Von der geschlechtsspezifischen Bürgerschaft zum geschlechtsspezifischen Management

Durch ein Rundschreiben der Nationalen Kontaktstelle Sozial-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften – Ausgabe 20/2010 bin ich auf ein Seminar mit dem Titel »Geschlechtsspezifische Bürgerschaft im multikulturellen Europa« aufmerksam geworden. Der Begriff der geschlechtsspezifischen Bürgerschaft ist für mich neu. Durch Gugeln bin ich nur noch auf eine weitere Quelle gestoßen, die beiläufig besagt, dass da jemand eine Dissertation zu diesem Thema in Mexiko fertigstellen will. Das englische Original gendered citizenship führt ein Stück weiter. Da findet sich in der viel geschmähten Sammlung von Google ein Buch der Inderin Anapama Roy mit dem Titel »Gendered Citizenship. Historical and Conceptual Explorations« von 2005, bei dem – wie in vielen anderen Büchern auch – der interessanteste Teil die Einleitung ist, die die geistesgeschichtliche Entwicklung des Begriffs »citizenship« referiert. So habe ich gelernt, dass das Konzept der Bürgerschaft ursprünglich für weiße Männer in einer Klassengesellschaft entwickelt worden sei und daher den Bedürfnissen besonderer kultureller Gruppen nicht Rechnung trage. Darauf reagiere der Gegenentwurf einer differenzierten Bürgerschaft, der die Mitglieder gewisser kultureller Gruppen nicht bloß als Individuen, sondern als Angehörige der Gruppe begreife, die für ihre besonderen Bedürfnisse sorge. Man kann sich dann selbst ausrechnen, was gendered citizenship meinen könnte. Aber das interessiert mich gar nicht wirklich. Interessant fand ich dagegen den einzigen deutschen Text, in dem – wie bereits erwähnt – jedenfalls am Rande die geschlechtsspezifische Bürgerschaft auftaucht. Es handelt sich um eine von der EU gesponserte Studie über »Geschlechterquoten bei Wahlsystemen und ihre Umsetzung in Europa« aus dem Jahre 2008. [1]Die Autorenschaft ist so kompliziert, dass sie in die Fußnote verbannt wird. Verfasser: Drude Dahlerup und Lenita Freidenvall mit Unterstützung von Eleonora Stolt, Katarina Bivald und Lene … Continue reading Die bietet harte Rechtstatsachenforschung. Es geht darum, ob und unter welchen Umständen gesetzliche Geschlechterquoten oder von den Parteien freiwillig eingeführte Quoten ihre Wirkung tun. Da scheiden, wie der Vergleich von Deutschland und Frankreich zeigt, parteiinterne Quoten nicht schlechter ab. Das liegt vielleicht daran, dass die Parteien sozusagen die Türhüter der Wahllokale sind.
Nachdem in Deutschland und vielen anderen Ländern der emanzipatorische Feminismus seine Gleichberechtigungsziele erreicht hat, ist nun neben dem kulturellen Feminismus der Leadership-Feminismus angesagt. Dabei geht es um die Repräsentation von Frauen nicht nur in der Politik, sondern auch in Führungspositionen der Wirtschaft. In Analogie zur geschlechtsspezifischen Bürgerschaft kann man von geschlechtsspezifischem Management sprechen. Bisher gibt es den Begriff anscheinend nur in der Medizin, z. B. in der Knie-Endoprothetik.
Während für die Politik in Deutschland parteiinterne und in vielen andern Ländern auch gesetzliche Frauenquoten mehr oder weniger akzeptiert sind, sind sie für die Wirtschaft heftig umstritten. Heute will die EU-Kommissarin Viviane Reding eine Europäische Gleichstellungsrichtlinie vorlegen: 2015 soll der Frauenanteil in Aufsichtsräten 30 Prozent betragen, 2020 sollen 40 Prozent Frauen in Spitzenpositionen der Wirtschaft vertreten sein. Bisher liegt der Frauenanteil für ganz Europa wohl nur bei drei Prozent, bei deutschen DAX-Unternehmen immerhin bei 13 %. Damit stellt sich die Frage, ob auch in der Wirtschaft »freiwillige« Quotenregelungen die gleiche oder bessere Wirkung haben als obligatorische. Rechtssoziologische Empirie kommt da vermutlich, wie so oft, zu spät. Empiriefreie Paradoxologie könnte aber vielleicht das Paradoxon des paternalistischen Feminismus entfalten und invisibilisieren.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Die Autorenschaft ist so kompliziert, dass sie in die Fußnote verbannt wird. Verfasser: Drude Dahlerup und Lenita Freidenvall mit Unterstützung von Eleonora Stolt, Katarina Bivald und Lene Persson-Weiss, Forschungszentrum ›Women in Politics (WIP)‹, Abteilung Politikwissenschaft der Universität Stockholm, in Zusammenarbeit mit International IDEA

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Wandernde Rechtskonzepte

Die Übertragung von Ideen, Konzepten, Institutionen oder auch nur singulären Normen aus einem Rechtskreis in einen anderen bildet ein Standardthema der Rechtssoziologie. Es wird unter Stichworten wie Einfuhr und Ausfuhr, Rezeption und Oktroyierung von Recht, Rechtstransfer, legal transplant oder imposition of law abgehandelt. Kürzlich habe ich das Thema schon einmal angesprochen, als ich auf ein schönes paper von Andrea Behrends mit dem Titel »Traveling Models in Conflict Management« gestoßen war. Nun kommt es wieder aus einer ganz anderen Richtung. In Heidelberg gibt es in den nächsten Tagen einen Workshop »Migrating Ideas of Governance and Emerging Bureaucracies between Europe and Asia since the Early Modern Era«. Und gleich darauf noch eine größere Tagung mit dem »The Flow of Concepts and Institutions«. Das Beste daran ist bisher ein kleines Exposé von Susan Richter. Ich habe daraus vorab gelernt, dass man im 18. und 19. Jahrhundert zunächst chinesische Modelle der Bürokratie nach Europa importiert hat.
Wir reden in der Rechtssoziologie viel über Interdisziplinarität und denken dabei an Fremddisziplinen wie Neurowissenschaften, Psychologie, Ökonomie, Linguistik usw. usw. Aber wir schaffen es noch nicht einmal, uns innerhalb des weiteren Bereichs der Sozialwissenschaften wechselseitig wahrzunehmen. So behandelt die Heidelberger Tagung eine genuin rechtssoziologische Thematik. Aber das haben die Veranstalter anscheinend noch nicht gemerkt. Unter den vielen Beteiligten finde ich keinen aus der Rechtssoziologie bekannten Namen. Umgekehrt haben die Rechtssoziologen noch nicht wahrgenommen, was in Heidelberg an Rechtssoziologie unter fremdem Namen passiert. Bei mir verstärkt sich der Eindruck, dass es nicht unbedingt darauf ankommt, immer noch etwas (oft scheinbar) Neues zu finden, sondern wichtiger wäre, die längst vorhandenen Wissensbestände zu integrieren.

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Berichtsforschung: Die Hegemonie der westlichen Sozialwissenschaft und der englischen Sprache

Heute habe ich einmal wieder einen neuen Bericht gefunden, nämlich den von der UNESCO und dem International Social Science Council herausgegebenen World Science Report 2010. Der Band trägt den Untertitel »Knowledge Divides«. Gemeint ist die Teilung der Welt in Länder mit mehr oder weniger entwickelter Sozialwissenschaft.

Social scientists produce work of outstanding quality and tremendous practical value, but, as this Report illustrates, social scientific knowledge is often the least developed in those parts of the world where it is most keenly needed – hence this publication’s title, ›Knowledge Divides‹.

Die Beiträge sind durchgehend sehr kurz (drei bis fünf Seiten) und entsprechend zahlreich. Ich habe mich zunächst auf die Kapitel vier (Uneven Internationalization) und fünf (Homogenizing or Pluralizing Social Sciences?) konzentriert und im Übrigen die 430 Seiten daraufhin durchgeblättert, was für die Rechtssoziologie von Interesse sein könnte. Heute will ich nur auf zwei Beiträge aus Kapitel 4 eingehen, nämlich auf

Yves Gingras/Sébastien Mosbah-Natanson, Where are Social Sciences Produced?(S. 149-153)
Ulrich Ammon, The Hegemony of English, S. 154-155.

Die Globalisierung der Kommunikation durch neue Technologien verlangt nach einer globalen Sprache. Als solche hat sich das Englische durchgesetzt. Durch den britischen Kolonialismus erhielt das Englische einen Startvorteil. Amerikanische Wirtschaftsmacht, zwei Weltkriege, in denen England und die USA dominierten, und schließlich der Zusammenbruch des Ostblocks haben die Expansion der englischen Sprache beschleunigt. Das Englische ist zur Sprache der internationalen Wirtschaft, der Wissenschaft, der Computerwelt, des Luftverkehrs und der Unterhaltungsindustrie geworden. Nicht zuletzt ist es auch die Sprache des internationalen Rechts. Es ist die Sprache der Globalisierung schlechthin. Das mittelalterliche Latein als die Lingua Franca seiner Zeit war insofern egalitär, als jeder es erst lernen musste. Das Englische dagegen ist »asymmetrisch« (Ammon). Es ist die Muttersprache nicht nur der Engländer und Amerikaner, sondern auch der meisten Australier und Neuseeländer, vieler Kanadier, Inder und anderer mehr. Sie haben damit einen Heimvorteil, der kaum aufzuholen ist. Es gilt das Prinzip der Vorteilsakkumulation (accumulated advantage; Matthäus-Prinzip).
94 % aller im Social Science Citation Index (SSCI) registrierten Artikel und 85 % der begutachteten sozialwissenschaftlichen Zeitschriften erscheinen in englischer Sprache, ebenso über 75 % der Publikationen, die in der International Bibliography of the Social Sciences verzeichnet sind (Gingras/Mosbah-Natanson S. 151). Die USA produzieren mit jährlich über 10.000 einschlägigen Arbeiten immer noch die Hälfte der sozialwissenschaftlichen Forschung. Dabei ist der relative Anteil der Amerikaner von 61 % im Zeitraum von 1988 bis 1997 auf 52,2 % im Zeitraum von 1998 bis 2007 zurückgegangen. Gestiegen ist aber vor allem der Anteil Europas, und zwar von 29, 1 auf 38 %. Das heißt, wer in den Schwellen- und Entwicklungsländern Sozialwissenschaften betreibt, ist weitgehend darauf angewiesen, für den Stand der Forschung »westliche«, vor allem amerikanische und europäische Literatur zu zitieren, und zwar Literatur in englischer Sprache. Der Informationsfluss der Wissensgesellschaft ist englisch gefärbt. Ammon spricht daher von der Hegemonie des Englischen.
[Fortsetzung folgt – vielleicht.]

