Rechtliche Identität

Zu den Berichten, die ich in meinen Einträgen zur Berichtsforschung im Blick hatte, gehört der Bericht der UNO Commission on Legal Empowerment of the Poor »Making the Law Work for Everyone«. Es handelt sich um eine Kommission unter dem Dach des United Nations Development Programme (UNDP) in New York. Vorsitzende waren die ehemalige amerikanische Außenministerin Madeleine Albright und der peruanische Ökonom Hernando de Soto. 2008 hat die Kommission einen zweibändigen Bericht abgeliefert:
Der erste Band mit seinen 96 Seiten ist mit vielen Bildern und buntem Design wie eine Public-Relations-Broschüre aufgemacht. Man kann ihn wie ein Management Summary lesen. Als solches bietet er klare Kernaussagen und darüber hinaus ganz interessante Hinweise und Inhalte. Die dramatische Basisaussage: Vier Milliarden Menschen haben keinen Zugang zum Recht. Der zweite Teil mit seinen 353 Seiten ist nüchterner im Stil eines wissenschaftlichen Gutachtens gehalten. Es wird viel Literatur ausgewertet, und es werden illustrative Einzelbeispiele herangezogen. Aber es gibt keine systematische Datenerhebung.
Ein gute Übersetzung für Legal Empowerment ist mir bisher nicht eingefallen. »Zugang zum Recht« trifft die Sache nicht ganz. Blankenburgs »Mobilisierung des Rechts« [1]Erhard Blankenburg, Mobilisierung des Rechts, Eine Einführung in die Rechtssoziologie, Berlin 1995. gefällt mir auch nicht 100%ig, weil sie auf die Aktivierung der Betroffenen abstellt. Das Problem beginnt nicht erst, wenn die Menschen nach Institutionen suchen, die ihnen helfen könnten, und sie sich bei diesen mit ihrem Anliegen durchsetzen müssen. Bei sehr vielen Menschen beginnt das Problem noch früher damit, dass sie keine legale Existenz haben, keinen amtlich registrierten Namen und folglich keinen Ausweis. Es fehlt damit die rechtliche Identität, an die der rechtliche Schutz von Eigentum und Vertragsrechten anknüpfen kann. Es fehlt die Identität vor Banken und Behörden. Mit Interesse hatte ich deshalb schon vor Jahr und Tag einen Zeitungsartikel von Christoph Hein mit der Überschrift »Eine Nummer für jeden Inder« gelesen. [2]FamS vom 14. 2. 2010 (S. 39). Bisher gibt es in Indien keinen Pass oder Personalausweis für jedermann, sondern nur zweckgebundene Einzelausweise. Hein: »Wer Steuern zahlt, bekommt eine PAN, die Nummer für ein Steuerkonto. Wer älter als 18 Jahre ist, wird im Wahlregister vermerkt. Die Armen erhalten Karten für Nahrungsrationen. Die im Ausland lebenden Inder haben den Status des NRI – des Non-Resident Indian.« Man kann sich leicht vorstellen, wie sehr dieser Zustand die Verwaltung des riesigen Landes erschwert. Deshalb hat die indische Regierung den Milliardär und Gründer von Infosys, Nandan Nilekani, beauftragt hat, 1,2 Millionen Inder mit einem Personalausweis zu versehen.

Nandan M. Nilekani nach einem Foto von E.T. Studhalter für das World Economic Forum 2007

(Nandan M. Nilekani nach einem Foto von E.T. Studhalter für das World Economic Forum 2007)

Nilekani ist nunmehr Leiter der Unique Identification Authority of India im Range eines Ministers. Nach dem Bericht von Christoph Hein zu urteilen, hat Nilekani die Aufgabe, hier Abhilfe zu schaffen, aber nicht übernommen, um der Verwaltung beizuspringen, sondern er sieht sie als eine soziale Aufgabe an.
Wie belastend ihr Zustand für die Ausweislosen ist, steht nicht ganz außer Frage. Die Doing-Business-Reports der Weltbank und ähnliche Berichte gehen einhellig davon aus, dass die Klarheit der Zuordnung von Eigentumsrechten, die Sicherheit des Eigentums und die Durchsetzbarkeit von Verträgen der Wirtschaft helfen. Autoren aus dem Deutschen Institut für Entwicklungspolitik weisen jedoch darauf hin, dass diese Annahme für den Informellen Sektor, der in den armen Entwicklungsländern für die Wirtschaft erhebliche Bedeutung hat, nicht zutreffen müsse. [3]Tilman Altenburg, Christan von Drachenfels, (2006): The ‘New Minimalist Approach’ to Private- Sector Development: A Critical Assessment. In: Development Policy Review, 24, 2006, 387–411; dies. … Continue reading Sie berufen sich auf Studien, nach denen die Registrierung von Grundeigentum und Unternehmen für den informellen Sektor keine Bedeutung habe.
Die Eintragung von Grundeigentum kann sogar kontraproduktiv wirken, weil die Bodennutzung in manchen Regionen in einer Weise informell geregelt ist, die auch den Schwächsten noch eine gewisse Nutzungsmöglichkeit bietet. Die Registrierung von Grundeigentum führe dagegen zur Exklusion und zur Spekulation. Dem lässt sich wieder der Bericht der UNO Commission on Legal Empowerment of the Poor entgegenhalten. Darin wird an einem Beispiel aus Kenya gezeigt, wie wichtig die Registrierung von Grundeigentum für den Zugang zum Recht sei. Ohne registriertes Eigentum hätten die Bewohner keine Chance zur Gegenwehr, wenn Behörden oder Unternehmen ganze Siedlungen abreißen, um neu und modern zu bauen.
Im Ergebnis wird man wohl sagen müssen: Sobald die Modernisierung eines Landes einmal eingesetzt und die alten sozialen Strukturen zerstört hat, geht es nicht mehr ohne die rechtliche Identität.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Erhard Blankenburg, Mobilisierung des Rechts, Eine Einführung in die Rechtssoziologie, Berlin 1995.
2 FamS vom 14. 2. 2010 (S. 39).
3 Tilman Altenburg, Christan von Drachenfels, (2006): The ‘New Minimalist Approach’ to Private- Sector Development: A Critical Assessment. In: Development Policy Review, 24, 2006, 387–411; dies. und Matthias Krause, Seven Theses on Doing Business. Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, 2008; Miguel Jaramillo, Is there Demand for Formality among Informal Firms? Evidence from microfirms in downtown Lima, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik 2009.

