Eigenlogik – eine neue Supertheorie

So neu ist die Sache eigentlich gar nicht. Aber auf dem Jubiläumskongress der DGS in Frankfurt ist sie mir besonders aufgefallen, die Eigenlogik als universelles Erklärungswerkzeug der Soziologen. Von der Logik der Organisation war da die Rede, von der Logik des Vertrages oder von Sanktionslogik. Die Eigenlogik der Bilder, so habe ich gelernt, liegt darin, dass sie über höhere Evidenz verfügen. Konstitutionslogisch handelt es sich dabei um eine Redensart zur Erklärung des nicht weiter Erklärbaren.
Situationslogik lasse ich mir gefallen. Es handelt sich um einen Begriff aus der soziologischen Handlungstheorie. Wer sich nicht treiben lässt, sondern sinnvoll handeln will, muss sich Ziele oder Zwecke setzen und nach Mitteln fragen, mit denen sie verwirklicht werden können. Er muss also fragen, welche Verhaltensweisen (= Mittel) geeignet sind, eine gegebene Ausgangssituation in eine gewünschte andere Situation (= Zweck) zu überführen. Ein Zweck kann darauf beschränkt sein, den gegebenen Zustand vor Veränderungen zu bewahren, eine Entwicklungstendenz zu beschleunigen oder sie zu bremsen. In manchen Situationen drängen sich bestimmte Handlungsstrategien geradezu auf. Situationen dieser Art werden von der Spieltheorie beschrieben. Insofern ist es angezeigt von einer Eigenlogik der Situation oder Situationslogik zu sprechen. Oft wird der Ausdruck gleichbedeutend mit »Rationalität« oder häufiger noch im Plural »Rationalitäten« gebraucht. Für die Frage, wie die Situation von den handelnden Personen »definiert« wird, sind Psychologie und Soziologie zuständig. [1]Zur Orientierung und als Quelle für Nachweise vgl. Hartmut Esser, Die Definition der Situation, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48, 1996, 1-34.
Entstanden ist die Rede von der Eigenlogik anscheinend zur Ersetzung von Luhmann geprägter Begriffe der Systemtheorie. Anstatt von autopoietischer Schließung und der daraus folgenden Autonomie sprechen manche von der »Eigenlogik« oder »Eigenrationalität« der Systeme. Gemeint ist damit, dass Systeme bestimmten Sachzwängen oder funktionalen Imperativen gehorchen und/oder, dass sie eine relative Autonomie besitzen. Wo zwei Systeme aufeinandertreffen, ist dann von Rationalitätenkonflikten die Rede: Die Wirtschaft arbeitet nach einer anderen »Logik« als die Politik; Religion und Wissenschaft können sich schwer verstehen; der Arbeitsmarkt fordert den räumlich und zeitlich mobilen Arbeitnehmer (Arbeitsmarktlogik), der den Anforderungen einer Familie (Familienlogik) kaum genügen kann, usw.
Bei Marc Amstutz [2]Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 184 etwa lesen wir:

Die »Eigenlogik des Rechtsystems markiert nun gerade die äußerste Grenze der Variabilität seiner Normen. «