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Die Bertelsmann-Stiftung als Ghostwriter der Politik

Vor Jahr und Tag hatte ich hier einige Zeilen über die Bertelsmann-Stiftung geschrieben. Nun feiert der Medienkonzern den 175. Geburtstag, und diesem Anlass widmete das Feuilleton der heimlichen Juristenzeitung gestern fast die ganze erste Seite. Unter der Überschrift »Grundgütiges aus Gütersloh« setzt sich dort der Hamburger Notar Peter Rawert kritisch mit der Rechtskonstruktion der sogenannten Doppelstiftung auseinander, die es gestattet, mit Hilfe der gemeinnützigen Stiftung den Konzern am Rande der Legalität steuersparend zu beherrschen. Und unter der Überschrift »Bertelsmanns Republik?« nimmt Jürgen Kaube die Politikberatung durch die Bertelsmann-Stiftung aufs Korn. Beide Artikel – die in FAZ.NET leider nur für Abonnenten frei zugänglich sind – verweisen auf ein eben im Campus-Verlag erschienenes Buch des Journalisten Thomas Schuler: Bertelsmann Republik Deutschland. Eine Stiftung macht Politik.
Die Kavallerie der Ökonomisierung, so hatte ich die Bertelsmann-Stiftung genannt. Mehr als das, sie ist der Ghostwriter der Politik. Ich muss gestehen, dass ich die Bertelsmann-Stiftung bewundere. Hunderte von Politikwissenschaftlern, Ökonomen und Rechtssoziologen scheitern mit dem Versuch, sich bei der Politik Gehör zu verschaffen. Nur die Bertelsmann-Stiftung schafft es immer wieder. Um nur die wichtigsten Beispiele zu nennen: Sie hat das Neue Steuerungsmodell in Verwaltung und Justiz lanciert, sie hat die Hartz IV-Gesetze geprägt, und sie hat der Hochschulreform die Richtung gewiesen. Die zugrunde liegende Forschung als solche ist, soweit ich das beurteilen kann, durchaus in Ordnung. Viele Universitätsinstitute wären glücklich, wenn sie Vergleichbares geleistet hätten. Was lerne ich daraus? Die Kapitel Politikberatung und Wertfreiheit der Wissenschaft müssen zwar nicht neu geschrieben werden. Aber sie erhalten neue, eindrucksvolle Beispiele.

Nachtrag vom 17. Juli 2016

Über »Entmündigung als Bildungsziel« schreibt Thomas Thiel heute einen großen Artikel in der heimlichen Juristenzeitung. Darin beklagt er den fehlenden Datenschutz bei den Online-Tutorials insbesondere amerikanischer Anbieter, der dazu führen könne, dass die Bildungsbiographien der Lerner mit ihren persönlichen Daten, mit ihren Stärken, Schwächen und Vorlieben gespeichert und kommerziell verwertet werden, insbesondere auch als Angebot an das Personalmanagement. Er beklagt, dass auch die deutschen Universitäten sich mehr oder weniger kritiklos dieser Praxis bedienen und dass dabei die Bertelsmann Stiftung mit ihrem Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) als Antreiber fungiert.

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Stefan Magen wird Nachfolger von Ralf Poscher in Bochum

Nun ist es amtlich: Der Dekan hat in der vergangenen Woche mitgeteilt, dass Privatdozent Dr. Stefan Magen den Ruf auf den Lehrstuhl Öffentliches Recht, Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie in der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität (Nachfolge Professor Poscher) angenommen hat. Ich gratuliere und wünsche alles erdenklich Gute.
Herr Magen war schon einmal in Bochum, nämlich von 1992 als Hilfskraft und wissenschaftlicher Mitarbeiter an eben diesem Lehrstuhl. Nach einer Station als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht von 1998 bis 2001 war Herr Magen am Max-Planck-Institut für Gemeinschaftsgüter in Bonn tätig, wo er sich mit einer Arbeit über »Gerechtigkeit als Proprium des Rechts. Eine deskriptive Theorie auf empirischer Grundlage« habilitiert hat. Den Arbeitsgebieten von Herrn Magen entsprechend lautet die Lehrstuhlbezeichnung künftig »Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Rechtsökonomik«. Damit hat der Lehrstuhl also die Rechtssoziologie mindestens aus dem Namen verloren. Es bleibt aber zu hoffen, dass es über die Verhaltensökonomik eine Brücke zur Rechtssoziologie geben wird.

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Zur Legalisierung von Cannabis

Drei Dinge kamen zusammen und sind Anlass für diese Stellungnahme:
1. Es gibt interessante neue Literatur zur Geschichte der Prohibition in den USA. [1]Mark Lawrence Schrad, The Political Power of Bad Ideas. Networks, Institutions, and the Global Prohibition Wave, Oxford 2010. Das in diesem Zusammenhang wichtige Kapitel findet man auch unter dem … Continue reading
2. Der neue von der SPD gestellte Justizminister in Düsseldorf, Kuschaty, will die Toleranzgrenze für den straffreien Besitz von Haschisch und Marihuana auf zehn Gramm anheben.
3. Eine freundlicher Mitmensch hatte mir zum Geburtstag ein Jahresabonnement des Wirtschaftsmagazins »brand eins« geschenkt (das ich sonst kaum zur Kenntnis genommen hätte). Dort findet sich im Septemberheft (S. 12 f.) ein Artikel von Harald Willenbrock mit dem Titel »Weshalb ist Alkohol hierzulande erlaubt, Haschisch jedoch verboten?« Darin stellt Willenbrock die schädlichen Wirkungen von Alkohol-, Nikotin- und Cannabiskonsum gegenüber, erwähnt die Kosten des aussichtslosen Kampfes zur Durchsetzung des Cannabisverbots und verweist auf Bestrebungen zur Liberalisierung in Kalifornien und Dänemark.
In der »Rechtssoziologie« von 1987 hatte ich an Hand der damals verfügbaren Literatur über das Scheitern der Prohibition in den USA berichtet (S. 253 f.). Der Abschnitt beginnt:

Ein Lehrstück für die Grenzen des Rechts bei der unmittelbaren Einwirkung auf individuelles Verhalten bildet die Geschichte der Prohibition in den USA zwischen 1920 und 1932.

Als »Lehre« hatte ich damals zwei Dinge im Auge, nämlich erstens das Phänomen, dass Lebensbereiche wie der Umgang mit Alkohol und Rauschmitteln dem Modell rationalen Verhaltens im Sinne von rational choice weniger zugänglich sind als andere, und zweitens, dass die Verbotspolitik ihrerseits nicht als rational im Sinne instrumentellen Handelns gelten darf, sondern den symbolischen Ausdruck moralischer Überzeugungen bildet. Heute ist es an der Zeit, auch die politisch praktische Lehre zu ziehen, die ich damals nicht gewagt habe. Sie kann nur lauten, dass weiche Drogen legalisiert werden sollten.
Drogen schaden der Gesundheit und sind allein in Deutschland jährlich für über 200.000 Menschen tödlich. Sie sind mindestens deshalb auch wirtschaftlich schädlich, und sie sind sozial bedenklich, weil sie Lebensläufe und soziale Beziehungen zerstören können. Es gibt auf den ersten Blick also allen Grund, Drogen zu verbieten, wie es in Deutschland durch das Betäubungsmittelgesetz geschieht. Es gibt aber drei prinzipielle Probleme. Das erste ist die Ungleichbehandlung verschiedener Drogen, das zweite die Nebenwirkungen des rechtlichen Verbots und vor allem der Strafverfolgung. Das dritte Problem liegt auf der normativen Ebene: Wieweit darf der Staat die Individuen vor Selbstschädigung schützen? Wieweit muss er mit Rücksicht auf Drittinteressen eingreifen?
Die Ungleichbehandlung wird deutlich, wenn man die schädlichen Wirkungen der verschiedenen Drogen nebeneinander stellt. Verboten sind in Deutschland (und in den meisten anderen Ländern) Opiate und Heroin, Amphetamine, Kokain und Haschisch/Marihuana. Erlaubt dagegen sind Alkohol und Nikotin. Die wichtigsten Vergleichskandidaten sind Cannabis einerseits sowie Alkohol und Nikotin andererseits.
Man darf die Cannabiswirkungen nicht verharmlosen. Willenbrock verweist dazu auf eine Metastudie der australischen Wissenschaftler Wayne Hall und Louisa Degenhardt aus dem Jahr 2009 [2]Adverse Health Effects of Non Medical Cannabis Use, The Lancet 374, 2009, 1383-1391.. Die individuellen Wirkungen sind anders, aber sicher nicht leichter als die von Alkohol und Nikotin. Ich zitiere aus einer Zusammenfassung des genannten Artikels:

Die wahrscheinlichsten unerwünschten Folgen des Cannabiskonsums sind ein Abhängigkeitssyndrom, ein erhöhtes Risiko für Verkehrsunfälle, gestörte Atemwegsfunktionen, Herzkreislauferkrankungen und nachteilige Effekte des regelmäßigen Konsums auf die psychosoziale Entwicklung der Heranwachsenden und die psychische Gesundheit.

Etwa neun Prozent der Personen, die jemals Cannabis konsumiert haben, sollen davon abhängig werden. Auch psychotische Störungen werden beobachtet. Wichtiger aber scheint mir: Die kumulativen Wirkungen von Cannabis sind um die Größenordnung zehn niedriger als die von Alkohol und Nikotin. Immerhin scheint das individuelle Risiko bei regelmäßigem Cannabiskonsum doch größer zu sein als bei Alkohol. Ich zitiere noch einmal aus derselben Quelle:

Die Autoren stellen fest, dass die Belastung der öffentlichen Gesundheit durch Cannabiskonsum im Vergleich zu Alkohol, Tabak und anderen illegalen Drogen noch relativ gering sei. Eine kürzlich erfolgte australische Studie schätzte, dass der Cannabiskonsum nur zu 0,2 Prozent zur Gesamtbelastung durch Krankheiten beitrage, und dass in einem Land, in dem höchste Cannabiskonsum-Raten verzeichnet werden. Cannabis wird für zehn Prozent der Belastungen verantwortlich gemacht, die durch alle illegalen Drogen entstehen (darunter Heroin, Kokain und Amphetamine). Außerdem werden zehn Prozent der Krankheitsbelastungen durch Alkohol (2,3 Prozent), jedoch nur 2,5 Prozent der Belastungen durch Tabak (7,8 Prozent) dem Cannabis angelastet.

