entdeckt. Dagegen ist nichts einzuwenden. Problematisch sind aber Bestrebungen, auf die Selbstbenennung des Faches als Rechtssoziologie zu verzichten und nach dem amerikanischen Vorbild von »Law & Society« nur noch von (Forschungen über) »Recht und Gesellschaft« zu sprechen. Die Öffnung der Rechtssoziologie gegenüber der Kulturwissenschaft führt damit zu ihrer Selbstauflösung. Auch das wäre nicht weiter schlimm, wenn dafür etwas gewonnen würde. Doch im Gegenteil, gewonnen wird wenig, aber es geht viel verloren. (Fortsetzung folgt.)

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Eckhard Henscheid, Alle 756 Kulturen: eine Bilanz, 2001. Als soziologischer Klassiker gilt A. L. Kroeber/Clyde Kluckhohn, Culture, A Critical Review of Concepts and Definitions, Cambridge Mass. 1952. Kroeber und Kluckhohn kamen auf 164 unterscheidbare Verwendungen des Kulturbegriffs.
2 Theodor Geiger, Aufgaben und Stellung der Intelligenz in der Gesellschaft, 1949, 2.
3 Clemens Albrecht, Wie Kultur repräsentativ wird: Die Politik der Cultural Studies, in: Udo Göttlich u. a. (Hg.), Populäre Kultur als repräsentative Kultur, Die Herausforderung der Cultural Studies, 2002, 16–32, S. 21.

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Wikirecht

In einem Artikel im New Republic vom 25. 5. 2010 schreibt Daniel Lansberg-Rodriguez [1]Er bloggt auf ConstitutionsMaking.org. über »Wiki-Constitutionalism«. Damit meint er das in Südamerika verbreitete Phänomen, dass die Regierungen die Verfassungen bei Bedarf umschreiben.
»This is a phenomenon I call ›Wiki-constitutionalism.‹ In Latin America, constitutions are changed with great frequency and unusual ease (though not through any open-source collaborative process), as if they were Wikipedia pages. The evidence is staggering: The Dominican Republic has had 32 separate constitutions since its independence in 1821. Venezuela follows close behind with 26, Haiti has had 24, Ecuador 20, and Bolivia recently passed its seventeenth. In fact, over half of the 21 Latin American nations have had at least ten constitutions while, in the rest of the world, only Thailand (17), France (16), Greece (13), and Poland (10) have reached double digits. And the process occurs under governments of every political stripe—not just socialist ones like those of Chavez and Bolivia’s Evo Morales. Gruff conservatives like Colombia’s Alvaro Uribe and friendly, doting moderates like the Dominican Republic’s Leonel Fernandez have joined the party too, attempting to tear up and revise their constitutionally-mandated term limits. (It’s important to distinguish between amending and rewriting. Constitutional amendments are common all over the world, but Latin America’s rewrite-mania is truly eccentric: Venezuela, for instance, has adopted 26 new constitutions, but amended an existing one only thrice.)«
Die Wiki-Metapher finde ich gut, und ich will sie gleich übernehmen. Allerdings macht Lansberg-Rodriguez von ihr einen schiefen Gebrauch. Der Witz eines Wiki besteht ja doch darin, dass jedermann an einem Text mitschreiben kann, nicht nur autoritäre Regierungen und die von ihnen gesteuerten Parlamente. [2]Unter dem Titel »WikiRecht das freie Rechtslexikon« gibt es seit November 2008 eine Webseite, die es noch nicht zu nennenswerten Inhalten gebracht hat. Als Träger firmiert eine DeOnA Online … Continue reading Eine passendere Verwendung liegt nahe. In dem Eintrag vom 15. April 2011 hatte ich die These von Thomas Vesting referiert, die Computerkultur werde dazu zwingen, das Recht ständig neu zu überschreiben. Ist es das, was Vesting gemeint hat, ein Recht, an dem jedermann mitschreiben kann? Das hat er zwar nicht ausdrücklich gesagt. Aber sonst wäre der Neuigkeitswert seiner These nur begrenzt, denn dass das positive Recht geändert werden kann und laufend geändert wird, hat, wer es noch nicht wusste, spätestens von Luhmann gelernt. Die Frage ist also, was der Computer insoweit im Vergleich zu Schrift und Buchdruck ändert. Das wäre doch ein schöner Traum, der Traum vom Wikirecht. Den Traum von der »Offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten« [3]Peter Häberle, JZ 1975, 297-305. gab es ja schon einmal. [4]Diese Formulierung wird Häberles These nicht gerecht. Sie lautete: »Wer die Norm ›lebt‹, interpretiert sie auch (mit). Das ist eine höchst soziologische These, und Häberle verkennt nicht, … Continue reading Und auch der Schritt zur »offenen Gesellschaft der Rechtsinterpreten« wurde schon angedacht. [5]Von Hans Joachim Mengel in: Lexikon der Politikwissenschaft, 4. Aufl. 2010, S. 451. Ich stelle mir das Ganze so vor: Die Vorhut bilden die Blogger mit ihren Blawgs. In der zweiten Linie werden die Kommentare zu den wichtigeren Gesetzen als Wikis organisiert. Und am Ende wird dann das Bundesgesetzblatt von den Bürgern geschrieben. Eher ein Albtraum als ein Traum.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Er bloggt auf ConstitutionsMaking.org.
2 Unter dem Titel »WikiRecht das freie Rechtslexikon« gibt es seit November 2008 eine Webseite, die es noch nicht zu nennenswerten Inhalten gebracht hat. Als Träger firmiert eine DeOnA Online Akademie für Recht und Wirtschaft.
3 Peter Häberle, JZ 1975, 297-305.
4 Diese Formulierung wird Häberles These nicht gerecht. Sie lautete: »Wer die Norm ›lebt‹, interpretiert sie auch (mit). Das ist eine höchst soziologische These, und Häberle verkennt nicht, dass er damit einen anderen als den üblichen Interpretationsbegriff verwendet.
5 Von Hans Joachim Mengel in: Lexikon der Politikwissenschaft, 4. Aufl. 2010, S. 451.