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Kanon oder Kanonen? Zur Vermehrung der »anerkannten Auslegungsmethoden«

Traditionell unterscheidet die juristische Methodenlehre vier Standardmethoden, die zusammen den Methodenkanon bilden, die grammatische oder Wortauslegung, die historische, die systematische und die teleologische Auslegung. Diese Vierzahl geht bekanntlich schon auf Savigny zurück, auch wenn sich Benennung und Bedeutung seither nicht unerheblich verändert haben. Mir ist nun aufgefallen, dass man jetzt häufiger statt von dem Kanon von den Kanones der Auslegung spricht. [1]Heiko Sauer, Juristische Methodenlehre, in: Julian Krüper (Hg.), Grundlagen des Rechts, Baden-Baden 2011, S. 168-186; so aber auch früher schon Peter Raisch, Vom Nutzen der überkommenen … Continue reading. Kanon ist bekanntlich ein griechisches Wort und bedeutet Rohr und im übertragenen Sinne Richtstab. Canones, der latinisierte Plural, bezeichnet Konzilsbeschlüsse mit legislativem Charakter. Die Canones bilden neben den Dekretalen den Kernbestand des Kirchenrechts und haben diesem sogar den Namen als kanonisches Recht gegeben. Die Frage ist nun, ob der neue Sprachgebrauch auch eine sachliche Änderung anzeigt. Der Kanon im Singular dient heute zur Bezeichnung einer grundsätzlich geschlossenen Textsammlung. Dagegen wären Kanones nach dem Vorbild des Kirchenrechts beliebig vermehrbar. Mein Eindruck ist, dass die Verwendung des Plurals relativ gedankenlos erfolgt.
Dennoch steckt dahinter eine Kontroverse. In den 1960er Jahren begannen viele Juristen jene hermeneutische Ontologie oder ontologische Hermeneutik zu rezipieren, wie sie sich von Dilthey bis Heidegger entfaltet hatte und nunmehr durch Hans-Georg Gadamers »Wahrheit und Methode« repräsentiert wurde. Sie wendet sich dagegen, Hermeneutik mit Schleiermacher und Savigny als »Kunstlehre der Auslegung« zu verstehen, die mit einem Kanon anerkannter Methoden arbeitet. Arthur Kaufmann meinte, die von Savigny herrührende Auslegungslehre, nach der es nur die geschlossene Zahl von vier »Elementen« gebe, sei durch die (neue) Hermeneutik als falsch nachgewiesen worden. [2] Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: ders. u. a. (Hg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl., Heidelberg 2011, 26-147, S. 103. Kaufmanns Verdikt ist schon deshalb unhaltbar, weil es Rechtstheorie und Methode zusammenwirft. Eine Methode ist »nur eine geordnete Klassen von Verhaltensanordnungen (Operationen) zum Zwecke von Problemlösungen. Methoden sind nicht wahr oder falsch, sondern fruchtbar oder unfruchtbar.« [3]Adalbert Podlech, Rechtstheoretische Bedingungen einer Methodenlehre juristischer Dogmatik, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 2, 1972, 491-502, S. 492.
Hassemer bleibt beim Singular, meint aber, der Kreis der Auslegungslehren sei nicht geschlossen; und nennt drei Regeln, »die derzeit den Anspruch erheben dürfen, zum Kreis der Auslegungslehren hinzuzutreten: die verfassungskonforme, die europarechtskonforme und die folgenorientierte Auslegung.« [4]Winfried Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, Rechtstheorie 39 , 2008, 1-22, S. 10. Aus der Unabgeschlossenheit des »Kanons« entwickelt Hassemer ein Argument gegen die … Continue reading Hassemer ist ein Schüler Kaufmanns und selbst als Hermeneutiker hervorgetreten. Daher überrascht es nicht, dass er dass er den Kreis der Auslegungsmethoden als offen ansieht. Für Hermeneutiker handelt es sich eben nicht um Methoden im technischen Sinne, sondern um bloße Argumente, die in der Tat beliebig vermehrbar sind.
Geht man von Methoden im engeren Sinne aus, so lässt sich darüber streiten, ob die verfassungskonforme und die europarechtskonforme Auslegung – eigentlich müssten man jetzt auch noch die völkerrechtskonforme Auslegung hinzunehmen – eigenständige Methoden bilden. Ich würde sie eher zur systematischen Auslegung rechnen. Es gibt weitere Kandidaten. Die Rechtsvergleichung, die früher bei der Auslegung von Gesetzen nur marginale Bedeutung hatte und zwanglos der systematischen Auslegung zugeordnet werden konnte, ist im Zuge der Europäisierung und der Globalisierung so wichtig geworden, dass sie heute als »fünfte« Auslegungsmethode [5]Peter Häberle, Grundrechtsgestaltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat – zugleich zur Rechtsvergleichung als »fünfter« Auslegungsmethode, Juristenzeitung , 1989, 913-919. gilt. Dagegen hat Friedrich-Christian Schroeder mit guten Gründen die Annahme zurückgewiesen, die so genannte normative Auslegung sei als fünfte neben die vier Standardmethoden getreten [6]Die normative Auslegung, JZ 2011, 187-194. Die Folgenberücksichtigung, die bis dahin bei der teleologischen Auslegung eine unscheinbare Rolle spielte, könnte sich nunmehr unter dem Einfluss insbesondere der ökonomischen Analyse des Rechts tatsächlich als sechste Auslegungsmethode verselbständigen. Das Verdikt Luhmanns (1969), die Untersuchung und Abwägung von Folgen sei nicht Aufgabe der Rechtsdogmatik, konnte Folgenargumente in Rechtsprechung und Schrifttum nicht ganz unterdrücken und schon gar nicht verhindern, dass die Folgenberücksichtigung im Methodenschrifttum ausführlich und überwiegend positiv erörtert wurde. Ein wichtiger Einwand war bisher, dass das Angebot der Sozialwissenschaft nicht ausreiche, die Gerichte, das Verfassungsgericht vielleicht ausgenommen, aber nicht ad hoc empirische Forschung veranlassen könnten. Ich habe bereits in einem früheren Eintrag [7]Berichtsforschung IV: Ein Umweg zur Interdisziplinarität der juristischen Arbeit? darauf hingewiesen, dass sich Situation insoweit durch die freie Verfügbarkeit einer umfangreichen Berichtsforschung geändert haben könnte.
Ein Kanon im Sinne eines prinzipiell geschlossenen Bestandes muss nicht zementiert sein, sondern kann sich im Laufe der Zeit wandeln. Der Kreis der Auslegungsmethoden ist nicht so offen, wie Hassemer meint und schon gar nicht beliebig. Das Bundesverfassungsgericht spricht wiederholt von »anerkannten Auslegungsgrundsätzen« [8]Z. B. E 88, 145/167; BVerfG, 2 BvR 2939/93 vom 29.4.1998 Abs. 13; BVerfG, 1 BvR 224/07 vom 28.4.2009 Abs. 15. (von denen die Verfassung keine bestimmte Auslegungsmethode vorschreibe). Welche das sind, lässt das Gericht offen. Aber »anerkannt« müssen sie sein. Man sollte deshalb weiterhin vom Kanon reden (und nicht von Kanonen).
(Geändert am 15. 8. 2011.)