Alkoholgenuss, so zitiert Willenbrock Mechthild Dyckmans, die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, gehöre nun einmal zur Kultur und sei »aus unserem gesellschaftlichen Leben nicht mehr wegzudenken«, die Freigabe von Cannabis sei dagegen für die Bundesregierung tabu. Willenbrock kommt zu dem Schluss:

»Man muss kein Quartalskiffer sein [3]Ich habe es nie probiert., um die Kriminalisierung von Cannabis für kontraproduktiv, kostspielig und verlogen zu halten.«

Dagegen finde ich keine Argumente, sondern nur die Erklärung, dass hier nach wie vor im Hintergrund ein Wertkonflikt ausgetragen wird, bei dem Cannabis nur als Symbol für eine bestimmte Weltsicht steht. [4]Ich wäre allerdings sehr vorsichtig, diese Argumentation auf die sog. Harten Drogen zu übertragen. Hier passt noch weitgehend die alte Schablone von links und rechts. Symbol des Symbols ist hier der frühere Richter und heutige Bundestagsabgeordnete der Linken Wolfgang Nešković, der als Vorsitzender Richter am Landgericht Lübeck 1992 dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorlegte, ob die Kriminalisierung des Besitzes von Cannabisprodukten im Hinblick auf die Legalität des viel gefährlicheren Alkohols nicht gegen den Gleichheitssatz verstoße. Der Vorlagebeschluss hat damals die Gefährlichkeit von Cannabis aus heutiger Sicht verharmlost. Und dennoch bleibt der Vergleich mit dem Alkohol triftig. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Cannabis-Beschluss (E 90, 145) letztlich einen Verfassungsverstoß verneint, weil die Möglichkeit bestehe, in Bagatellfällen durch das Absehen von Strafe (§ 29 Abs. 5 BtMG) oder Strafverfolgung (§§ 153 ff StPO, § 31a BtMG) dem Verdikt der Unverhältnismäßigkeit auszuweichen. Es erscheint wenig aussichtsreich, erneut verfassungsrechtlich gegen die Kriminalisierung von Cannabis zu argumentieren.
Warum hat sich das Cannabisverbot nicht von selbst erledigt wie einst die Alkoholprohibition? Immerhin hatte John Kaplan 1971 von einer »New Prohibition« gesprochen [5]John Kaplan 1971, Marihuana: The New Prohibition, New York 1971. gesprochen, um auszudrücken, dass das Recht mit der Kriminalisierung von Marihuana wieder auf dem zur Erfolglosigkeit verurteilten Weg sei, ein Verhalten, dessen Schädlichkeit nicht klar erwiesen sei und das von weiten Kreisen der Bevölkerung gebilligt oder gar praktiziert werde, aus moralischen Gründen zu verbieten. Der Grund liegt wohl darin, dass bei der Zahl der Cannabiskonsumenten die kritische Masse nicht erreicht wird. Die Zahl der Alkoholkonsumenten und damit Interessenten liegt mindestens um den Faktor 30 höher. [6] Zahlen im Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung 2009. Denkbar wäre das ja, dass man die Wirtschaft ankurbeln möchte, indem man die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen erhöht. Ich halte die Politik aber nicht für so zynisch ist, dass sie den volkwirtschaftlichen Schaden des Alkoholkonsums, der vor allem aus Gesundheitskosten und Arbeitsausfall resultiert und der in der Größenordnung von 20 Milliarden zu suchen ist, gegen die wirtschaftliche Bedeutung der Spirituosenindustrie aufrechnet.
Es geschehen manchmal Zeichen und Wunder. Wer hätte vor zwanzig Jahren gedacht, dass es gelingen würde, das Rauchen in der Öffentlichkeit soweit zurückzudrängen? Mit dem Bundesverfassungsgericht würde ich das »Recht auf Rausch« verneinen. Umgekehrt wäre es illiberaler Paternalismus, Alkohol und Nikotin von Staats wegen zu verbieten. Aber eine Prävention gegen Alkohol- ebenso wie gegen Nikotinmissbrauch ist nicht nur unbedenklich, sondern angezeigt. Es sieht so aus, als ob nun auch der Alkohol in die Defensive gerät. Vielleicht lesen wir bald auf jeder Flasche »Alkohol schadet der Gesundheit! Alkohol kann tödlich sein.« Da wäre es doch naheliegend, dass die Spirituosenindustrie sich für die Freigabe von Cannabis stark macht. Dann hätte die Sache vielleicht auch im politischen Raum eine Chance. Die Mittel für die notwendige Prävention – die auch jetzt schon aufgewendet werden –, lassen sich aus einer Cannabissteuer erzielen. Non olet.
Nachtrag vom 26. 9. 2010: In der FamS schreibt heute Paul Nicolas Hinz einen ganz interessanten Artikel »Trinker und Raucher kosten die Gesellschaft 60 Milliarden Euro«. [7]Der Artikel ist Online nur für Abonnenten zugänglich. Er bezieht sich dabei auf den Hamburger Rechtsökonomen Michael Adams. Auf dessen Homepage ist dazu nichts Aktuelles zu finden. Interessant scheint mir aber immer noch ein älterer Aufsatz zu der Frage »Wie zerstört man den Markt für Rauschgifte?«. Auch wenn er eigentlich die harten Drogen betrifft, wäre doch daraus für Cannabis-Produkte zu lernen, dass Freigabe nicht völlige Freigabe bedeuten kann, sondern kontrolliert nur soweit gehen sollte, dass der illegale Markt austrocknet.
Nachtrag vom 27. 10. 2010: Rein zufällig hatte ich gerade einen älteren Artikel von Sebastian Scheerer aufgeschlagen: The New Dutch and German Drug Laws: Social and Political Conditions for Criminalization and Decriminalization, Law and Society Review 12, 1978, 585-606. Ende der 1960er Jahre verbreitete sich in den Niederlanden und etwas später auch in der Bundesrepublik der Gebrauch von Cannabis und dann auch von Heroin, so dass von einer Rauschgiftwelle die Rede war. Beide Länder reagierten mit einer Reform ihrer Betäubungsmittelgesetze, die Bundesrepublik mit einer generellen Verschärfung, die Niederlande mit einer Verschärfung nur für den organisierten Rauschgifthandel, dagegen mit einer Milderungen der Sanktionen für bloße Konsumenten und in der Folgezeit der de facto Duldung des Konsums. Scheerer nimmt diese Gesetzgebung als Beispiel zum Test allgemeinerer Theorien über die Ursachen von Kriminalisierung und Dekriminalisierung. Scheerer beschreibt, wie die Dekriminalisierung des Drogenkonsums in den Niederlanden von politischen Machteliten gegen die öffentliche Meinung betrieben wurde.

Criminal legislation “from above” is directed not by public opinion but by the powerful. In legal democratic societies the powerful are organized social groups and the bureaucratic apparatus of government. It is their perception that determines where legislative action is needed. When they articulate their legislative interests the articulation alone is sufficient to create a political vacuum or a “policy deficit”, which every government must fill with some activity if it has not completely lost interest in remaining in power. These groups exercise a high degree of control over the political process. They are seldom progressive and often morally conservative. But if public opinion is punitive and repressive, the morally conservative masters of policy deficits are the only ones who can successfully decriminalize. The remarkable thing is that they do so.

Das ist natürlich kein Automatismus. Es kommt immer auf die Randbedingungen an. In Deutschland waren Polizei und vor allem Ärzteschaft gegen eine Entkriminalisierung. Für die Niederlande verweist Scheerer auf das als Versäulung der Gesellschaft bekannte Phänomen und die daraus folgende spezifische Toleranzhaltung. Da hat sich anscheinend in der Zwischenzeit etwas geändert.
Nachtrag: Die Kalifornier haben am 2. November 2010 die Proposition 19 zur Legalisierung von Cannabis abgelehnt. Ohnehin hätte wohl Kalifornien als Bundesstaat gar keine ausreichende Gesetzgebungskompetenz gehabt, um Anbau, Besitz und Verbrauch von Marihuana wie beabsichtigt straffrei zu stellen. Dazu in der heimlichen Juristenzeitung vom 2. November S. 20 der Artikel von Roland Lindner: Mit Marihuana gegen die Haushaltskrise.
Nachtrag vom 4. 2. 2011: Die Studie »Alkoholkonsum Jugendlicher und junger Erwachsener in Deutschland 2010« steht unter http://www.bzga.de >Forschung > Studien/Untersuchungen > Studien zum Download bereit.
Nachtrag vom 11. 3. 2011: Nach einer neuen Pressemitteilung soll eine neue Studie der University of New South Wales, Sydney, belegen, dass der Genuss von Cannabis den Ausbruch psychischer Erkrankungen in den entscheidenden Jahren der Gehirnentwicklung um bis zu 2,7 Jahren beschleunigen kann.
Nachtrag vom 19. 11. 2020: Drogen-Trip ins Krankenhaus – Ulmer Studie zeigt starke Zunahme von Cannabis-Psychosen: Seit 2011 hat sich am Universitätsklinikum Ulm die Zahl der Psychiatriepatienten mit Cannabis-Psychose vervielfacht. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III. Mögliche Ursache ist der hohe THC-Wert von hochpotenten Neuzüchtungen sowie von synthetischen Cannabis-Produkten. Ein weiterer Grund könnte die ab 2017 geltende gesetzliche Zulassung von medizinischem Cannabis sein: Maximilian Gahr/Julia Ziller/Ferdinand Keller/Carlos Schönfeldt-Lecuona, Increasing Proportion of Cannabinoid-Associated Psychotic Disorders: Results of a Single-Center Analysis of Treatment Data From 2011 to 2019, Journal of Clinical Psychopharmacology 40, 2020, 642-645.
Nachtrag vom 5. 3. 2021: Einer von zehn Konsumenten entwickelt eine Cannabiskonsumstörung. Das ist der Tenor eines Übersichtsartikels, der soeben in dem des britischen Wissenschafts-Magazins Nature veröffentlicht wurde (Cannabis Use and Cannabis Use Disorder, Nat Rev Dis Primers 7, 17, 2021, https://doi.org/10.1038/s41572-021-00256-3).