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Die Dominanz des Verfügbaren

Der Umbruch der Medienlandschaft hat handfeste Folgen. Die Digitalisierung der juristischen Literatur, insbesondere der juristischen Zeitschriften setzte erst mit der Jahrtausendwende in voller Breite ein. Es wurden jedoch nur wenige Jahrgänge rückwärts digitalisiert. In aller Regel nehmen die Anbieter nur neue Texte in ihre Datenbanken auf. Das hat zur Konsequenz, dass die älteren Texte kaum noch zur Hand genommen und gelesen werden. Das ist einerseits ein Segen, denn ich stehe nicht an zu behaupten, dass über 90 % aller juristischen Texte – meine eigenen nicht ausgenommen – nach wenigen Jahren zur Makulatur geworden sind. Das ist andererseits ein Verlust, denn in den restlichen 10 % steckt vielleicht Substanz.
Die Tatsache, dass im Zuge der Digitalisierung ältere Texte in Vergessenheit geraten, hat eine Kehrseite. Einige machen daraus ihr Geschäft, indem sie in der Vergangenheit wühlen, alte Texte editieren und Ideengeschichten schreiben. Andere benutzen die alten Bücher in erster Linie als Steinbruch, aus dem sich brauchbare Spolien oder gar ganze Säulen gewinnen lassen. Die Älteren haben oft noch einen gefüllten Bücherschrank, in den sie gelegentlich hineingreifen, und sei es nur aus Nostalgie. Sie (damit meine ich mich) sind dann oft überrascht, wie frisch und neu manche alten Texte wirken, oder umgekehrt, wie altmodisch viele neue Gedanken eigentlich sind. Vielleicht werde ich in Zukunft häufiger Fundstücke aus der Vergangenheit vorzeigen. Heute will ich nur noch mitteilen, welches Buch gerade der Auslöser für diesen Eintrag war, nämlich das Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 2 »Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft« von 1972. Dagegen wirkt manche moderne Einführung in die Rechtstheorie oder die Grundlagen der Rechtswissenschaft ziemlich blass.

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Überflüssige Literatur

Gelegentlich liest man Zahlen über den gewaltigen Ausstoß an wissenschaftlicher Literatur. Die Naturwissenschaften übertreffen insoweit wohl sogar noch die Sozial- und Geisteswissenschaften. Keiner kann alles thematisch Einschlägige lesen. Man kann das Problem der überflüssigen Literatur von einem distanzierten Beobachterstandpunkt aus ansehen nach dem Motto: Die Evolution wird es schon richten. Aber dem individuellen Wissenschaftler ist damit nicht geholfen. Viele Doktoranden verbringen zwei wertvolle Jahre ihres Lebens damit, überflüssige Literatur zu lesen und auszusondern. Im Übrigen entwickelt jeder seine eigene Technik zum Umgang mit dem Überfluss. Gelegentlich bewundere ich wissenschaftliche Arbeiten, die explizit nur wenige Quellen heranziehen als souverän und elegant. Vermutlich kenne ich dann selbst die einschlägige Literatur nicht gut genug, um zu erkennen, wem alles der Autor noch hätte Kredit geben können.