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Heiko Sauer, Juristische Methodenlehre, in: Julian Krüper (Hg.), Grundlagen des Rechts, Baden-Baden 2011, S. 168-186; so aber auch früher schon Peter Raisch, Vom Nutzen der überkommenen Auslegungskanones für die praktische Rechtsanwendung, Heidelberg 1988.
2 Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: ders. u. a. (Hg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl., Heidelberg 2011, 26-147, S. 103.
3 Adalbert Podlech, Rechtstheoretische Bedingungen einer Methodenlehre juristischer Dogmatik, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 2, 1972, 491-502, S. 492.
4 Winfried Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, Rechtstheorie 39 , 2008, 1-22, S. 10. Aus der Unabgeschlossenheit des »Kanons« entwickelt Hassemer ein Argument gegen die Tauglichkeit der Auslegungsmethoden, das wenig taugt, weil es den Unterschied zwischen Auslegungsmethoden und Auslegungstheorien = Theorien über das Ziel der Auslegung vernachlässigt.
5 Peter Häberle, Grundrechtsgestaltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat – zugleich zur Rechtsvergleichung als »fünfter« Auslegungsmethode, Juristenzeitung , 1989, 913-919.
6 Die normative Auslegung, JZ 2011, 187-194
7 Berichtsforschung IV: Ein Umweg zur Interdisziplinarität der juristischen Arbeit?
8 Z. B. E 88, 145/167; BVerfG, 2 BvR 2939/93 vom 29.4.1998 Abs. 13; BVerfG, 1 BvR 224/07 vom 28.4.2009 Abs. 15.

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Was Kommunikationswissenschaft für die Rechtssoziologie zu bieten hat

In der Rechtssoziologie stellt sich immer wieder die Frage nach der Verbreitung und der Verhaltenswirksamkeit von Rechtskenntnissen. Daran wurde ich erinnert, als mir in diesen Tagen zwei funkelnagelneue (nur äußerlich) dünne Bändchen aus einer Reihe »Konzepte. Ansätze der Medien- und Kommunikations-wissenschaft« aus dem Nomos-Verlag in die Hände fielen. Diese Reihe war mir zunächst wegen der Art der Darstellung aufgefallen. Sie bietet kompakte, didaktisch gut aufbereitete Darstellungen von Kernkonzepten der Kommunikationswissenschaft. Dabei geht es ganz positivistisch um empirisch weitgehend ausgetestete Theorien. Von Luhmann haben wir gelernt, Recht als Kommunikationssystem zu betrachten. Luhmann hielt zwar nichts von einem Verständnis von Kommunikation als Informationsübertragung. Aber mir genügt hier eine Trivialausgabe seiner Theorie. Wenn Recht Kommunikation ist, warum sehen wir dann nicht viel stärker auf die Kommunikationswissenschaft? Diese Frage drängt sich auf, wenn man Band 5 und 6 der genannten Reihe aufschlägt. In Band 5 befasst sich Christof Klimmt mit dem Elaboration-Likelihood-Modell, in Band 6 Veronika Karnowski mit Diffusionstheorien.
Bei den Diffusiontheorien geht es um die Frage, wie sich Innovationen verbreiten. »Diffusion ist der Prozess, in dessen zeitlichen Verlauf eine Innovation über verschiedene Kanäle an die Mitglieder eines sozialen Systems kommuniziert wird.« (Karnowski nach Rogers [1]Everett M. Rogers, Diffusion of Innovations, 5. Aufl., New York, NY 2003., dem Pionier der Diffusionstheorie). Gedacht war allerdings zunächst an die Verbreitung technischer Innovationen (Unkrautvernichter und Kunstdünger in der Landwirtschaft, Fernseher, Handy, Internet usw.). Für die Verbreitung solcher Innovationen gibt es typische Verläufe. Die möglichen Adressaten einer Innovation müssen zunächst das erforderlichen Wissen erwerben, sie müssen sich von der Relevanz der Innovation überzeugen lassen, sie müssen sich entscheiden, sie müssen eine positive Entscheidung umsetzen, und schließlich suchen sie regelmäßig Bestätigung im Sinne von Dissonanzreduktion. Die Akzeptanz einer Innovation wird – wer hätte das anders erwartet – von persönlichen Eigenschaften der möglichen Übernehmer beeinflusst. Erst wenn eine kritische Masse erreicht wird, gewinnt die Verbreitung eine Eigendynamik. Innovatoren laufen dem Bandwagon voran, Meinungsführer springen als erste auf. Nach der Überschreitung der kritischen Masse folgt die frühe Mehrheit dem neuen Trend. Die späte Mehrheit und erst recht die Nachzügler werden dann von wirtschaftlichem und sozialem Druck getrieben. Und natürlich hängt die Verbreitung einer Innovation auch von deren »Qualitäten« ab. Dazu gehören neben der Eigenschaft, Probleme lösen oder Bedarfslücken füllen zu können, auch »Verpackung« und Gebrauchsgeeignetheit.
Die Diffusionsforschung ist von Rogers für technische Innovationen entwickelt worden. Aber sie ist alsbald auch auf die Verbreitung von Nachrichten angewandt worden. »Innovation ist eine Idee, Tätigkeit oder Objekt, welche vom Übernehmer als neu angesehen wird.« (Karnowski S. 22). Innovationen müssen also nicht mit einer technischen Apparatur oder einem Ge- oder Verbrauchsgegenstand verbunden sein. Da liegt es nahe, auch rechtliche Regelungen, die neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen, als Innovation anzusehen, sei es, dass sie durch Gesetzgebung oder Rechtsprechung tatsächlich neu entwickelt werden, sei es, dass längst vorhandene Optionen von Innovatoren entdeckt werden.
Die Diffusion technischer Innovationen endet nicht mit der Verbreitung bloßen Wissens, sondern mit der Anwendung durch die Übernehmer. Bei der Verbreitung von Nachrichten geht es zunächst nur um einen »verkürzten Übernahmeprozess«, der bloß bis zur Wissensübernahme (awareness-knowledge) verfolgt wird (Karnowski S. 63). Doch was zunächst als bloße Nachricht erscheint, kann zu Einstellungsänderungen führen und in der Folge verhaltenswirksam werden. So interessiert sich die politische Wissenschaft dafür, wie Nachrichten das Wählerverhalten ändern, und die Rechtssoziologie müsste sich dafür interessieren, wie Rechtsinformationen verhaltenswirksam werden. Ein wichtiger Unterschied, dessen Bedeutung ich nicht einschätzen kann, besteht allerdings wohl darin, dass der Nachrichtenwert von Rechtsinformationen vergleichsweise dürftig ist. Eine Folge ist vermutlich, dass Rechtsinformationen sich nur selten selbsttätig über die Medien verbreiten, sondern gezielt gestreut werden müssen.
Wenn es um eine Einstellungsänderung als Voraussetzung für die Handlungswirksamkeit neuen Wissens geht, greift die Persuasionsforschung, und als deren »Gold-Standard«, so habe ich von Klimmt gelernt, gilt das Elaboration-Likelihood-Modell. Aber dazu ein anderes Mal. Für einen Blogeintrag ist dieser Text schon wieder zu lang.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Everett M. Rogers, Diffusion of Innovations, 5. Aufl., New York, NY 2003.