Aus der Pressemitteilung des Universitätsklinikums München, wo die Mitautorin Eva Hoch tätig ist:

»Nach Angaben der Vereinten Nationen nutzen etwa 193 Millionen Menschen pro Jahr Cannabis, das aus der Hanfpflanze gewonnen wird. Und anderem mit diesen Konsequenzen: Neben dem kurzfristigen, berauschenden Gefühl verringert Cannabis die Aufmerksamkeit und schränkt die Psychomotorik ein, das Risiko für Arbeits- und Verkehrsunfälle steigt. Zudem kann bei genetischer Vorbelastung schon einmaliger Konsum eine Psychose auslösen, das Risiko für psychische Störungen ist ebenfalls erhöht.

Teenager, die Cannabis konsumieren, haben häufiger Schulprobleme, brechen ihre Ausbildung öfter ab. Einer von zehn Konsumenten entwickelt eine Cannabiskonsumstörung. Aber nicht jeder hat das gleiche Risiko dafür. ›Neben einer genetischen Vulnerabilität gibt es verschiedene psychische und soziale Risikofaktoren. Ob sich aus dem Cannabiskonsum eine Abhängigkeit entwickelt, hängt auch davon ab, wie intensiv man vor dem 16. Lebensjahr konsumiert‹, erklärt PD Dr. Hoch. ›Besonders in der Pubertät bis hin zum jungen Erwachsenenalter verändert Cannabis die Struktur und die Funktion des Gehirns.«

Seit den Hippie-Zeiten in den 1970er Jahren hat sich die Droge stark verändert. In den letzten zehn Jahren hat sich der psychoaktive Hauptwirkstoff in der Hanfpflanze, das Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC), durch spezielle Züchtungen fast verdoppelt. Das nicht-berauschende Cannabidiol (CBD), dem schützende Eigenschaften zugeschrieben werden, ist oftmals nicht mehr in der Droge vorhanden. Die Pflanze enthält nach heutigem Kenntnisstand mindestens 150 Cannabinoide, die wenigsten davon sind erforscht.«

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Mark Lawrence Schrad, The Political Power of Bad Ideas. Networks, Institutions, and the Global Prohibition Wave, Oxford 2010. Das in diesem Zusammenhang wichtige Kapitel findet man auch unter dem Titel »The Transnational Temperance Community« in: Marie-Laure Djelic/Sigrid Quack (Hg.), Transnational Communities, Cambridge 2010, S. 255–281.
2 Adverse Health Effects of Non Medical Cannabis Use, The Lancet 374, 2009, 1383-1391.
3 Ich habe es nie probiert.
4 Ich wäre allerdings sehr vorsichtig, diese Argumentation auf die sog. Harten Drogen zu übertragen.
5 John Kaplan 1971, Marihuana: The New Prohibition, New York 1971.
6 Zahlen im Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung 2009.
7 Der Artikel ist Online nur für Abonnenten zugänglich.

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Über das Buch »Plunder« von Mattei und Nader

Heute wird es etwas länger. Aber niemand muss das lesen. Ich schreibe in erster Linie für mich selbst.
Laura Nader braucht nicht vorgestellt zu werden. Ugo Mattei war mir bisher nicht bekannt. Er ist Italiener und heute Professor an der University of California, Hastings College of Law. Er kommt von der International University College of Turin, die sich auf ihrer Internetseite mit großen Namen schmückt und als ein Ort vorstellt:

where global law and economics are critically understood with the help of such scholars like Duncan Kennedy (Harvard), Guido Calabresi (Yale), and Gustavo Zagrebelsky (Former Italian Chief Justice). Nobel Laureate Amartya Sen sits in its advisory board.

Nader und Mattei haben 2008 ein Buch veröffentlicht, das in den USA einige Beachtung gefunden hat, in Deutschland aber kaum rezipiert worden ist:

Plunder: When the Rule of Law is Illegal
Wiley-Blackwell, 2008
296 Seiten; $84.95 (in Deutschland 63,95 EUR)

Wer das Buch nicht zur Hand hat, kann sich bei Youtube ein Vodcast mit einem Vortrag von Laura Nader anhören. Ferner stehen im Internet einschlägige Manuskripte von Ugo Mattei und Nader zur Verfügung. [1]Laura Nader, Controlling Processes – Tracing the Dynamic Components of Power, 1997; Ugo Mattei/Marco de Morpurgo, Global Law and Plunder: The Dark Side of the Rule of Law, 2009. Und hier gibt es auch ein schönes Bild von beiden, wie sie ihr Buch vorstellen.
Auf der Höhe seiner Macht beherrschte das antike Rom fast die ganze damals bekannte Welt. Das römische Recht galt als universales Weltrecht. Doch das römische Reich zerfiel und mit ihm Anwendung und Kenntnis des römischen Rechts. Seit 1100 unterrichtete Irnerius in Bologna wieder römisches Recht, wie es Justinian im Corpus Juris Civilis hatte zusammenstellen lassen. Irnerius und seine Nachfolger, die Glossatoren, lehrten das römische Recht nicht als historische Reminiszenz und auch nicht als das Recht Italiens, sondern als das jus commune, als Weltrecht, das für das ganze Abendland Geltung beanspruchen sollte, soweit nicht besondere lokale Rechte entgegenständen. Sie waren überzeugt von dem inneren Wert des römischen Rechts, das als einziges ein vollständiges und durchgearbeitetes System mit klaren und anwendungsgeeigneten Begriffen anbot und damit nicht bloß als eines unter anderen, sondern als das Recht schlechthin, als ratio scripta, erschien. Der Erfolg war ungeheuer. Aus dem ganzen Abendland zogen die Studenten zu Tausenden nach Italien und ließen sich im römischen Recht ausbilden. In ihre Heimat zurückgekehrt, die politisch in viele kleine Territorien zersplittert war, stießen sie in eine Lücke. Es fehlte ein übergreifendes, einheitliches Recht. Im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts wurde so in Kontinentaleuropa das römische Recht als jus commune, als common roman law, zur universellen Rechtsquelle. Könnte sich eine solche Entwicklung heute wiederholen?
Wenn wir Ugo Mattei und Laura Nader folgen, ist sie längst in vollem Gange. An die Stelle des römischen jus commune ist die amerikanische rule of law getreten, kombiniert mit Ideen von politischer Freiheit, Demokratie, Gleichberechtigung und Menschenrechten. Doch nach Mattei und Nader verbreitet sich dieser Rechtskomplex nicht wegen seiner inneren Überzeugungskraft oder Werthaftigkeit, sondern er dient dem politisch-militärisch-ökonomischen Machtkomplex des Westens, in erster Linie der USA, als Mittel und Rechtfertigung zur Ausbeutung der Welt.
Plunder ist Plünderung oder Ausbeutung. Die These des Buches sagt: Seit Beginn der Kolonialisierung dienten europäische und später europäisch-amerikanische Rechtskonzepte als Instrument und Legitimation für die Ausbeutung der Welt durch die europäischen Kolonialmächte und die USA. Zwar habe sich die Erscheinungsform des Rechts gewandelt, doch das Prinzip sei geblieben: Columbus segelte mit einem Notar an Bord der Santa Maria in die neue Welt, um die neu entdeckten Territorien für Spanien zu reklamieren. Das Konzept der terra nullius diente zur Inbesitznahme von Kolonien. Mehr oder weniger gewaltsam wurde ihnen europäisches Recht oktroyiert, um ihren Widerstand gegen Ausbeutung zu brechen. Auch in moderner Gestalt dient das Recht immer noch dazu, die Schwachen weiter zu schwächen und ihre Ressourcen zu plündern. Zur Rechtfertigung diene das Defizitargument (lack of rule of law): Den Drittländern fehlt ein geeignetes Rechtssystem. Ihnen fehlt es an Entwicklung und Zivilisation, ihnen fehlen die Kapazitäten, um die Reichtümer ihres Landes zu nutzen. Sie haben kein Recht, das diesen Namen verdient, keine Verträge, kein Eigentum. Was da vorhanden ist, ist bloße Sitte, Tradition oder Religion. Ihnen fehlt eine minimale Ausstattung mit Institutionen, die die Entfaltung eines effizienten Marktes möglich macht.
Vorab räumen Nader und Mattei zwei mögliche Angriffspunkte aus: Sie erklären, dass man sicher auch über chinesischen, japanischen, russischen oder islamischen Imperialismus reden könne. Das aber sei jetzt nicht ihr Thema (S. 2). Und sie konzedieren, dass Demokratie und Rechtsstaat auch eine »helle« Seite haben. Aber sie wollen sich auf die Schattenseite konzentrieren, die im Zuge der Globalisierung das westliche Rechtskonzept verdunkelt habe.
Ihre Kritik hat zwei Angriffspunkte. Erstens beanstandet sie, die Entwicklungs- und Transformationshilfe durch Rechtsmodernisierung sei von einer Ideologie der Überlegenheit westlicher Kultur getragen. Zweitens wendet sie sich gegen das neoliberale Konzept der Marktwirtschaft, von dem sich westliche Regierungen und die Bretton-Woods-Institutionen haben leiten lassen. Für die Rechtssoziologie sind diese Kritikpunkte deshalb relevant, weil als Vehikel kultureller Rücksichtslosigkeit und wirtschaftlicher Kolonialisierung rechtliche Formen ausgemacht werden, die zusammenfassend als rule of law gekennzeichnet werden. Mattei und Nader behaupten, dass die USA und andere westliche Staaten durchgehend rechtliche Formen nutzten, um andere Staaten in einen Zustand struktureller Ungleichheit zu versetzen oder darin festzuhalten und dabei mit der Berufung auf die rule of law einen Anschein von Gerechtigkeit und Fairness verbreiteten, der geradezu das Gegenteil von dem verdecke, was er verspreche.
Rule of law, Demokratie und Menschenrechte – so Mattei und Nader – werden zwar nur noch ausnahmsweise mit Gewalt oktroyiert. In der Regel genügten Verhandlungen, wirtschaftlicher Druck und das Geld, das Weltbank und der Internationale Wahrungsfonds auf der Grundlage des Washington Consensus verteilen. An die Stelle der Zivilisierung der Wilden durch christliche Mission seien im Laufe der Zeit »Modernisierung«, wirtschaftliche Entwicklung und Verbreitung von Demokratie getreten. Aber das Ergebnis sei geblieben, nämlich die Stärkung der Starken und die Ausbeutung der Schwachen. Das alles geschehe unter dem in sich unklaren und deshalb so leicht von allen Seiten akzeptierten Konzept der rule of law.
Früher einmal habe die Berufung auf die rule of law dazu gedient, die Privilegien des Adels, des Parlaments und der Juristen gegen Modernisierungsversuche der Monarchie zu verteidigen. Heute sei sie das Rückgrat der Wirtschaftsverfassung; sie sichere das ohnehin ungleich verteilte Eigentum und gestattete intern wie extern die Ausbeutung der Schwachen. Wo immer die Herrschaft des Rechts eine Lücke lasse, seien Eingriffe und Angriffe gerechtfertigt wie die Natoangriffe im früheren Jugoslawien oder die Invasionen im Irak und in Afghanistan. Nach diesem Muster interpretieren Mattei und Nader mehr oder weniger alle Ereignisse der neueren Geschichte; Spanische Konquistadoren missionierten die Maya und Inka gestützt auf das moralische Argument, diese praktizierten Menschenopfer. Auf der Berlin-Konferenz von 1889 wurde Afrika unter den Kolonialmächten aufgeteilt, um die Reste des Sklavenhandels zu beseitigen. Der Opiumkrieg habe dazu gedient habe, Asien für die europäischen Märkte zu öffnen. Aktuellere Beispiele für »plunder« bieten die Verursachung der argentinischen Schuldenkrise von 2002 durch amerikanische Gläubiger, der amerikanische Zugriff auf das Öl im Irak, das Urheberrechtsregime der WTO, die Patentierung von Naturstoffen und traditionellen Verfahren.
Das Konzept des Neokolonialismus sei einfach und raffiniert zugleich. Es brauche weder Krieg noch offene Diskriminierung. Man müsse nur offene Märkte bauen und sie mit der rule of law verkleiden. Als Akteure werden Wall Street, Corporate America, lokale Eliten und die globalen Entwicklungshilfeinstitutionen, in zweiter Linie die großen amerikanischen Banken und Anwaltsfirmen, die sie bedienen, ausgemacht. Entwicklungsländer würden von der Weltbank, dem IMF, USAID und der Europäischen Entwicklungsbank zur Übernahme westlicher Standards mit der Drohung veranlasst worden, andernfalls würden sie vom Weltmarkt ausgeschlossen. Ihr Finanzbedarf zwinge sie, sich dem Regime dieser neuen Weltgesetzgeber zu unterwerfen. Das läuft dann so wie bei der argentinischen Schuldenkrise (S. 37): Zunächst gibt es für ein Land der Dritten Welt (scheinbar) günstige Kredite, die dazu führen, dass die lokalen Eliten an Stelle produktiver Investitionen üppig konsumieren. Wenn das Land dann tief verschuldet ist, setzt der IWF strukturelle Reformen durch, die regelmäßig den starken Großgläubigern zugutekommen, kleine Investoren und die lokale Wirtschaft aber ruinieren. Selbst der Kampf gegen die Frauenbeschneidung und das Tragen der Burkha müssten als moralische Rechtfertigung für die Verbreitung eines wirtschaftsfreundlichen Rechtssystems und damit für die Ausbeutung der Dritten Welt herhalten (S. 25).
Der Neoliberalismus ist für Mattei und Nader eine revolutionäre Idee, in ihrer Potenz durchaus dem Kommunismus vergleichbar. Angriffsziel ist der Wohlfahrtstaat, dem Ineffizienz vorgehalten wird (S. 43). In Zeiten des kalten Krieges hätten auch die kapitalistischen Staaten stets die sozialen Effekte ihrer Politik bedenken müssen, weil sie auf die Legitimität angewiesen waren, die sie daraus bezogen, dass sie im Vergleich zur sozialistischen Alternative als die freundlichere Möglichkeit erschienen. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten sei die Vergleichsmöglichkeit entfallen, und damit der Zwang zum Wohlfahrtsstaat. So habe der Neoliberalismus sich als der bessere und einzig mögliche Weg etablieren können, und heute trete er mit der Arroganz auf, die für ideologische Monopole typisch sei (S. 46 f.).
Das Rechtssystem, das früher einmal zum Kernbestand nationaler Souveränität gehört habe, werde als technischer, politisch neutraler Normenkomplex begriffen, der nur noch unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Effizienz bewertet werden könne.