Bewährt ist die Methode, nur zu lesen und auszuwerten, was andere bereits mehr oder weniger zustimmend oder jedenfalls als diskussionswürdig zitiert haben. Aber da landet man nicht ganz selten in geschlossenen Zitiernetzwerken. Soweit vorhanden, helfen Buchbesprechungen. Dabei zeigt sich jedoch eine merkwürdige Asymmetrie. Es wird immer noch viel zu viel Literatur positiv als wertvoll erwähnt. Selten oder nie erklärt jemand ein Stück schlicht für überflüssig. Dafür gibt es natürlich Gründe. Der erste liegt in dem prinzipiellen Wohlwollen, mit dem nicht nur jede Alltagskommunikation beginnt, sondern das auch Grundlage aller hermeneutischen Anstrengungen ist. Zweitens gehört auch das Besprechungswesen weitgehend zur Netzwirkerei. Drittens fehlt aber auch ein selbstverständlicher Maßstab für das Überflüssige unter dem thematisch an sich Relevanten. Eine Begründung für das Überflüssigkeitsurteil ist ähnlich schwierig wie die Begründung für die offensichtliche Unbegründetheit eines Rechtsmittels nach § 313 Abs. 2 Satz 1 StPO.

Für den Produzenten selbst ist sein Literaturstück nie überflüssig, und sei es, dass er, wie regelmäßig der Verfasser dieser Zeilen, nur schreibt, um sich seiner eigenen Gedanken zu versichern. Vieles wird im Laufe der Zeit überflüssig. Da gilt wohl längst, dass Texte, die älter als zehn Jahre sind, nur noch gelesen werden, wenn sie Bestandteil der Zitatenschatzes geworden sind (und damit wären wir wieder im Netz). Mir geht es aber um die Literatur, die von vornherein überflüssig ist, weil sie mehr oder weniger Bekanntes nur neu formuliert, die man aber dennoch sichten muss, sei es wegen der Prominenz der Autoren, sei es wegen der deutlichen Bezüge der angebotenen Stichworte zu der eigenen Thematik.

Eine große Teilmenge des Genres überflüssige Literatur besteht aus Sammelbänden, wie sie nach Tagungen entstehen oder als Festschriften produziert werden. Wohl unvermeidlich enthält jeder Sammelband Überflüssiges. [1]Kritisch zur Sammelbandunkultur hat sich gerade Gerd Schwerhoff in der heimlichen Juristenzeitung geäußert. (Entschleunigung der Forschung – aber wie?, FAZ Nr. 184 vom 10. 8. 2011 S. N5.) Der … Continue reading Aber nicht selten kann man den ganzen Band vergessen. Ich habe mich gerade wieder über zwei solcher Exemplare geärgert, denn die Mühe, sie zu beschaffen und sie dann mindestens durchzublättern, ist (jedenfalls für mich) nicht unerheblich. Und deshalb fange ich einfach damit an zu benennen, was ich überflüssig gefunden habe, nämlich:
Ralf Diedrich/Ullrich Heilemann (Hg.), Ökonomisierung der Wissensgesellschaft, Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft?, Berlin 2011
Marc L. M. Hertogh (Hg.), Living Law, Reconsidering Eugen Ehrlich, Oxford 2009; vgl. dazu die zurückhaltende Rezension von Dan Steward. Law & Society Review 45, 2001, 225-227).
Guido Holzhauser/Carolin Suter (Hg.), Interdisziplinäre Aspekte von Compliance, Baden-Baden 2011.

Nachträge:
Schöner Titel, nichts dahinter: Heinz-Dieter Assmann/Frank Baasner/Jürgen Wertheimer (Hg.), Normen, Standards, Werte – was die Welt zusammenhält, Baden-Baden 2012.
Unergiebig: Ralf Diedrich/Ullrich Heilemann (Hg.), Ökonomisierung der Wissensgesellschaft, Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft?, Berlin 2011.

Christoph Möllers, Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, 2015. Klug und belesen. Viel rezensiert und zitiert. Und trotzdem: Überflüssig, es sei denn, man suchte nach einem Beleg für die Möglichkeit des Schreibens.

Dieter Grimm/Christoph König (Hg.), Lektüre und Geltung. Zur Verstehenspraxis in der Rechtswissenschaft und in der Literaturwissenschaft, 2020. Die Texte sind in drei Kolloquien 2012, 2014 und 2016 entstanden und entsprechend abgehangen. Immerhin erfahren wir (S. 7) »Rechtswissenschaft und Literaturwissenschaft sind Interpretationswissenschaften.« Ich habe nur einen interessanten Beitrag gefunden, der aber eigentlich gar nicht unter das Rahmenthema des Bandes passt: Pascale Cancik, Wenn der Gesetzgeber schweigt … — »Interpretation« durch die Verwaltung(en). Das Beispiel der Lärmaktionsplanung, in: Dieter Grimm/Christoph König (Hg.), S. 172-187. Darin zeigt Cancik auf, dass an der Implementation von Planungsrecht eine Vielzahl von Akteuren beteiligt ist.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Kritisch zur Sammelbandunkultur hat sich gerade Gerd Schwerhoff in der heimlichen Juristenzeitung geäußert. (Entschleunigung der Forschung – aber wie?, FAZ Nr. 184 vom 10. 8. 2011 S. N5.) Der weiß auch kein Rezept außer dem Vorschlag, Tagungsbeiträge zunächst grundsätzlich im Open Access Verfahren im Netz zu veröffentlichen.

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