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Veränderungen in der Linkliste

Den Verweis auf die »Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften«, die bislang vom Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen angeboten wurden, habe ich gelöscht, denn die Texte sind verschwunden. Anscheinend will man einer bevorstehenden Buchpublikation keine Konkurrenz machen. Schade!
Neu ist in den Links zur Globalisierung ein Verweis auf das Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg, und genauer auf die Seite mit den GIGA-Working Papers.

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»Harte« und »weiche« Normen

In der »Allgemeinen Rechtslehre« (§ 29 I) nehmen wir aus der amerikanischen Diskussion die Unterscheidung zwischen standard und rule auf, die hierzulande vernachlässigt wird. Natürlich wird auch hier ausführlich über Regeln und Standards diskutiert. Aber man kann die englischen Ausdrücke nicht einfach mit den gleichlautenden deutschen Vokabeln übersetzen. Gemeint ist etwas anderes, und deshalb sprechen wir von »harten« und »weichen« Normen. Unter »harten« Normen verstehen wird solche, die sich im Wege semantischer Interpretation konkretisieren lassen. »Weich« sind solche Normen, die dem Anwender einen größeren Spielraum geben. Für beide Normtypen bietet die Straßenverkehrsordnung viele Beispiele. Subsumtionsfähig sind etwa folgende Regeln: Die zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt innerhalb geschlossener Ortschaften 50 km/h. Es ist links zu überholen. Krafträder dürfen nicht abgeschleppt werden. Relativ unbestimmt sind dagegen folgende Normen: Der Fahrzeugführer darf nur so schnell fahren, dass er sein Fahrzeug ständig beherrscht. Bei der Benutzung von Fahrzeugen sind unnötiger Lärm und vermeidbare Abgasbelästigungen verboten. Wer ein- oder aussteigt, muss sich so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.
In Deutschland konzentriert sich die Diskussion über Standards im Sinne von unbestimmten Rechtsnormen auf die juristisch-dogmatische Frage von wem und mit welchen Methoden solche Standards zu konkretisieren sind. In den USA steht eine andere, rechtssoziologische Frage im Vordergrund, nämlich die Frage nach der Funktion von solchen standards. »Harte« Regeln müssen genau sein und verlangen daher mehr Aufwand bei ihrer Formulierung. Sie können jedoch den Vollzug erleichtern und damit Kosten sparen. Zugunsten »harter« Regeln werden immer wieder Rechtssicherheit und die Abschreckungswirkung ins Feld geführt, dagegen, dass sie dem durch O. W. Holmes sprichwörtlich gewordenen »bad man« gestatten, berechnend bis an die Grenzen zu gehen. »Weiche« Normen dagegen veranlassen die Adressaten zu situationsadäquatem Verhalten auf der Linie des Gesetzeszwecks. Auf der anderen Seite können weiche Normen risikoscheue Menschen von wünschenswerten Aktivitäten abhalten und umgekehrt risikofreudige Personen zu Grenzüberschreitungen veranlassen. Ähnlich liefern »harte« Regeln zwar eine klare Abgrenzung bei der Delegation von Befugnissen, fördern jedoch Verantwortungsscheu, während weiche Normen dazu veranlassen können, von Vollmachten sinnvoll Gebrauch zu machen. Schließlich können »harte« Regeln zwar in vielen Situationen für klare Information sorgen und Informationskosten reduzieren. Sie empfehlen sich daher, wenn das zu regulierende Verhalten ein Massenphänomen ist, wie z.B. im Straßenverkehr. Dort kann allerdings die Flüssigkeit des Verkehrs darunter leiden. »Harte« Regeln können andererseits die Kommunikation beschränken und Missverständnisse herbeiführen, während »weiche« Normen durch Vermeidung von Ritualen und Formalitäten eine breitere Kommunikation anregen und dadurch Verständigung fördern.
Zu diesem Fragenkreis gab es jetzt eine interessante Diskussion im Harvard Law Review. In einem Artikel über »Inducing Moral Deliberation: On the Occasional Virtues of Fog« [1]Harvard Law Review 123 , 2010, 1214-1246. machte die Autorin Seana Valentive Shiffrin geltend, »weiche« Normen könnten moralische Überlegungen und demokratische Aktivitäten der Bürger anregen. Wer einer weichen Norm gerecht werden wolle, müsse oft selbst darüber nachdenken, welche moralischen Prinzipien im Hintergrund relevant seien und danach abwägen, welche Verhaltensweise von anderen Menschen erwartet werde und was fair, angemessen usw. usw. sei. Damit gehe von standards auch eine erzieherische Wirkung aus, weil Menschen sich die Zwecke der Norm und den Sinn des Rechts überhaupt bewusst machen müssten. Darauf hat Brian Sheppard erwidert mit »Calculating the Standard Error: Just How Much Should Empirical Studies Curb Our Enthusiasm For Legal Standards?« [2]Harvard Law Review 124, 2011, 92-109. Er meint, die Sache sei komplizierter. Es komme darauf an, ob eine Norm verbindlich oder nur eine Empfehlung sei. Das finde ich nicht so interessant, denn eine bloß empfehlende Norm (z. B. Richtgeschwindigkeit auf der Autobahn) könnte psychologisch durchaus die von Shiffrin behaupteten Wirkungen haben. Sheppards eigenes Beispiel – ein modifiziertes Diktatorspiel – finde ich nicht überzeugend, weil zu untypisch für einen Standard. Interessanter scheint mir das Argument, dass bei einem Konflikt zwischen rechtlichen und außerrechtlichen Normen eine »harte« Rechtsnorm eher in moralische Auseinandersetzungen führe. Am interessantesten ist aber wohl Sheppards Hinweis auf zwei empirische Untersuchungen, die jedenfalls indirekt zu den unterschiedlichen Qualitäten von »harten« und »weichen« Normen aufschlussreich sein könnten. Hier ist das Ergebnis eher skeptisch. In dem einen Fall scheint es, als ob die »weiche« Norm eher zu egoistischem Verhalten veranlasst. Im anderen Fall geht um die Handhabung von »weichen« Normen durch Richter, und hier zeigt sich wohl, dass »weiche« Normen eher geeignet sind, vorgefasste (»ideologische«) Meinungen zu praktizieren.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Harvard Law Review 123 , 2010, 1214-1246.
2 Harvard Law Review 124, 2011, 92-109.

