In vielen Texten Teubners und seiner Schule ist von Konstitutionalisierung, Selbstkonstitutionalisierung, Zivilverfassungen oder von »Verfassung ohne Staat« die Rede. Dahinter steckt die These von der Ablösung staatszentrierter Verfassungen durch die »Konstitutionalisierung« einer Vielheit von autonomen weltgesellschaftlichen Teilsystemen (societal constitutionalism). Sie knüpft an die Redeweise des Völkerrechts und der Politikwissenschaft an, wenn dort die Verdichtung globaler Rechtsphänomene als Konstitutionalisierung bezeichnet wird. Teubner (2003) bezieht sich zusätzlich auf den amerikanischen Soziologen David Sciulli, der ein Konzept eines »societal constitutionalism« entwickelt hatte.
Juristisch redet man von der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung im Hinblick auf den Vorrang der Verfassung gegenüber allem einfachen Recht, der sich insbesondere in der Drittwirkung der Grundrechte äußert. Dabei bleibt die Verfassung im Staat. Es gibt aber auch in der Rechtswissenschaft die Idee eines vom Nationalstaat abgelösten Konstitutionalismus. So hat Ingolf Pernice in Anlehnung an den von Habermas geprägten Begriff der »postnationalen Konstellation« für das zusammenwachsende Europa eine »postnationale Verfassungstheorie« vorgeschlagen. Im gleichen Sinne schreiben die Völkerrechtlerin Anne Peters und Neil Walker von der London School of Economics Dagegen hält Dieter Grimm die Verwendung des Konstitutionalisierungsbegriffs für verfehlt, weil dieser Begriff durch »Errungenschaften« der klassischen Staatsverfassungen ausgefüllt werde, die im Weltrecht nirgends anzutreffen seien. •
Den Konstitutionalisierungsbegriff könnte man noch hinnehmen. Besser wäre es, von Verrechtlichung zu sprechen. Missverständlich, ja missbräuchlich ist es jedoch, wenn das Ergebnis von Konstitutionalisierungsprozessen als Verfassung bezeichnet wird, weil mit dem Verfassungsbegriff unlösbar die Konnotation der Staatsverfassung einhergeht, die nicht nur Verwirrung stiftet, sondern auch einen ungerechtfertigten Legitimationstransfer bewirkt.
Der Vorgang, der von der Systemtheorie als Selbstkonstitutionalisierung beschrieben wird, hat eine strukturelle, eine funktionale und eine empirische Seite. Unter dem Gesichtspunkt der Strukturbildung werden als »verfassungstypische Merkmale« doppelte Reflexivität und »binäre Metacodierung« verlangt. Als verfassungstypische Funktionen einer Selbskonstitutionalisierung werden Autonomiebildung und Selbstbeschränkung gegen sozialschädliche Tendenzen genannt. Empirisch werden »Lernpressionen« angeführt, die die Selbstkonstitutionalisierung vorantreiben.
Heute also zur strukturellen Seite der Konstitutionalisierung:
Strukturell ist Selbskonstitutionalisierung mehr als Verrechtlichung. Unterschieden werden drei Stufen der Rechtsbildung:
Bloße Juridifizierung eines sozialen Bereichs durch Regelbildung für Verhalten und/oder Konfliktregelung (private ordering).
Systembildung durch doppelte Reflexivität oder Hyperzyklus: Es gibt sekundäre Normen, welche die Identifizierung sowie Kompetenz und Verfahren zum Erlass von primären Normen regeln.
Konstitutionalisierung durch strukturelle Verknüpfung verschiedener Systeme und binäre Meta-Codierung.
Der Umschlag von bloßer Regelbildung (private ordering) zum Recht erfolgt mit dem Vorgang, den Teubner früher als Hyperzyklus vorstellt hatte. In neueren Veröffentlichungen spricht er schlichter von sekundärer Normierung. Gemeint ist, dass ein sozialer Bereich nicht bloß über Regeln zur Verhaltenssteuerung verfügt, sondern Kriterien entwickelt, nach denen intern entschieden wird, welche Regeln zum System gehören und welche nicht. Wenn dann der Systemcode der Recht/Unrecht-Code ist, handelt es sich eben um Recht.
Gelegentlich entsteht der Eindruck, Konstitutionalisierung werde mit dem Überschreiten dieser Schwelle der Verrechtlichung (= operative Schließung des Systems) gleichgesetzt. Dann wäre der Konstitutionalisierungsbegriff eigentlich überflüssig.