The law was now neutral and technical. It could be targeted, modified and fixed, directly or indirectly, in the same way in which it is possible to intervene to fix a sewer system or a hospital. (S. 48)

Durch den Eingriff in fremde Rechtssysteme, so als ob es sich um eine rein technische Maßnahme handele wie beim Straßen- oder Krankenhausbau, werde ein altes Tabu gebrochen. Ökonomen dienten dabei als Legitimationshelfer. Das Makrowachstum sei zum einzigen Erfolgsparameter geworden.
Mattei und Nader konzedieren, dass die rule of law gelegentlich die Brutalität der Ausbeutung durch ein »empowerment« schwächerer Akteure begrenzen könne. Aber das ist nicht das Ende ihrer Geschichte. So wie man früher in den Kolonien verhindert habe, dass die Menschen von den ihnen aufgezwungenen westlichen Rechtssystemen profitierten, indem man sie bei Bedarf auf die Anwendung lokalen Rechts verwies, so werde heute die Artikulierung von Protest und die Durchsetzung formal vorhandener Rechte dadurch verhindert, dass die Menschen in alternative Streitregelungsverfahren gedrängt würden (S. 18, 75ff., 224). [2]So schon Laura Nader/Elisabetta Grande, Current Illusions and Delusions About Conflict Management – in Africa and Elsewhere, Law and Social Inquiry 27, 2002, 573-594 (dazu der Kommentar von Neal … Continue reading Wichtiger noch: Die Justiz sei zur »Least Dangerous Branch« (Bickel) stilisiert worden, die sich aller distributiven Aktivitäten zu enthalten habe (140).
Der letztere Gesichtspunkt wird in Kapitel 6 unter der Überschrift »International Imperial Law« ausgebreitet. [3]Im Anhang S. 256 erfährt man, das dieses Kapitel auf einen Aufsatz von Ugo Mattei, A Theory of Imperial Law: a Study on USD Hegemony and the Latin Resistance, Indiana Journal of Global Legal Studies … Continue reading Unter der Führung der USA habe sich die rule of law zu einem System der Festschreibung der Verteilung von Armut und Reichtum entwickelt, wie sie durch die weltweite Ausbeutung entstanden sei. »In this scenario, which we call the imperial rule of law, the perpetrators of plunder are guaranteed by ›reactive institutions‹ (such als courts) against disgorging the ill-gotten profits.« (137) Der Diskurs über Demokratie und die rule of law sei erfolgreich so umfunktioniert worden, dass das Recht eine solidarische Umverteilung des Reichtums delegitimiere und einem lokalen Rechtspluralismus ebenso wie politischer Verantwortung den Boden entziehe (141).
Das amerikanische Rechtsystem sei, verglichen mit anderen westlichen Ländern, im Grund eine Anomalie:

It is the only system with class actions, with civil juries, with unlimited contingency fees, with a fully fledged double set of courts, with graduate law schools – just to offer a few peculiarities. It is almost alone in using punitive damages, in the extensive use of the death penalty, and in granting tremendous political power to the Supreme Court. It is nearly alone in sharing this aspect with Somalia, in not ratifying the International Convention on the Rights of Children. (S. 164)

International habe sich das amerikanische Modell des Parteiprozesses imperialistisch ausgebreitet. Dafür sei in erster Linie das Discovery-Verfahren verantwortlich, dass den Prozess zu einem Marktplatz mache, auf dem nur gewinnen können, wer zuvor investiert habe. Für Streitigkeiten vor internationalen Schiedsgerichten biete sich dieses Verfahren besonders an, weil die Schiedsgerichte gar nicht in der Lage seien, inquisitorische Verfahren zu führen (160). Amerikanische Gerichte hätten sich auch für Klagen von Ausländern und gegen Ausländer als attraktiv erwiesen. Ein Grund sei die Möglichkeit von Sammelklagen und die Zuerkennung von punitive damages. Attraktiv seien amerikanische Gerichte aber auch wegen der Möglichkeit, ein Erfolgshonorar zu vereinbaren, so dass Klagen ohne Kostenrisiko möglich seien. Schließlich seien die amerikanischen Juristen wie niemand sonst durch ihre Erfahrung mit dem zweigeteilten Justizsystem der USA mit dem schwierigen Kollisionsrecht vertraut. Auch für Ausländer biete eine Klage vor amerikanischen Gerichten manchmal die einzige Möglichkeit, ihre Rechte geltend zu machen. Die Gerichte ihrerseits begründeten ihre Zuständigkeit mit einer Lücke im Rechtsschutz des Auslandes, etwa weil es dort keine Sammelklagen gebe. Letztlich sei es die wirtschaftliche Schwerkraft der USA, die ausländische Beklagte zwinge, sich dort vor Gericht zu verteidigen (164 f.). Mit der Bejahung ihrer Zuständigkeit für die Holocaust-Klagen gegen europäische Banken und Versicherungen hätten die amerikanischen Gerichte sich zu Richtern über die Weltgeschichte aufgeschwungen (157).
Schließlich habe das amerikanische Rechtsmodell auch das Völkerrecht erobert (150 ff.) Beginnend mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen und dann angetrieben von dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen habe sich das Völkerrecht von dem dezentralen System, das auf den Souveränitätsgedanken aufbaute, immer mehr zu einem zentralisierten System entwickelt, das letztlich von den USA beherrscht werde.