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Wäre das ein Plagiat?

In der heimlichen Juristenzeitung vom 24. 6. 2010 schreiben Justus Haucap und Jürgen Kühling über »Gerechtere Wasserpreise«. Ein bißchen (aber nur ganz wenig) habe ich mich über den ersten Satz geärgert: »Die kommunale Trinkwasserversorgung ist das letzte Monopol ohne wirksame Kontrolle.« Das ist reißerisch, weil es falsch ist. Deshalb habe ich einfach einmal nicht, durch Copy and Paste, sondern durch Suchen und Ersetzen, die Trinkwasserversorgung gegen die Abwasserbeseitigung ausgetauscht:
Die Abwasserbeseitigung ist ein natürliches Monopol. Echter Wettbewerb konkurrierender Entsorger im Markt ist nicht nur schwer zu etablieren, er ist volkswirtschaftlich auch gar nicht effizient und würde letztlich zu Kostensteigerungen führen. Weil aber deswegen die Verbraucher – anders als auf den meisten anderen Märkten – ihren Anbieter nicht wechseln können, wenn dessen Preise oder Service ihnen nicht gefallen, fehlt die marktliche Disziplinierung der Anbieter.
Die Verbraucher sind daher – weil die Entsorgung von Abwasser ein besonders wichtiges Gut ist – besonders schutzbedürftig. Ohne effektive behördliche Kontrolle könnten die Entsorgungsunternehmen ihre Monopolstellung missbrauchen. Wie die Erfahrung zeigt, lässt sich dies auch nicht allein dadurch verhindern, dass Abwasserentsorgung als öffentlich-rechtliche Organisationseinheit im kommunalen Eigentum geführt wird. Denn dies birgt die Gefahr, dass übermäßig hohe Kosten produziert werden, ineffizient gewirtschaftet wird und – im schlimmsten Fall – durch inkompetente Betriebsführung und Verwaltung den Bürgern unnötige Kosten aufgebürdet werden, denen sie sich nicht entziehen können. Eine Privatisierung allein hilft auch nicht weiter, da sie die Anreize zu Preismissbrauch nicht verhindert.
Entscheidend ist demnach weniger die Organisationsform als die Aufsicht über die Abwasserentsorgung der Endverbraucher. Denn auch ein Durchleitungswettbewerb, bei dem Konkurrenten die Leitungen der etablierten Anbieter zu regulierten Preisen mitbenutzen, ist in der Abwasserwirtschaft – anders als bei Telekommunikation und Energie – wenig sinnvoll.
Usw. usw.
Zugegeben, an einigen Stellen müsste man von Hand nacharbeiten. Der regionale Schwerpunkt könnte von Hessen in die ostdeutschen Bundesländer wandern. Doch im Prinzip passt alles.

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Verlust der Empirie: Entkernung oder Entlastung der Rechtssoziologie?