»Die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Massenmedien konstituieren sich als autonome Sozialsysteme unter anderem dadurch, dass sie sich eine Verfassung geben. Verfassungsprozesse sind ein Fall der ›doppelten Schließung‹ im Sinne von Heinz von Foerster. Sie werden dadurch ausgelöst, dass Sozialsysteme über ihre operative Schließung erster Ordnung hinaus eine Schließung zweiter Ordnung entwickeln, indem sie ihre Operationen reflexiv auf ihre Operationen anwenden. Wissenschaft gewinnt ihre Autonomie erst dann, wenn es gelingt, über die am Wahrheitscode orientierten Erkenntnisoperationen eine zweite Erkenntnisebene einzuziehen, auf der die Erkenntnisoperationen erster Ordnung ihrerseits mit methodischen und erkenntnistheoretischen Operationen auf ihren Wahrheitswert geprüft werden. Die Politik wird dann zu einer autonomen Machtsphäre der Gesellschaft, wenn sie Machtprozesse mit Hilfe von Machtprozessen dirigiert und über Festlegung von Wahlverfahren, Organisationsweisen, Kompetenzen, Gewaltenteilung und Grundrechten eine doppelte Schließung der Machtprozesse herstellt.«
Doch wenn man weiter liest, bleibt kein Zweifel, dass nicht jedes autonome Sozialsystem über eine »Verfassung« verfügt, sondern dass Konstitutionalisierung zusätzlich einen »Ultrazyklus« voraussetzt, das heißt eine strukturelle Kopplung zwischen zwei Systemen mit einem binären Meta-Code.
»Auf der Meta-Ebene fungiert der Verfassungscode, denn er unterwirft Entscheidungen, die bereits unter der binären Recht/Unrecht-Codierung gefällt wurden, einer zusätzlichen Prüfung, nämlich ob sie sozialverfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen. Hier entsteht also die für alle Verfassungen – für politische Staatsverfassungen, für Sozialverfassungen oder für Organisationsverfassungen – typische Hierarchie zwischen einfachem Recht und Verfassungsrecht, ›the law of the laws‹. Dem Rechtscode (rechtmäßig/rechtswidrig) wird der Verfassungscode des jeweiligen Sozialbereichs (verfassungsmäßig/verfassungswidrig) übergeordnet. … Dieser gewiss nicht einfach gebaute Zusammenhang von struktureller Kopplung und ihrer hybriden Meta-Codierung … «
In der Tat, dieser Zusammenhang ist nicht einfach gebaut.
Von Luhmann wissen wir: Die strukturelle Kopplung zwischen Recht und Politik wird durch die Verfassung hergestellt, diejenige zwischen Recht und Wirtschaft durch Vertrag und Eigentum. Aus dem Ultrazyklus der strukturellen Kopplung entwickelt sich ein »Meta-Code«, der sich dem binären Code der Funktionssysteme überordnet, ohne sie zu einem System höherer Ordnung zusammenzufügen. Der Meta-Code für das Systempaar Politik und Recht lautet verfassungsmäßig/verfassungswidrig.
Folgt man der Konstruktion Teubners, so stellt sich die Frage, welche Systeme und auf welcher Ebene die Systeme verkoppelt werden sollen. Es geht kaum um die Kopplung von Recht und Politik.
»Autokonstitutionelle Regimes zeichnen sich dadurch aus, dass sie reflexive Prozesse des Rechts mit reflexiven Prozessen anderer Sozialbereiche, also gerade nicht nur der Politik, verknüpfen.«
Das politische System ist eher noch weniger globalisiert als das Rechtssystem. Beide leiden auf globaler Ebene wechselseitig kaum unter ihrem Expansionsdrang. In erster Linie geht es darum, dem Expansionsdrang des Wirtschaftssystems Einhalt zu bieten.