The rhetorical device used in the process of repressing deviance and asserting as universal and inevitable Western ways of social organization and economic development, based on individualism and social fragmentation, has been a genuinely legal concept: ›international human rights‹. (S. 150)

Eine Doktrin der durch die internationalen Menschenrechte beschränkten Souveränität diene zur Rechtfertigung von Übergriffen in fremde Länder.
Der Plunder-Vorwurf bleibt nicht auf die Entwicklungshilfe für Drittländer beschränkt. Kapitel 7 enthält eine Generalabrechnung mit der Situation in den USA. Die Wirtschaftsakteure und ihre Spießgesellen in der Politik seien überall am Werk, der American rule of law, soweit sie die Ausbeutung der Bürger bremsen könne, die Zähne zu ziehen. Man kämpfe für ein marktfreundliches Recht, um die rechtliche Verantwortlichkeit der Wirtschaft zu minimieren. Dazu dienten etwa Höchstgrenzen für punitive damages, die Propagierung von alternativer Streitregelung, das Sponsoring der auf Effizienz bedachten ökonomischen Analyse des Rechts, die Besetzung der Gerichte mit konservativen Richtern und nach dem 11. September 2001 eine menschenrechtswidrige Notstandsgesetzgebung. Durch plea bargaining, d. h. durch Verzicht auf ein rechtsstaatliches Verfahren, würden die Gefängnisse mit billigen Arbeitskräften gefüllt. Unübersehbare Skandale wie bei Enron und Worldcom würden als Ausnahmefälle (rotten apples in a basket of good apples, S. 174) dargestellt; die Reaktion mit dem Sarbanes-Oxley-Act sei weitgehend symbolisch und beeindrucke nur die Europäer, die daraufhin ihre eigenen Wirtschaftsskandale amerikanischen Anwälten überließen. So wie in Afrika und anderswo der Krieg das bewährte Mittel sei, mit dem sich ein nicht gewählter Häuptling Anerkennung verschaffe, sei Bush nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl von 2000 schnell in den Krieg gezogen. Schließlich werden der war on terror und der Patriot Act als »Plunder of Liberty« gegeißelt.
Im 8. und letzten Kapitel wird noch einmal zusammengefasst und akzentuiert: »Plunder is such a pervasive aspect of the history of global capitalism that the ill-gotten gains that should be disgorged defy imagination.« (199) Von demokratischen Wahlen und von der Justiz sei keine Abhilfe zu erwarten, denn die seien Teil des Problems. Positiv kontrastieren Mattei und Nader das kontinentaleuropäische Wohlfahrtsstaatsmodell mit dem »Rechtsimperialismus« der USA. Der real existierende neoliberale Kapitalismus sei ebenso gescheitert wie der im Ostblock praktizierte Kommunismus. Sie plädieren für eine Art Hybridsystem zwischen beiden, und nachdem sie anfangs die Bemerkung hatten fallen lassen, eigentlich könne nur eine Revolution Abhilfe schaffen, machen sie am Ende doch Vorschläge zu einer Reform in Richtung auf eine lokal verankerte »people’s rule of law«, die vor allem auch »notions of social justice« im Blick behält. Ein Gegengewicht gegen die imperial rule of law sei nur von lokalen Initiativen, von Bürgern und Wissenschaftlern zu erwarten, die auf ihrem Feld für soziale Gerechtigkeit kämpften. Dazu wird eine Reihe von mehr oder weniger erfolgreichen Protest-, Widerstands- und Streikaktionen gegen Enteignungen oder Bauvorhaben, Umweltbeeinträchtigungen oder skandalöse Arbeitsbedingungen aufgezählt.
Im Internet habe ich nur Jubelbesprechungen des Buches gefunden. [4]Rik Pinxten, Journal of Royal Anthropological Institute 2008; David H. Price in Multinational Monitor 30, Jan./Febr. 2009; Pablo Rueda, The Rule of Law and the History of Plunder; Luigi Russi, 2009 … Continue reading Ich hätte das Buch nach der ersten Lektüre eher als glänzend geschriebenes [5]Das gilt nicht nur für die Formulierung des Textes. In einem Anhang S. 240-265 gibt es kapitelweise eingeordnete und kurz kommentierte Lesehinweise, die die Kennerschaft der Autoren zeigen. … Continue reading Pamphlet abgetan, wenn mich nicht die Prominenz Laura Naders daran gehindert hätte.
Für Mattei und Nader bildet die nach 1945 einsetzende Entwicklungshilfe die nahtlose Fortsetzung des alten Kolonialismus, nur mit dem Unterschied, dass an die Stelle harter Gewalt die weiche Hegemonie neoliberaler Wirtschaftspolitik und der amerikanischen rule of law getreten ist. In eine Kritik des Neoliberalismus werden heute, zumal nach der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2009, viele gerne einstimmen, wiewohl man hier mindestens stark differenzieren müsste. Auch die Kritik an der zweiten Amtszeit des Präsidenten Bush ist weit verbreitet. Darauf will ich mich hier nicht einlassen.
Für die Rechtssoziologie bleibt die These interessant, dass die Ausbeutung der Entwicklungs-, Transformations- und Schwellenländer mit einer amerikanisierten rule of law organisiert und legitimiert werde. Nader und Mattei bieten eine lange Reihe historischer und aktueller Beispiele, bei denen man ihnen beipflichten muss, dass hier Plünderung oder Ausbeutung stattfindet und dass das westliche Rechtskonzept dabei mindestens hilfreich war. Es ist wohl auch zutreffend, dass manche Rechtshilfeprojekte Recht als unpolitisches, rein technisches Instrument zur Wirtschaftsförderung einsetzen und die damit verbundenen politischen und sozialen Nebenfolgen und Verteilungswirkungen ausblenden. Insoweit hat die rule of law sicher auch ihre »dunkle Seite«. Der deutschen Diskussion fällt es bisher schwer, diese Seite zu erfassen, weil sie immer noch zu sehr auf den (Gesetzes-)Positivismus fixiert ist. Deshalb ist es wohl doch sinnvoll, das Buch auch hierzulande zur Kenntnis zu nehmen. Allerdings könnte man sich dafür auch mit der sehr viel nüchterneren Darstellung von Tamanaha [6]Brian Z. Tamanaha, The Dark Side of the Relationship between the Rule of Law and Liberalism, 2008. begnügen.
Mattei und Nader vernachlässigen eine Eigenschaft des kapitalistischen Systems, für die sie selbst ein hervorstechendes Beispiel bilden, nämlich seine Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstkritik. Spätestens mit den Terroranschlägen vom 11. 9. 2001 wurde die Problematik der Entwicklungshilfe zum Teil eines allgemeineren globalisierungskritischen Diskurses. Besonders dem IWF wurde vorgeworfen, er habe mit Brachialgewalt und zum Schaden der betroffenen Länder neoliberale Rezepte durchgesetzt. Als »Klassiker« der Globalisierungskritik gilt Joseph E. Stiglitz. Er argumentiert, die Staaten, die den Rezepten des IWF gefolgt seien, seien nicht reicher, sondern ärmer geworden. Sie litten zudem unter Umweltschäden und dem Verlust der indigenen Kultur. Die wirtschaftlich erfolgreichen asiatischen Staaten dagegen seien ihren eigenen Weg zur Globalisierung der Wirtschaft gegangen. Zunehmend wurde auch kritisiert, dass der Konsens auf die rule of law als Instrument der Entwicklungshilfe nur oberflächlich sei. Innerhalb des neoliberalen Rahmens seien Good Governance und die rule of law instrumentalisiert und prozeduralisiert worden und hätten ihre Verbindung zu Demokratie und Menschenrechten verloren. Als Folge der Globalisierungskritik ist der Washington-Consensus längst beerdigt worden.
»As a result, the focal point for development policy was increasingly provided less by economics than from ideas about the nature of the good state themselves provided by literatures of political science, political economy, ethics, social theory, and law. In particular, ›human rights‹ and the ›rule of law‹ became substantive definitions for development. One should promote human rights not to facilitate development – but as development. The rule of law was not a developmental tool – it was itself a developmental objective. Increasingly, law – understood as a combination of human rights, courts, property rights, formalization of entitlements, prosecution of corruption, and public order – came to define development.« [7]David Kennedy, »The Rule of Law«, Political Choices and Development Common Sense, in: David M. Trubek/Alvaro Santos, The New Law and Economic Development, Cambridge University Press, 2006, 95-173, … Continue reading
Die Selbsterneuerung der amerikanischen Politik durch die Wahl Präsident Obamas haben Mattei und Nader natürlich nicht vorhersehen können. Aber sie hätten doch schon wahrnehmen können, dass sich seit der Jahrtausendwende einiges verändert hat.
Die zentralen Thesen des Buches werden nur plausibel, weil sie auf einer sehr allgemeinen und abstrakten Ebene angesiedelt sind. Auf dieser Ebene lässt sich schwer diskutieren. Alle »Belege« bleiben doch nur Einzelbeispiele. Man könnte sich auf die Suche nach Gegenbeispielen begeben. Sie drängen sich in Asien geradezu auf. Selbst in Afrika hat jedenfalls das Gesundheitswesen unübersehbare Fortschritte gemacht. Doch Beispiele und Gegenbeispiele lassen sich nicht gegeneinander aufrechnen. Das Konzept ist so weit, dass man jedes historische oder politische Ereignis, an dem europäische oder amerikanische Politiker oder Unternehmen beteiligt sind, als Bestätigung interpretieren kann. Mattei und Nader verzichten auf Gegenbeispiele, und das begründet die Unausgewogenheit ihrer Darstellung. Ihr Vorbehalt, die rule of law habe auch eine »helle« Seite, schafft keine ausreichende Abhilfe. Das zeigt sich besonders in Kapitel 6. Es ist sicher zutreffend, dass die Führungsrolle bei der Entwicklung des Rechts nach dem zweiten Weltkrieg von Europa auf die USA übergegangen ist. Das haben auch andere schon bemerkt. [8]Z. B. Máximo Langer, From Legal Transplants to Legal Translations: The Globalization of Plea Bargaining and the Americanization Thesis in Criminal Procedure. Harvard International Law Journal, Vol. … Continue reading Europäische Rechtsphilosophie und Rechtstheorie sind weitgehend durch Ideen des Legal Realism und die verschiedenen Law & Something-Ansätze, allen voran Law & Economy, abgelöst worden. Durchaus zutreffend beschreiben Mattei und Nader, was die amerikanische Art des Umgangs mit dem Recht für die Praxis so attraktiv macht. Und ich zögere auch nicht, mit den beiden Autoren die Neigung amerikanischer Gerichte, großzügig ihre Zuständigkeit in Streitigkeiten mit Auslandsberührung zu bejahen, imperialistisch zu nennen. Dennoch stützt gerade das Kapitel 6, in dem Besonderheiten des amerikanischen Rechts aufgezählt werden, die für dessen Anziehungskraft und Ausbreitung verantwortlich sein könnten, die Hauptthese des Buches kaum. Denn eben diese Besonderheiten wären an sich geeignet, wirtschaftliche Ausbeutung zu bekämpfen. Mattei und Nader erinnern selbst an die sog. Holocaust-Klagen und andere Beispiele, in denen Ausländer vor amerikanischen Gerichten ihr Recht suchen, etwa die Opfer der Bhopal-Katastrophe. Sie halten es aber für ein Unding, das Gerichte im Abstand von 60 Jahren oder Tausenden von Kilometern die Wahrheit finden könnten (S. 156). Ebenso zwiespältig ist die These, amerikanische Rechtsvorstellungen beherrschten heute das Völkerrecht im Sinne von global governance. Mattei und Nader verschweigen nicht, dass die USA selbst sich vielfach von diesem Völkerrecht distanzieren, werfen ihnen aber einen doppelten Standard vor.
Nicht akzeptabel ist die Behauptung, auch die Menschenrechte seien nur ein politisches Täuschungsinstrument. Der universalistische Anspruch der Menschenrechte ist sicher ein Problem. Aber insgesamt gesehen hat der Menschenrechtsdiskurs heute ein eigenes Gewicht gewonnen, mit dem er sich auch gegen die USA richtet. Dabei ist gerade in den Entwicklungsländern wichtig, dass die Relevanz der Menschenrechte nicht unbedingt davon abhängt, dass sie bei einem Gericht eingeklagt werden können.
Schließlich kommt in der Kritik, die Justiz sei in den USA und in den Drittländern ganz und gar zu einer reaktiven Institution geschrumpft worden, wohl doch ein Missverständnis zum Ausdruck. Die Justiz kann prinzipiell immer bloß reaktiv tätig werden. Daher bezieht sie ihre Legitimität. Umverteilung ist und bleibt Aufgabe der Politik. Das schließt nicht aus, dass die Justiz immer wieder kämpferisch in Anspruch genommen wird und mindestens in Randbereichen, die eine unentschlossene Politik offen lässt, in den Verteilungskampf eingreifen kann und muss. Gerade dafür ist die amerikanische Justiz aber wie keine andere gerüstet.
Der zentrale Einwand gegen das Buch liegt jedoch auf einer anderen Ebene. Es gilt längst als ausgemacht, dass die Transplantation westlicher Rechtsvorstellungen und Institutionen in die Transformations- und Entwicklungsländer ist im Großen und Ganzen fehlgeschlagen ist. [9]Ausführlich zusammenfassend Brian Z. Tamanaha, The Primacy of Society and the Failures of Law and Development: Decades of Stubborn Refusal to Learn, 2010. Deshalb konnte sie gar nicht die Wirkung haben, die Mattei und Nader ihr zuschreiben. Wäre die »Rechtsmodernisierung« erfolgreich gewesen, so wären mit einiger Sicherheit auch in anderen gesellschaftlichen Sektoren – Wirtschaft, Gesundheit, Bildung – ähnliche Fortschritte zu verzeichnen gewesen, und zwar nicht auf Grund eines einfachen Kausalzusammenhangs [10]Es wird zwar allgemein angenommen, dass die Rechtsmodernisierung und die wirtschaftliche Entwicklung korrelieren. Der Kausalzusammenhang ist aber offen, dazu der Übersichtsartikel von Stephan … Continue reading, sondern weil die Modernisierung nur im Gleichschritt aller Sektoren gelingt. Gerade von Nader als der großen Rechtsanthropologin hätte man einen Bericht darüber erwartet, wie die Amerikanisierung des Rechts letztlich misslungen ist, weil sie in der Regel nur zu einer äußerlichen Anpassung geführt hat. Heute gibt es zwar in den meisten Staaten geschriebene Verfassungen, gewählte Politiker und Parlamente und eine dem Buchstaben nach unabhängige Justiz, aber oft noch nicht einmal die »dünne« rule of law, die jedenfalls Eigentum, Verträge und die persönliche Sicherheit zuverlässig schützt. Auch in den Entwicklungsländern entwickelt sich Recht, nur vielfach anders als gedacht und gewünscht. David Kennedy spricht von der »extreme interrelatedness of everything with everything in a society« (S. 153), Tamanaha von einem »connectedness of law principle« (S. 15 f.). Diese Einbettung in die umgebende Kultur sorgt dafür, dass der Import von Rechtsinstitutionen entweder scheitert oder die scheinbar selben Institutionen mit einem veränderten Inhalt gefüllt werden. Das ist eigentlich ein Paradethema der Rechtsanthropologie.
Von amerikanischen Politikern und Juristen und den vom amerikanischen Recht geprägten Eliten in aller Welt kann man wohl annehmen, dass sie selbst an die rule of law »glauben«. Mattei und Nader machen den zahllosen Akteuren jedenfalls nicht den Vorwurf, sie hätten die Rechtsmodernisierung in den Entwicklungs- und Transformationsländern zynisch als bloßen Vorwand genutzt. Ihnen wird allenfalls unterstellt, dass sie das größere Bild nicht erkannt hätten. Ein subjektiver Vorwurf trifft die Akteure nur insofern, als sie bei ihrem Handeln von der Überlegenheit der westlichen Kultur ausgegangen seien. Er trifft im Übrigen das Corporate America und seine Helfer. Besonders schlecht kommen dabei neben den Ökonomen die Juristen weg. Vielleicht kann man ihnen bis zu einem gewissen Grade den Vorwurf des Selbstbetrugs mit Legitimationswirkung machen. Die Legitimation der von Mattei und Nader beklagten Ausbeutung reicht aber kaum bis in die Zielländer. Dort begegnet man eher einer merkwürdigen Verkehrung. Das besagt die Lawfare-These der Comaroffs , die den Missbrauch der rule of law in die Dritte Welt selbst hineinverlagert. Lawfare in diesem Sinne ist eine Strategie, politische Inhalte in Rechtsform zu bringen, um ihnen dadurch ein Mäntelchen der Legitimität umzuhängen. Die Comaroffs schildern dazu viele Beispiele, wie Gewalt, die man für Unrecht halten möchte, sorgsam in Rechtsform verpackt wird, so etwa vom Diktator Mugabe in Zimbabwe. Recht, so meinen sie, sei in den früheren Kolonien gewissermaßen zum Fetisch geworden und diene zur Juridifizierung von Politik. Diese Politik ist aber weder die Politik des Westens noch eine verborgene Politik der Ausbeutung.
Schließlich ist auch der Ausblick von Mattei und Nader einseitig. Die von ihnen geforderte Neubewertung der »local dimension« (S. 19) aller Reformen scheint sich heute mehr und mehr durchzusetzen, das jedoch wohl eher mit Rücksicht auf die Pfadabhängigkeit jeder Entwicklung als im Hinblick auf die Erhaltung indigener oder sonst vorhandener Kulturen um ihrer selbst willen. Wer könnte sich anmaßen zu sagen, dass der Zustand eines modernen Landes wie Dänemark, Frankreich oder Kanada besser sei als derjenige eines »unentwickelten« Landes wie Papua Neu-Guinea oder Äthiopien? Doch wer wollte es wagen, den weniger entwickelten Ländern »Errungenschaften« der Moderne wie Gesundheitsversorgung oder Katastrophenhilfe vorzuenthalten. Heute gibt es kein Land mehr auf der Welt, das in dem positiven Sinne primitiv ist, dass es von moderner Zivilisation und Technik unberührt geblieben wäre und auf seine traditionelle Weise weiter leben könnte. Kein Land kann sich aus den »Errungenschaften« der Moderne bloß einzelne Bausteine, seien es Mobiltelefone oder bessere Bildung, herauspicken. Die Modernisierung gibt es nur im Paket, und es stellt sich nur die Frage, was an traditionellem Bestand sich retten und integrieren lässt. Und zur Modernisierung gehört auch Recht, aber sicher keine bloßen Kopien westlicher »Vorbilder«. Aber ganz ohne offizielles Recht und damit ohne einen funktionierenden Staat wird es nicht gehen. Vor ein paar Jahren hieß es auch bei Nader noch:

All the alternative dispute mechanisms in the world will not replace the just rule of law (state or international) in such situation. [11]Laura Nader/Elisabetta Grande, Current Illusions and Delusions About Conflict Management – in Africa and Elsewhere, Law and Social Inquiry 27, 2002, 573-594, 582.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Laura Nader, Controlling Processes – Tracing the Dynamic Components of Power, 1997; Ugo Mattei/Marco de Morpurgo, Global Law and Plunder: The Dark Side of the Rule of Law, 2009.
2 So schon Laura Nader/Elisabetta Grande, Current Illusions and Delusions About Conflict Management – in Africa and Elsewhere, Law and Social Inquiry 27, 2002, 573-594 (dazu der Kommentar von Neal Milner, Illusions and Delusions about Conflict Management-In Africa and Elsewhere, Law and Social Inquiry 27, 2002, 621-629). Als Hintergrundtheorie dient Naders Konzept der erzwungenen Harmonisierung (coercive harmony; Laura Nader, Controlling Processes – Tracing the Dynamic Components of Power, 1997).
3 Im Anhang S. 256 erfährt man, das dieses Kapitel auf einen Aufsatz von Ugo Mattei, A Theory of Imperial Law: a Study on USD Hegemony and the Latin Resistance, Indiana Journal of Global Legal Studies 10, 2003, 383, zurückgeht.
4 Rik Pinxten, Journal of Royal Anthropological Institute 2008; David H. Price in Multinational Monitor 30, Jan./Febr. 2009; Pablo Rueda, The Rule of Law and the History of Plunder; Luigi Russi, 2009 http://www.redroom.com/publishedreviews/plunder-when-rule-law-illegal-0.
5 Das gilt nicht nur für die Formulierung des Textes. In einem Anhang S. 240-265 gibt es kapitelweise eingeordnete und kurz kommentierte Lesehinweise, die die Kennerschaft der Autoren zeigen. Außerdem S. 266-267 eine Liste von einschlägigen Dokumentarfilmen.
6 Brian Z. Tamanaha, The Dark Side of the Relationship between the Rule of Law and Liberalism, 2008.
7 David Kennedy, »The Rule of Law«, Political Choices and Development Common Sense, in: David M. Trubek/Alvaro Santos, The New Law and Economic Development, Cambridge University Press, 2006, 95-173, 156 f.
8 Z. B. Máximo Langer, From Legal Transplants to Legal Translations: The Globalization of Plea Bargaining and the Americanization Thesis in Criminal Procedure. Harvard International Law Journal, Vol. 45, No. 1, 2004.
9 Ausführlich zusammenfassend Brian Z. Tamanaha, The Primacy of Society and the Failures of Law and Development: Decades of Stubborn Refusal to Learn, 2010.
10 Es wird zwar allgemein angenommen, dass die Rechtsmodernisierung und die wirtschaftliche Entwicklung korrelieren. Der Kausalzusammenhang ist aber offen, dazu der Übersichtsartikel von Stephan Haggard/Andrew MacIntyre/Lydia Tiede, The Rule of Law and Economic Development, Annual Review of Political Science 11, 2008, 205-234.
11 Laura Nader/Elisabetta Grande, Current Illusions and Delusions About Conflict Management – in Africa and Elsewhere, Law and Social Inquiry 27, 2002, 573-594, 582.