Die Rechtssoziologie als akademische Disziplin scheint eher durch Tiefen als durch Höhen zu gehen. Sie musste sich eine weitgehende Deinstitutionalisierung durch den Abbau von Lehrstuhldenominationen und Lehrveranstaltungen gefallen lassen. Sie muss mit dem anscheinend unaufhaltsamen Imperialismus der Kulturwissenschaften [1]Dazu mein Beitrag »Crossover Parsival«, in: M. Cottier u. a. (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010, 91-100. leben. Und sie traut sich nicht mehr, unter ihrem angestammten Namen aufzutreten. [2]Die Vereinigung für Rechtssoziologie heißt nun Vereinigung für Recht und Gesellschaft. Immer deutlicher zeigt sich jetzt eine andere Entwicklung, die man als Entkernung der Rechtssoziologie beklagen könnte, nämlich den Verlust der empirischen Forschung.
Ein Kernstück der Rechtssoziologie war die anwendungsbezogene Rechtstatsachenforschung. Sie ist heute weitgehend durch das verdrängt worden, was ich als Berichtsforschung beschrieben habe. [3]Ressort- und Berichtsforschung als Datenquelle, in: M. Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, FS Rottleuthner, 2011, 357-393. Die Berichtsforschung stellt sozusagen auf Vorrat Faktenwissen für Politik, Justiz und Verwaltung zusammen. Wenn dennoch einmal ad hoc eine Rechtstatsachenforschung in Auftrag gegeben wird, so wird sie nicht von der akademischen Rechtssoziologie, sondern von spezialisierten Sozialforschungsinstituten erledigt. [4]»DJI erforscht Motive für und gegen gemeinsame Sorgeerklärung nicht miteinander verheirateter Eltern«, so lautet eine Pressemeldung vom 10. 5. 2011. Früher hätte ich diese Meldung als … Continue reading
Aber auch die empirische Grundlagenforschung ist abgewandert, und zwar in andere Disziplinen, nämlich in die Sozialpsychologie und die Verhaltensökonomie. Wenn ich zuletzt in meinem Blog über empirische Untersuchungen berichtet habe, so stammten die fast immer von Psychologen, so zuletzt »Das Frühstück der Richter und seine Folgen« sowie »Normstrenge und lockere Kulturen«.
Was folgt daraus? Soll man diese Entwicklung als Entkernung der Rechtssoziologie beklagen und, den Laden schließen und die Arbeit anderen überlassen? Ich möchte das Abwandern der empirischen Forschung zu verschiedenen Spezialisten eher als Entlastung verstehen. Rechtssoziologie bleibt deshalb doch eine empirische Disziplin in dem Sinne, dass sie für alle Theorien und Thesen empirische Belege sucht, mögen die auch von anderen beigebracht werden. Das Recht ist zum dominierenden Faktor bei der Koordinierung und Regulierung des Komplexes von Subsystemen geworden sei, die das Gesamtsystem der modernen Gesellschaft ausmachen. [5]Alan Hunt (Foucault’s Expulsion of Law, Law and Social Inquiry 17, 1992, 1/30) würde diese Einstellung als legal imperialism kritisieren. Aber irgendetwas muss man der Konkurrenz ja … Continue reading Nur noch das Recht kann der Wirtschaft Paroli bieten. Über die Realität des Rechts werden Daten beinahe im Überfluss erhoben. Es bleibt die Aufgabe, die von anderen gesammelten Daten zu einem Wissenssystem zu integrieren. Das vermag nur eine Disziplin, welche die Beobachtung des Rechts als ihre zentrale Aufgabe versteht und die darin über lange und intensive Übung verfügt. Deshalb ist die Rechtsoziologie wichtiger denn je.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Dazu mein Beitrag »Crossover Parsival«, in: M. Cottier u. a. (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010, 91-100.
2 Die Vereinigung für Rechtssoziologie heißt nun Vereinigung für Recht und Gesellschaft.
3 Ressort- und Berichtsforschung als Datenquelle, in: M. Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, FS Rottleuthner, 2011, 357-393.
4 »DJI erforscht Motive für und gegen gemeinsame Sorgeerklärung nicht miteinander verheirateter Eltern«, so lautet eine Pressemeldung vom 10. 5. 2011. Früher hätte ich diese Meldung als Ankündigung eines Projekts der Rechtstatsachenforschung gelesen. Heute habe ich das Gefühl, dass sie für die Rechtssoziologie so richtig nicht mehr interessiert.
5 Alan Hunt (Foucault’s Expulsion of Law, Law and Social Inquiry 17, 1992, 1/30) würde diese Einstellung als legal imperialism kritisieren. Aber irgendetwas muss man der Konkurrenz ja entgegenhalten.

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Normstrenge und lockere Kulturen

Durch eine Pressemeldung der Universität Koblenz-Landau bin ich auf eine Veröffentlichung in dem amerikanischen Wissenschaftsmagazin SCIENCE [1]Bd. 332 vom 27. 5. 2011, S. 100-104 über »Differences Between Tight and Loose Cultures: A 33-Nation Study« aufmerksam geworden, die man als einen Beitrag zur Rechtssoziologie lesen kann. Von den 43 Autoren kommen zwei aus Deutschland (Klaus Boenke, Bremen; Manfred Schmitt (Koblenz-Landau).
Hier zunächst das Abstract:
With data from 33 nations, we illustrate the differences between cultures that are tight (have many strong norms and a low tolerance of deviant behavior) versus loose (have weak social norms and a high tolerance of deviant behavior). Tightness-looseness is part of a complex, loosely integrated multilevel system that comprises distal ecological and historical threats (e.g., high population density, resource scarcity, a history of territorial conflict, and disease and environmental threats), broad versus narrow socialization in societal institutions (e.g., autocracy, media regulations), the strength of everyday recurring situations, and micro-level psychological affordances (e.g., prevention self-guides, high regulatory strength, need for structure). This research advances knowledge that can foster cross-cultural understanding in a world of increasing global interdependence and has implications for modeling cultural change.
»Tight nations …have strong norms and a low tolerance of deviant behavior«, während »loose nations … have weak norms and a high tolerance of deviant behavior«. »Normstreng« und »locker« oder »rigide« vs. »tolerant« könnte das Gemeinte halbwegs treffen. »Permissiv« und »repressiv« passen wegen ihres negativen Beiklang nicht so gut.
Das Begriffspaar tightness/looseness knüpft an anthropologischen Untersuchungen an, die bei einfachen Stammesgesellschaften agrarischen Charakters mit hoher Bevölkerungsdichte strenge Kindererziehung beobachtet haben, während Jäger und Fischer ihre Kinder eher an der langen Leine hielten. Nun sollte geprüft werden, ob man auch moderne Gesellschaften auf einer Skala zwischen normstreng und tolerant einordnen kann. Dazu wurden 6823 Personen in 33 Nationen befragt, im Schnitt also etwas mehr als 200. Die Antworten wurden auf einem Tightness-Looseness-Score eingeordnet. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass sich die Normstrenge innerhalb einer Nation ziemlich einheitlich darstellt, während es zwischen den Nationen große Unterschiede gibt. Damit sehen sie Hypothese bestätigt. Am strengsten geht es in Pakistan (12,3) zu, gefolgt von Malaysia (11,8), Indien (11,0), Singapur (10,4) und Südkorea 10,0). Besonders locker ist es in ehemaligen Ostblockländern, so in der Ukraine (1,6), Estland (2,5) und Ungarn (2,9). Mit einer Drei vor dem Komma sind Israel, Brasilien, Griechenland, die Niederlande, Neuseeland und Venezuela dabei. Die alten Industrieländer liegen in der Mitte.