Von Teubner [3]Google Books findet den Ausdruck »Eigenlogik« in Teubners »Recht als autopoietisches System« vier Mal (auf S. 60, 92, 123 und 149). etwa erfahren wir, dass die Globalisierung sich »polyzentrisch« entwickelt; es entsteht eine Vielzahl von transnationalen Rechtsregimen, die den Eigenlogiken der jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme folgen, die sich als solche zu Weltsystemen entwickelt haben. Dieses transnationale Recht wird nicht durch das Völkerrecht koordiniert, und es fügt sich erst recht in keinen Stufenbau und wird von keiner einheitlichen Gerichtshierarchie kontrolliert. Daraus entstehen »Regimekollisionen«, denn die jeweiligen transnationalen Rechtsregime orientieren sich an der Eigenlogik ihres Funktionssystems. Die WTO z.B. ist Teil des Wirtschaftssystems und setzt auf wirtschaftliche Rationalität mit der Folge, dass der Freihandel den Gesundheitsschutz behindert oder der weltweite Patentschutz angestammte Kulturtechniken in die Illegalität abdrängt. Mir erscheinen die »Eigenlogik« jeweils systemspezifischer transnationaler Rechtsentwicklungen und die daraus folgenden »Rationalitätenkonflikte« eher als Artefakte der zugrunde liegenden Theorie. Sie werden aus der »operativen Schließung« der Systeme abgeleitet, und Systeme wiederum sind per definitionem »autonom«.
Bei Systemtheoretikern hat die Eigenlogik einen festen Platz im Theoriegebäude. Doch sie wird auch ohne Theoriebezug verwendet. Einige Beispiele:
Aus dem 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (2. Aufl. 2009, BT Drucksache 16/12860, S. 61):

»Der Körper ist einerseits sperrig und widersetzt sich in seiner spezifischen Eigenlogik der vollständigen Instrumentalisierung.«

ind ebenda S. 71:

»… Themen wie … die Analyse unerwünschter Nebenwirkungen ›fürsorglicher Belagerung‹ und ihrer institutionellen Eigenlogiken …«

Oder: Aus Uwe Vormbusch, Die Kalkulation der Gesellschaft, in: Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hg.), Zahlenwerk, Kalkulation, Organisation und Gesellschaft, 1. Aufl., Wiesbaden 2007, S. 43-64, S. 54.

»Form und Ergebnisse der in dieser Weise stimulierten Aushandlungsprozesse folgen einerseits einer gewissen (argumentativen und ›realweltlichen‹) Eigenlogik, andererseits sind sie eine Funktion der zugrunde gelegten Taxonomie und der Fähigkeit kalkulativer Praktiken, soziale Phänomene in organisierbare, komplexitätsreduzierte und handhabbare Größen zu transformieren.«

Der Begriff der Eigenlogik ist weitgehend zu einer bloßen Redensart verkommen, so etwa, wenn von einer »Eigenlogik der Städte« gesprochen wird, oder, wenn »Eigenlogik« und »Verzahnung« als Begriffspaar verwendet werden. Sehr hübsch eine Internetseite, die Beispielsätze mit »Eigenlogik« ins Englische übersetzt. Früher hätte man in vielen Fällen, für die heute von Eigenlogik die Rede ist, vom Wesen oder von der Natur der Sache gesprochen. Diese Redeweisen sind nicht ohne Grund in Verruf gekommen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Zur Orientierung und als Quelle für Nachweise vgl. Hartmut Esser, Die Definition der Situation, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48, 1996, 1-34.
2 Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 184
3 Google Books findet den Ausdruck »Eigenlogik« in Teubners »Recht als autopoietisches System« vier Mal (auf S. 60, 92, 123 und 149).

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Jetzt kommt der Temporal Turn