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Der Topos vom Eingriff in ein schwebendes Verfahren ist auch bei »Privaten« beliebt, wenn man sich zu einer peinlichen Angelegenheit nicht äußern will. Dazu einige Beispiele:
Nachdem in einem Bahntunnel bei Fulda ein ICE in eine Schafherde gerast und entgleist war, las man:

Ein Bahn-Sprecher wollte sich auf Anfrage von WELT ONLINE nicht zu den Vorwürfen äußern, da es sich um ein schwebendes Verfahren handele. Die Bahn unterstütze jedoch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.

Aus Bochum berichtete Bild.de von der unglücklichen Frau, die der Arzt angeblich am falschen Fuß operiert hatte:

BILD erkundigte sich bei dem Arzt, der Andrea H. operierte. Der Chirurg: »Es ist ein schwebendes Verfahren. Mehr will ich dazu nicht sagen.

Aus der FAZ Nr. 134 vom 13. Juni 2009 S. 16:

M. [2]Name auf Wunsch des Betroffenen nachträglich entfernt., Geschäftsführer des Plüschtierhersteller Steiff, sieht einem Gerichtsverfahren in den Vereinigten Staaten entgegen. Eine Steiff-Mitarbeiterin hat beim New Yorker State Supreme Court Anklage gegen M. eingereicht. … Steiff kommentiert grundsätzlich keine laufenden Gerichtsverfahren, heißt es in einer knappen schriftlichen Stellungnahme.

Auch nach der Loveparade-Katastrophe von Duisburg berufen sich Beteiligte auf diesen Topos. In der öffentlichen Auseinandersetzung ist die Rede vom (verbotenen) Eingriff in ein schwebendes Verfahren anscheinend stärker als in seiner rechtlichen Relevanz. Das macht den Topos rechtssoziologisch interessant. Aber auch in der Rechtsprechung ist der Topos noch lebendig. Eine Anfrage bei Juris fördert um die 30 Entscheidungen zutage. Ich meine, die Sache wäre eine Dissertation wert. Wer unbedingt eine aktuelle Anknüpfung sucht, findet sie in der Diskussion um die Litigation-PR.

Nachtrag vom 1. 9. 2010:
»Staatsanwälte kritisieren Loveparade-Aufnahmen im Netz«, so lautete gestern eine Schlagzeile in der WAZ. Im Text, den ich im Internet nicht finde, heißt es:

Die Proteste der Staatsanwaltschaft waren vergeblich. Loveparade-Veranstalter Rainer Schaller hat wie angekündigt Filmaufnahmen von Überwachungskameras im Internet veröffentlicht, obwohl die Ermittler bis zuletzt versuchten, ihn davon abzubringen. … Die Ermittler sind der Meinung, es störe die Überprüfung der Angaben von Augenzeugen, wenn die Filme für jedermann zu sehen seien. Zudem könnten die Opfer der Parade traumatisiert werden, wenn die Dokumente veröffentlicht würden.

Hier die umstritten Aufnahmen. Ein unzulässiger Eingriff in ein schwebendes Verfahren? Ich finde nicht.
Zum Stichwort Litigation-PR hier noch ein einschlägiger Link: http://www.macromedia-fachhochschule.de/litigation. Ganz hilfreich ist dort vielleicht eine kleine Literaturübersicht.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Schulze-Fielitz (Rn. 46 zu Art. 97 GG) hält es immerhin für einen »Indikator« für eine unzulässige öffentliche Kritik, wenn sie mit dem Ziel erfolgt, ein Urteil zu beeinflussen, bevor es vom Gericht getroffen wurde. Eine kritische Berichterstattung über laufende Verfahren sei mit Rücksicht auf Art. 5 GG nicht schon als solche unzulässig, könne aber, etwa bei Medienkampagnen, auf Zulässigkeitsgrenzen stoßen.
2 Name auf Wunsch des Betroffenen nachträglich entfernt.

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Legal Narratives IV

Heute nur ein Hinweis auf einen Artikel von FAZ-Redakteur Reinhard Müller auf der Seite »Staat und Recht« in der heimlichen Juristenzeitung vom 15. Juli 2010 S. 6 »Neu entstanden aus Katastrophen«, der jedenfalls zur Zeit noch im Netz abrufbar ist. Müller nimmt die Frage auf »Wozu brauchen wir heute noch Mythen?«. Er berichtet, wie Roman Herzog als Bundespräsident 1995 bei einem Staatsbesuch des Präsidenten der Mongolei ausführlich an die Schlacht von Liegnitz erinnerte, in der ein mongolisches Heer 1241 eine polnisch- deutsche Streitmacht besiegte. Er erinnert ferner daran, wie Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung der Ausstellung »2000 Jahre Varusschlacht« in Kalkriese einen Bogen über 2000 nach Europa spannte. Er lässt stichwortartig die deutschen Nationalmythen Revue passieren, um etwas ausführlicher den Europa-Mythos von der Verführung der phönizischen Königstochter Europa durch Göttervater Zeus wiederzugeben und zitiert schließlich eine Reihe von Verfassungspräambeln, darunter die bemerkenswerte Einleitung zur Verfassung des neuen Irak. Müller endet etwas verrätselt mit den Sätzen: »Wer hat eine tragfähige Erzählung? Hier liegt die Antwort.« Der Text ist ebenso vergnüglich zu lesen wie die Illustration von Greser & Lenz anzuschauen ist. Er bestätigt damit zwei wichtige Funktionen von Narrationen. Sie bedienen unser unendliches Unterhaltungsbedürfnis. Und sie dienen als Lückenfüller, wenn uns nichts Besseres einfällt. Etwas anders gilt sicher für die Einleitung zur irakischen Verfassung. Aber was?

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Das Fundbüro wird (mit Bourdieu) geschlossen

Wer meinen Blog verfolgt, wird bemerkt haben, dass ich schon lange keine Fundstücke mehr gesammelt habe. Es gibt einfach zu viele wichtige Texte, die im Internet verfügbar sind. Wenn man etwas sucht, lohnt es sich stets, danach zu gugeln. Ich will aber auch gerne einräumen, dass es mir schlicht zu mühsam ist, Fundstücke im Fundbüro einzuordnen, zumal die WordPress-Software für die Formatierung einer solchen Liste sehr unbequem ist. Ich habe keine Möglichkeit gefunden, die bibliographischen Angaben einfach aus Citavi in das Fundbüro zu übernehmen. Daher wird das Fundbüro nun geschlossen. Vorher stelle ich aber noch letzte Fundstücke ein, nämlich Texte von und zu Pierre Bourdieu. Für die, die lieber Englisch als Französisch lesen, hier eine Übersetzung von Pierre Bourdieus Text »La force du droit«: [1]La force du droit. Element pour une sociologie du champ juridique, Actes de la recherche en sciences sociales 64, 1986, 3-19. The Force of Law: Toward a Sociology of the Juridical Field ist 1987 im Hastings Law Journal erschienen. Der Artikel wird begleitet von einer hilfreichen Einführung des Übersetzers Richard Terdiman. Auch den Artikel zum sozialen Kapital gibt es im Internet, und zwar sogar in deutscher Übersetzung: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, 1983, 183-198.
Manche finden Bourdieus juristische Felder für ihre rechtssoziologischen Arbeiten besser geeignet als Luhmanns oder Teubners Systembegriff. Ich selbst ziehe insoweit einen trivialisierten Luhmann vor. Bourdieus Felder sind fraglos realistischer als autopoietische Systeme. Aber sie sind mir in ihrer Wirklichkeitsnähe zu diffus. Ich habe den Eindruck, als ob der Feldbegriff zu den konkreten Analysen, die Bourdieu selbst und andere mit seiner Hilfe anstellen, nichts beiträgt. Anders liegt es mit dem »symbolischen« und dem »sozialen« Kapital sowie »Habitus«, die sonst vernachlässigte Aspekte auf den Punkt bringen und für die es wohl auch in der Rechtssoziologie Verwendung gibt.
Für die deutsche Rechtssoziologie hat es Michael Wrase [2]Recht und soziale Praxis – Überlegungen für eine soziologische Rechtstheorie, in: Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hg.), Wie wirkt Recht?, Ausgewählte Beiträge zum Ersten … Continue reading unternommen, Bourdieus Habitus-Feld-Konzept und seine professionssoziologische Studie über »Les juristes, gardiens de l’hypocrisie collective« [3]In: François Chazel/Jacques Commaille (Hg.), Normes juridiques et régulation sociale, Bd. 1, Paris 1991, S. 95-99.] zu rezipieren und nutzbar zu machen.
Wer nach Sekundärliteratur sucht, sei noch auf das »Dossier: La place du droit dans l’œuvre de Pierre Bourdieu« der Zeitschrift »Droit und Societé« von 2004 hingewiesen. Davon im Internet verfügbar die Einleitung von Jacques Commaille sowie von Mauricio García Villegas On Pierre Bourdieu’s Legal Thought, (S. 57–70), hingewiesen. Den Artikel von Soraya Nour über »Bourdieus juristisches Feld« in der 2. Aufl. von Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2009, S. 179-199, der – etwas verstümmelt – als Google-Buch nachgelesen werden kann, fand ich von dem emanzipatorischen Transformationsinteresse der Verfasserin verschattet.
(Artikel geändert am 6. 1. 2011.)

Anmerkungen

Anmerkungen
1 La force du droit. Element pour une sociologie du champ juridique, Actes de la recherche en sciences sociales 64, 1986, 3-19.
2 Recht und soziale Praxis – Überlegungen für eine soziologische Rechtstheorie, in: Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hg.), Wie wirkt Recht?, Ausgewählte Beiträge zum Ersten Gemeinsamen Kongress der Deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen, Luzern, 4. – 6. September 2008, Bd. 1, Baden-Baden 2010, S. 113-145.
3 In: François Chazel/Jacques Commaille (Hg.), Normes juridiques et régulation sociale, Bd. 1, Paris 1991, S. 95-99.]

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