Im Verhältnis zwischen Recht und Wirtschaft hatte Luhmann die strukturelle Kopplung nicht in einer Verfassung, sondern in den Institutionen »Eigentum« und »Vertrag« verortet. Die Wirtschaft kann kein Recht setzen. Aber sie kann Verträge schließen und Eigentum schaffen und darüber verfügen, und das Rechtssystem muss diese Operationen als solche akzeptieren. Umgekehrt kann das Recht auf die Wirtschaft Einfluss nehmen, indem es Vertrag und Eigentum nach seinen Maßstäben inhaltlich definiert. Bei Luhmann blieb der Meta-Code für die strukturelle Kopplung von Recht und Wirtschaft offen. Teubner führt als Kopplungsstrukturen zusätzlich Wettbewerb und Geldwährung ein. Daneben kennt er auf Subsystemebene auch noch weitere Kopplungen. Für alle soll derselbe Meta-Code gelten:
»Die Differenz verfassungsmäßig/verfassungswidrig entwickelt sich zu einem binären Meta-Code innerhalb der strukturellen Kopplung zwischen Wirtschaft und Recht, der sich sowohl dem Rechtscode als auch dem Wirtschaftscode überordnet.«
Für die Verkopplung der territorialen Rechte mit der Wirtschaft wäre dieser Code plausibel, denn über die Drittwirkung der Grundrechte wird auch die Wirtschaft indirekt mit den politischen Grundentscheidungen der Verfassung verkoppelt. Aber das neue Weltrecht, das dem Weltwirtschaftssystem gegenübersteht, verfügt nicht über den Rückhalt einer Verfassung, mit der es Vertrag und Eigentum, Wettbewerb und Geldwährung und weiteren Kopplungen auf globaler Ebene einen sozialverträglichen Inhalt geben könnte. Damit fehlt dem Meta-Code die »Programmierung«, ohne die mit ihm nicht viel anzufangen ist.
Fraglich ist weiter, auf welcher Ebene die Verkopplung der Systeme stattfindet. Der folgende Text deutet in Richtung auf die Verkopplung der gesellschaftlichen Funktionssysteme als solcher, im konkreten Fall von Recht und Wirtschaft:
»… der Endpunkt einer Konstitutionalisierung – sei es in der Politik, sei es in der Wirtschaft, sei es in anderen Sozialbereichen – ist erst dann erreicht, wenn sich ein eigenständiger Verfassungs-Code, eine binäre Meta-Codierung, und zwar innerhalb der strukturellen Kopplung von Recht und betroffenem Sozialsystem, herausbildet, und wenn sich die internen Prozesse der gekoppelten Systeme daran orientieren.«
Eine Verkopplung der (Welt-)Funktionssysteme liefe auf eine einheitliche Weltverfassung hinaus. Die Weltgesellschaft, der eine eigene »Gesamtrationalität« zugeschrieben wird , soll sich selbst eine Verfassung geben.
»Wenn es richtig ist, dass die Abwehr von drei Kollisionsgefahren im Zentrum steht – Selbstdestruktion des Systems, Umweltschädigung im weitesten Sinne (Gefährdung der Integrität der sozialen, humanen und natürlichen Umwelten), Gefährdung der Weltgesellschaft – dann ist die zweite Option vorzuziehen. Dies ist die Botschaft eines gesellschaftlichen Konstitutionalismus. Eine globale Verfassungsordnung steht vor der Aufgabe: Wie kann externer Druck auf die Teilsysteme so massiv erzeugt werden, dass in ihren internen Prozessen Selbstbeschränkungen ihrer Handlungsoptionen wirksam werden?«
Der Gedanke an eine Weltverfassung wäre, wenn man an die Analogie zur Staatsverfassung denkt, konsequent. Aber er passt nicht zu den zentralen Aussagen der systemtheoretischen Analyse, nach denen das neue Weltrecht polyzentrisch und heterarchisch strukturiert ist. Eine Globalverfassung ist allenfalls der »Endpunkt einer Konstitutionalisierung«. Zunächst muss man die Kandidaten für eine Konstitutionalisierung auf der Ebene der Subsysteme suchen.
Fischer-Lescano und Teubner werden bei den transnationalen Rechtsregimes fündig. Diese verfügen über strukturelle Kopplungen zu anderen »autonomen Sozialbereichen«. Allerdings lassen sich diese Kopplungen nicht so plakativ benennen wie für die territorial begrenzten Rechtssysteme. Ja, eigentlich werden sie überhaupt nicht benannt, sondern vorausgesetzt und behauptet. Es bleibt offen, wo konkret der Widerpart der Kopplung zu suchen ist. Handelt es sich um ein Funktionssystem als Ganzes oder um ein Subsystem? Offen ist ferner, welche Struktur die Kopplung bewirkt. Schließlich fehlen Angaben zu dem »Programm«, nämlich den Regeln, die darüber entscheiden, wie die Code-Werte zugeteilt werden, was also verfassungsmäßig oder verfassungswidrig ist.