Man fragt ich natürlich, was denn dieser Tightness-Looseness Index taugt. Er wird aus Normdimensionen gewonnen, die nicht selbstverständlich zusammenlaufen. Da ist erstens die Dichte des Normbestandes, zweitens die Schärfe der Normen hinsichtlich der vorgeschriebenen Verhaltensweise, drittens die Strenge der vorgesehenen Sanktionen und viertens die Toleranz gegenüber Normverletzungen. Normen aller Lebensbereiche, ganz gleich ob sie persönliche Kommunikation, das Sexualverhalten oder den Straßenverkehr betreffen, werden über einen Kamm geschoren. Dennoch scheint das Ergebnis einigermaßen handfest zu sein.
In separaten Erläuterungen zu dem mit vier Seiten sehr kurzen Artikel (Supporting Online Material) wird die Anlage der Untersuchung erläutert und es werden die verwendeten Instrumente vorgestellt. Außerdem werden die Ergebnisse mit anderen Daten abgeglichen, so mit Experteneinschätzungen zu zur Rigidität der untersuchten Kulturen, zur Zahl der Linkshänder, die mit der rechten Hand schreiben, sowie mit Daten des World Value Survey und einer Reihe anderer Indices, darunter etwa Hofstedes Cultural Dimensions.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Bd. 332 vom 27. 5. 2011, S. 100-104

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Mehr als ein Blog: SCOTUSblog

SCOTUSblog steht als Abkürzung für Supreme Court of the United States Blog. Das Blog wird betrieben von der auf die Vertretung vor dem US Supreme Court spezialisierte Anwaltsfirma Goldstein, Howe & Russell. Und so stellt sich das Blog selbst vor:

SCOTUSblog is devoted to comprehensively covering the U.S. Supreme Court—without bias and according to the highest journalistic and legal ethical standards. The blog is provided as a public service and is sponsored by Goldstein, Howe & Russell, P.C.
Tom Goldstein and Amy Howe – husband and wife – founded the blog in 2002. Reporter Lyle Denniston joined a few years later. Other permanent and part-time staff members have joined over time. Significant contributions have come from other lawyers at Tom and Amy’s law firm, as well as their students at Stanford and Harvard Law Schools. Now more than twenty people work on or write for the blog.
The blog generally reports on every merits case before the Court at least three times: prior to argument; after argument; and after the decision. In certain cases, we invite the advocates to record summaries of their arguments for podcasts. The blog notes all of the non-pauper cert. petitions that seek to raise a legal question which in Tom’s view may interest the Justices; Lyle gives additional coverage to particularly significant petitions. For the merits cases and the petitions we cover, we provide access to all the briefs.
Many of the blog’s posts go beyond coverage of individual cases. Each business day, we provide a “Round-up” of what has been written about the Court. We regularly publish broader analytical pieces. Lyle also comprehensively covers litigation relating to detainees in the “war on terrorism”—a topic of recurring interest at the Court. The blog carries significant analysis of nominees to the Court. In addition, various special projects—such as our thirty days of tributes to Justice Stevens—may span several weeks. Significant books related to the Court are the subject of our “Ask the author” series. A calendar lists significant dates for activity at the Court and programs relating to it. We also regularly publish statistics relating to the Term.

Für den externen Beobachter der Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA ist das Blog so gehaltvoll, dass es einen Platz in meiner Blogroll erhält.

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Begriffssoziologie VII: Zur empirischen Seite der Konstitutionalisierung