Vom Linguistic Turn, Pictorial Turn und Cultural Turn ist mir noch ganz schwindelig. Nun komme ich gerade von einem Besuch auf dem Jubiläumskongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt. Da gäbe es viel zu berichten. Aber Fleißarbeit ist meine Sache nicht. Ich will nur mitteilen, dass mein Drehschwindel in Frankfurt durch den Spatial Turn neuen Anstoß bekam. Nicht nur, weil es Veranstaltungen unter dieser Überschrift gab, sondern vor allem, weil die Tagung in dem neiderregend wunderbaren Space des neuen Westend Campus der Frankfurter Universität auf dem ehemaligen IG-Farben Gelände stattfand.
Doch es bleibt keine Zeit zum Ausruhen. Der nächste Turn kündigt sich an, und ich will ihn hier schon einmal ausrufen, den Temporal Turn nämlich. Schuld sind die Kulturwissenschaften. Für eine kulturwissenschaftlich inspirierte Rechtsforschung wird eine lange Reihe von Themen empfohlen, darunter auch Raum und Zeit. [1]Eine Aufzählung bietet der m. W. unveröffentlichte Förderungsantrag von Ulrich Haltern und Christoph Möllers für eine Tagung »Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft«, die 2006 im ZIF in … Continue reading
Raum und Zeit geben der Welt im Erleben der Menschen Struktur. Diese Struktur ist primär natürlich, beim Raum durch die Gestalt der Erde und ihrer Landschaften, bei der Zeit durch den Wechsel von Jahreszeiten, Tag und Nacht. Aber die natürliche Struktur wird überlagert durch eine soziale. Die Landschaften sind durch Besiedlung und Bauten gestaltet. Die Zeit erhält durch Kalender, Uhren und Gewohnheiten und Pläne ihren Rhythmus. Der natürliche Rhythmus der Jahreszeiten und vor allem von Tag und Nacht wird durch künstliche Vorgaben überlagert und ersetzt. Man kennt Datum und Uhrzeit und ist pünktlich. Der Tagesablauf wird geregelt. Schulstunden, Arbeitszeit und Bürostunden, Fahrpläne und Öffnungszeiten setzen sich gegenüber individuellen Befindlichkeiten durch. Die Zeiten für Arbeit, Ruhe und Vergnügen sind weitgehend fremdbestimmt, und daran haben sich alle wie selbstverständlich gewöhnt. Das alles ist als vorrechtliche Sozialdisziplinierung vielfach beschrieben worden. [2]Je nach Geschmack zitiert man hier Foucault, Oestreich, Treiber und Steiner und andere mehr.
Zeit korrespondiert mit Kausalität, denn Kausalität wird als eine zeitliche Abfolge von Ereignissen gedacht. Die Wahrnehmung der Vergangenheit durch Rechtsgeschichte und historische Soziologie bringt Periodisierungen hervor, die auf das Verständnis des aktuellen Rechts zurückwirken. Für den Alltagsgebrauch sind es die sog. Narrationen, die das Recht zeitlich gliedern. Monoton wird beklagt, dass die Beziehung zwischen Recht und Zeit wissenschaftlich vernachlässigt worden sei. [3]Z. B. von Rebecca R. French, Time in the Law, University of Colorado Law Review 72, 2001, 663-748/663: »Time is always necessary in the law, yet it is rarely examined.«. Tatsächlich ist die Literatur zum Thema gar nicht so spärlich. [4]David M. Engel, Law, Time, and Community, Law and Society Review 1987, 605-638; Carol J. Greenhouse, Just in Time: Temporality and the Cultural Legitimation of Law, Yale Law Journal 98, 1631-1651; … Continue reading
Überall im Recht ist die Zeit präsent, beim Alter von Personen, in Fristen und Terminen, bei der Verjährung, der Dauer einer Strafe usw. usw. Das ist trivial. Aber die Kulturwissenschaften leben davon, Trivialitäten hochzustilisieren. Positivität des Rechts bedeutet Änderbarkeit und begründet damit auch ein Zeitphänomen. Das ist durch Niklas Luhmann zu einem klassischen Thema der Rechtssoziologie geworden. Bei Luhmann findet man sicher auch eine theoretische Verpackung. Von Anfang an gehört die »Zeitdimension« zu der Begriffstrias, mit der er die Generalisierung von Erwartungen beschreibt. Die »Zeitlichkeit des Rechts« ist im »Recht der Gesellschaft« ein durchgehendes Thema. Hier wird die Zeitdimension sogar grundlegend für die Bestimmung der Funktion des Rechts. [5]Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 125 ff. Man muss man nicht unbedingt Luhmanns Paradoxologie übernehmen, wie sie in der These zum Ausdruck kommt, eine zirkuläre Definition der Rechtsgeltung könne nur durch zeitliche Asymmetrisierung unsichtbar gemacht werden [6]Ebenda S. 109.. Unverzichtbar ist aber Luhmanns Konzeption der Gesellschaft und damit des Rechts als Kommunikationszusammenhang. Gesellschaftliche Zeit entsteht dadurch, dass eine Kommunikation im Abstand von mehr als einer logischen Sekunde an die andere andockt. [7]So gesprächsweise in Frankfurt Fatimah Kastner. So formuliert es Luhmann selbst:

Auch wenn die einzelne Kommunikation nur einen kurzen Moment dauert, sondern im Moment ihrer Aktualisierung schon wieder verschwindet, ist sie doch darauf angewiesen, sich durch rekursive Vernetzung in der Zeit zu bestimmen, das heißt: sich auf bereits gelaufene Kommunikation und auf künftige Anschlußmöglichkeiten zu beziehen. Jede Kommunikation bindet daher Zeit insofern, als sie bestimmt, von welchem Systemzustand die weitere Kommunikation auszugehen hat. [8]Ebenda S. 126.

Wenn man das Recht mit Luhmann als Kommunikationszusammenhang betrachtet, fallen mir sogleich medientheoretische Anwendungsmöglichkeiten ein.
Von Harold Innis [9]Harold A. Innis, The Bias of Communication, 1951, mehrfach neu aufgelegt. stammt die These, dem jeweils dominierenden Kommunikationsmedium sei ein »bias«, eine Voreinstellung zugunsten bestimmter gesellschaftlicher Interessen und Organisationsformen inhärent. Innis stellte dabei auf das materielle Substrat der Kommunikation − Stein oder Tontafeln, Pergament, Papyrus und Papier und schließlich Elektrizität − ab. Maßgebliche Eigenschaften von Stein und Tontafeln sind räumliche Bindung und Dauerhaftigkeit, die die Zeitdimension und damit Tradition und Hierarchie begünstigen sollen. Das leicht transportable Papier dagegen ermöglicht die Ausdehnung der Herrschaft in den Raum, der Druck durch preiswerte Vervielfältigung eine soziale Breitenwirkung und die Elektrizität schließlich durch ihre Geschwindigkeit den sozialen Wandel.
Mit den juristischen Zeitschriften, die die Zeit schon im Titel führen, hat sich jüngst Oliver M. Brupbacher befasst: [10]Die Zeit des Rechts, Experimente einer Moderne in Zeitschriften, 2010.

Durch die hochgradige Selektivität ihrer periodischen Mitteilungen machen die Zeitschriften die Welt des Rechts selbst größer und unübersichtlicher. In der Zeitdimension: in Strategien des verzeitlichten Nacheinanders bewältigbarer Informationseinheiten, der Fokussierung auf die jeweilige datierte Gegenwart und der Latentstellung von Sinnüberschüssen, findet das Recht Lösungsformen für eine der Welt der Moderne adäquate Komplexität des Rechts.