Das jüngste Objekt der Konstitutionalisierung sind die transnationalen Unternehmen (Transnational Corporations = TNC) mit ihren Corporate Codes of Conduct (nicht zu verwechseln mit binären Systemcodes). Auch sie bilden »buchstäblich Verfassungen ohne Staat«.
Die Corporate Codes of Conduct werden von Teubner auch als Unternehmensverfassungen bezeichnet. Hier ist der Gebrauch des Verfassungsbegriffs doppelt verfehlt, nicht nur wegen der tendenziösen Konnotation zur Staatsverfassung, sondern auch deshalb, weil die Unternehmensverfassung als Terminus des Gesellschaftsrechts nicht mit einem Corporate Code of Conduct deckungsgleich ist.
TNC sind Organisationen, die man gleichzeitig als Rechtsgebilde und als Wirtschaftsunternehmen betrachten kann. So betrachtet gehören sie als Subsysteme sowohl dem Rechtssystem als auch dem Wirtschaftssystem an. Teubners These besagt, dass der Code of Corporate Conduct die strukturelle Kopplung zwischen dem Unternehmen als Teil des Rechtssystems und dem Unternehmen als Teil des Wirtschaftssystems herstellt. Bei den TNC wird klarer, wer mit wem wodurch verkoppelt ist, nämlich die TNC als Wirtschaftsunternehmen über ihre Codes of Conduct mit dem offiziellen Recht, und zwar hier speziell mit den Richtlinien für die Unternehmensverantwortung, wie sie von UNO, ILO und OECD vorgehalten werden.
Doch mit dem einfachen Ultrazyklus ist es nicht getan. Er wird zusätzlich noch durch eine »ultrazyklische Verknüpfung privater und staatlicher Codes« getoppt. Spätestens hier fällt es schwer, den systemtheoretischen Begriffsfaden festzuhalten, zumal wieder neue Begriffe eingeführt werden, die nicht zum geläufigen Bestand der systemtheoretischen Terminologie gehören: Rechtsräume, Systeme, die im strengen Sinne keine sind, strukturelle Schließungen.
»Es entstehen zwei unabhängige Rechtsräume, ein autonomes privat geordnetes zwingendes Binnenrecht der Unternehmen und ein staatlich geregeltes Ensemble normativer Verhaltensempfehlungen. Die genauere Bestimmung dieser wechselseitig geschlossenen Rechtsräume ist nicht einfach. Jedenfalls handelt es sich nicht um Systeme im strengen Sinne, die sich durch operative Schließung bilden. Ihre Schließung beruht gerade nicht auf der Unterschiedlichkeit ihrer Operationen, denn beide Code-Ordnungen werden durch Rechtsoperationen gebildet. Vielmehr entsteht ihre wechselseitige strukturelle Schließung durch strikte Geltungsbeschränkung auf den jeweiligen Bereich und durch ihre unterschiedliche Qualität als zwingende Normierung und bloße normative Empfehlung.«
Dann folgt ein Sprung von den Rechtsräumen zu »geschlossenen Netzwerken«. Das eine Netzwerk ist der »Rechtsraum« mit den privaten Codes of Conduct, das andere der »Rechtsraum« der völkerrechtlich basierten Codes. Um ein Netzwerk handelt es sich im ersteren Fall, weil die privaten Codes of Conduct nicht nur für ein Einzelunternehmen formuliert werden, sondern weil sie darüber hinaus für ganze Konzerne mit ihren Auslandsniederlassungen und schließlich für Zulieferunternehmen und Absatzketten gelten; im anderen Fall, weil es zwischen den Corporate Codes von ILO, UNO, OECD und EU Querverbindungen gibt. Und schließlich sind es diese Netzwerke, die strukturell verkoppelt sind.
Zur funktionalen Seite der Konstitutionalisierung vielleicht ein anderes Mal.
Nachtrag vom 22. Juni 2012:
Gunther Teubner lässt nicht locker, wenn es um seine Idee einer staatsunabhängigen Konstitutionalisierung geht. In der Reihe »Suhrkamp Wissenschaft« ist soeben der Band »Verfassungsfragmente: Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung« erschienen. Auf einer Tagung in Montcalieri bei Turin hat er seine Idee diskutieren lassen. Darüber berichtet Maximilian Steinbeis in der heimlichen Juristenzeitung vom 23. Mai 2012 S. N4 unter der Überschrift »Occupy the Law!«.
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