Dieses Posting setzt die Beiträge über die strukturelle Seite der Konstitutionalisierung und die funktionale Seite der Konstitutionalisierung fort.
Die Systemtheorie nimmt immer wieder für sich in Anspruch, mit ihren Konzeptualisierungen einen radikalen Blickwechsel herbeizuführen. Durch einen Blickwechsel lässt sich auch die Konstitutionalisierungshypothese der Systemtheorie fruchtbar machen, indem man fragt, wo tatsächlich Gemeinwohlvorstellungen in das neue Weltrecht eindringen und wie die Türöffner beschaffen sind. Dazu gibt es von Teubner und seiner Schule interessante Hinweise. Sie bestätigen Luhmanns Andeutung, dass eine Rechtswirkungsforschung möglich sei, »ohne einen Gedanken an ›Autopoiesis‹ zu verschwenden« [1]Niklas Luhmann, Steuerung durch Recht?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 11, 1990, 137-160/144..
»Eine globale Verfassungsordnung steht vor der Aufgabe: Wie kann externer Druck auf die Teilsysteme so massiv erzeugt werden, dass in ihren internen Prozessen Selbstbeschränkungen ihrer Handlungsoptionen wirksam werden?« [2]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 9.
Gemeint ist wohl nicht, dass eine schon vorhandene Verfassungsordnung Druck erzeugen soll, sondern dass externer Druck den Prozess der Konstitutionalisierung vorantreibt. Nun endlich ist man bei Fragen angelangt, die sich empirisch beantworten lassen: Woher kommt »externer Druck« auf die Teilsysteme? Wo reagiert das neue Weltrecht »responsiv« durch den Einbau gemeinwohlorientierter Normen?
Vor der Empirie liegt aber noch eine Hürde, nämlich die Frage, wie der Druck »theoretisch« Eingang in die Systeme finden kann, denn die Systeme haben mit ihrer Umwelt keinen Kontakt. Sie können nur – bevorzugt – die eigenen und – eigentlich nur als Irritationen – die Kommunikationen anderer Systeme, etwa von Wissenschaft oder Medien – zu Kenntnis nehmen. Die ökologische Umwelt, also Mensch und Natur, und ihre Probleme spiegeln sich in den Kommunikationen der Wissenschaft und der Massenmedien. Als Filter und Verstärker spielt die Zivilgesellschaft eine so große Rolle, dass man sich fragt, welchen Platz sie im Gebäude der Systemtheorie einnimmt.
Bei Fischer-Lescano/Teubner [3]Regime-Kollisionen, 2006, 55; ähnlich S. 56. ist von einer »zivilgesellschaftlichen Konstitutionalisierung von autonomen Regimes« die Rede. Sollten die privaten Rechts-Regimes selbst Teil der Zivilgesellschaft sein? Das entspricht kaum der üblichen Verwendung des Begriffs, denn die verlangt eine primäre Gemeinwohlorientierung. Auch wenn »Politik, Recht und Zivilgesellschaft« gelegentlich [4]Teubner, Verfassungen ohne Staat, 2010, Internetfassung S. 11. in einem Atemzug genannt werden oder gar von den »vielen Autonomien der Zivilgesellschaft« die Rede ist [5]Teubner, Vertragswelten, 1998, Internetfassung S. 35., so kämen doch nur Laien auf die Idee, die Zivilgesellschaft ihrerseits als Funktionssystem der Gesamtgesellschaft einzuordnen. In einer Fußnote [6]Teubner, Nach der Privatisierung?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 19, 1998, 8-36, Fußnote 12 auf S. 11. präzisiert Teubner den »vielgebrauchten, aber äußerst unscharf verwendeten Begriff … im systemtheoretischen Sinne«. Dieser deckt »alle die gesellschaftlichen Kommunikationen …, die nicht zum Politiksystem oder zum Wirtschaftssystem gehören. Insoweit wie bei Habermas … soll er also gesellschaftlich diffuse (›lebensweltliche‹) Kommunikation, aber auch – insoweit anders als bei Habermas – alle anderen (und nicht nur die menschen-nahen) Funktionssysteme umfassen.« Das ist so scharf nun auch wieder nicht.
Hier soll es genügen, auf die kognitive Offenheit der Systeme zu verweisen. Die Wirtschaft ist »Lernpressionen« ausgesetzt. Dabei handelt es sich um kognitive Änderungen verbunden mit darauf gerichtetem Zwang. [7]Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 19 Teubner bezieht sich dazu auf Luhmanns These vom Primat kognitiver Strukturen in der Weltgesellschaft. Eigentlich braucht es diesen Umweg gar nicht, denn das operativ geschlossene Wirtschaftssystem ist per definitionem kognitiv offen, auch für das Soft Law der Codes des offiziellen Weltrechts. Interessanter sind daher die Pressionen.
Die TNC und transnationalen Rechtsregimes, insbesondere wenn sie privater Genese sind, werden ihre systemdienlichen Regelungen kaum aus Menschenfreundlichkeit oder sozialer Verantwortung am Gemeinwohl ausrichten, sondern sie reagieren nur auf äußeren Druck. (Das ist keine Besonderheit der globalen Rechtsbildung. Auch dem staatlichen Recht geht es regelmäßig so, dass die Adressaten ihm nicht immer aus Überzeugung folgen.) Der Druck stammt nur zum kleineren Teil von den Nationalstaaten und den internationalen Organisationen, viel stärker von Protestbewegungen, NGOs, Gewerkschaften und der öffentlichen Meinung. Den Ausschlag gäben oft »ökonomische Sanktionen« wie das Kaufverhalten des Verbraucherpublikums und das Investitionsverhalten bestimmter Anlegergruppen. [8]Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 20 f.
Die Wirtschaft qua »Eigenrationalität« reagiert auf externen Druck, wenn der ihre internen Operationen stört, wenn er die Absatzmöglichkeiten einschränkt oder die Wettbewerbssituation verändert. Voraussetzungen sind breitenwirksame Kampagnen, die die ökologische Qualität bestimmter Produkte anprangern, sei es, dass Herstellung oder Konsum umweltschädlich sind, sei es, dass Produktion, etwa wegen Kinderarbeit, als sozial unverträglich dargestellt werden kann. Die Wettbewerbssituation verändert sich, wenn es gelingt, Produkte als umweltfreundlich und sozialverträglich auszuzeichnen. Dazu dienen Umwelt- und Ökolabel oder neue Vertriebswege (»Fair Trade«). Das geht so weit, dass die Wirtschaft bei der Vermarktung ihrer Produkte auf einen neuen Lebensstil setzen kann. Die Wirtschaft spricht von Lhas (Lifestyle of Health and Sustainability). Das alles gehört inzwischen zum Zeitungsleserwissen. Vor allem aber, es ereignet sich ohne direkte Hilfe des Rechtssystems.
»Die Wirtschaft dagegen benötigt zur ihrer Selbstkonstituierung massiver Subventionierung durch das Recht, wenn auch nicht in dem umfassenden Maße wie die Politik.« [9]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 24.
Rechtlicher Druck auf die globalen Funktionssysteme kommt in erster Linie nicht aus dem neuen Weltrecht, sondern aus den territorialen Rechtssystemen. Da die transnationalen Akteure immer noch eine territoriale Basis haben müssen, können sie von den territorialen Rechtssystemen etwa auf dem Umweg über Strafverfahren oder Menschenrechtsklagen zur Verantwortung gezogen werden. Organisationen der Zivilgesellschaft sorgen dafür, dass dabei auch Weltgemeinwohlgesichtspunkte zum Tragen kommen. Eine Reihe von NGOs hat sich auf den Bereich Legal Advice spezialisiert [10]Über die Legal Resources Foundation in Zambia Beatrix Waldenhof, Die Rolle der NGOs als Teil der Zivilgesellschaft im demokratischen Transitions- und Konsolidierungsprozess Zambias, Bochum … Continue reading und benutzt die nationalen Gerichte als Hebel. Einen globalen Charakter erhalten die Fälle (nur) durch die internationale Vernetzung der NGOs, durch ausländische Finanzierung, durch die Berufung auf internationales Recht, vor allem auf Menschenrechtskonventionen, und natürlich dann, wenn sie sich gegen transnational tätige Akteure richten.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Niklas Luhmann, Steuerung durch Recht?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 11, 1990, 137-160/144.
2 Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 9.
3 Regime-Kollisionen, 2006, 55; ähnlich S. 56.
4 Teubner, Verfassungen ohne Staat, 2010, Internetfassung S. 11.
5 Teubner, Vertragswelten, 1998, Internetfassung S. 35.
6 Teubner, Nach der Privatisierung?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 19, 1998, 8-36, Fußnote 12 auf S. 11.
7 Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 19
8 Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 20 f.
9 Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 24.
10 Über die Legal Resources Foundation in Zambia Beatrix Waldenhof, Die Rolle der NGOs als Teil der Zivilgesellschaft im demokratischen Transitions- und Konsolidierungsprozess Zambias, Bochum sozialwissenschaftliche Dissertation, 2003. 271ff.

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