Die Zeitlichkeit des Rechts korrespondiert mit der Zeitperspektive der Gesellschaft. Besonders interessant ist natürlich, wie sich die Zeitperspektive wandelt. Zu beobachten sind gegenläufige Entwicklungen. Auf der einen Seite Beschleunigung: Die Beschleunigung von Transport- und Kommunikationsvorgängen durch die moderne Technik und die (dadurch beförderte) Globalisierung der Wirtschaft mit dem daraus folgenden Konkurrenzdruck haben zu einer Art Nonstop-Gesellschaft geführt. Die rechtliche Regelung von Feiertagen und Ladenschluss, Arbeitszeiten und Fristen aller Art muss darauf reagieren. Die Rechtssoziologie beobachtet besonders die Auswirkungen auf Arbeit und Familie.
Auf der anderen Seite steht die Dehnung der für relevant angesehenen Zeit. Traditionelle Verjährungsvorstellungen sind zu einem erheblichen Teil obsolet geworden. 1949 verjährte die Verfolgung von Mord noch in 20 Jahren. Dann wurde diese Verjährungsfrist im Blick auf die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen auf 30 verlängert, und als 1979 auch diese Spanne ablief, ganz aufgehoben. Aber auch zivilrechtliche Wiedergutmachungsansprüche werden heute ohne Rücksicht auf Fristen zugelassen. Hier sind ganz deutlich die rechtlichen Konsequenzen einer Neubewertung von Kolonialismus und Sklaverei, Naziverbrechen und sozialistischen Diktaturen zu spüren. Die Konsequenz ist eine »Vermessung der Geschichte durch die Gerichte« [11]Angelika Nußberger, Die Vermessung der Geschichte durch die Gerichte, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 7. 2010; ferner Lukas H. Meyer (Hg.), Justice in Time, Responding to Historical … Continue reading. Rückwirkende Moralisierung schlägt auf das Recht durch.
Auch Erinnern und Vergessen sind zeitbezogene Tätigkeiten. Auf dem Kongress in Frankfurt wurden sie mehrfach mit dem Recht in Zusammenhang gebracht. In einer Veranstaltung der Sektion Entwicklungssoziologie sprach Anika Oettler [12]»Transitional Justice zwischen globalen Normen und lokalen Verhältnissen«. über den »Aufarbeitungsimperativ«, der politische Übergänge mit einer Vergangenheitsbewältigung durch Gerichtsverfahren, Wahrheitskommissionen, Lustrationen oder Reparationen verbindet. Als »Transitional Justice« erhält das Phänomen einen neuen Namen. In einer Ad-Hoc-Gruppe über »Erinnern und Vergessen im Kontext transnationaler Gesellschaften« wurde das Thema von Fatima Kastner aufgenommen. [13]Das Recht des Vergessens: Zur transnationalen Diffusion von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen aus systemtheoretischer Perspektive. (Eine Möglichkeit der Aufarbeitung mit noch etwas größerem Zeitabstand bieten die Historikerkommissionen, wie sie in Deutschland für Organisationen beliebt sind, zuletzt beim Auswärtigen Amt.) Auch ein rechtsoziologisch höchst relevanter Vortrag von Hans Dembowski über die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Indien fügt sich in den Temporal Turn. [14]Die Gleichzeitigkeit von Vorgestern und Übermorgen – Staats-, Rechts- und Nationenverständnis in Indien.
Diese Andeutungen sollten ausreichen, um die Ausrufung des Temporal Turn für die Rechtssoziologie und darüber hinaus zu rechtfertigen. [15]Nachtrag vom 7. 11. 2010: Nicht ganz selten mache ich die Erfahrung, dass ironisch gemeinte Beiträge oder Sätze von den Lesern meines Blogs ernst genommen werden. Ich habe Anlass zu der … Continue reading

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Eine Aufzählung bietet der m. W. unveröffentlichte Förderungsantrag von Ulrich Haltern und Christoph Möllers für eine Tagung »Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft«, die 2006 im ZIF in Bielefeld stattgefunden hat.
2 Je nach Geschmack zitiert man hier Foucault, Oestreich, Treiber und Steiner und andere mehr.
3 Z. B. von Rebecca R. French, Time in the Law, University of Colorado Law Review 72, 2001, 663-748/663: »Time is always necessary in the law, yet it is rarely examined.«.
4 David M. Engel, Law, Time, and Community, Law and Society Review 1987, 605-638; Carol J. Greenhouse, Just in Time: Temporality and the Cultural Legitimation of Law, Yale Law Journal 98, 1631-1651; Ali Khan, Temporality of Law, McGeorge Law Review 40, 2008; Bruce C. Peabody, Reversing Time’s Arrow: Law’s Reordering of Chronology, Causality, and History, Akron Law Review 40, 2007, 587-622; Charles F. Wilkinson, American Indians, Time and the Law, Yale University Press 1987.
5 Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 125 ff.
6 Ebenda S. 109.
7 So gesprächsweise in Frankfurt Fatimah Kastner.
8 Ebenda S. 126.
9 Harold A. Innis, The Bias of Communication, 1951, mehrfach neu aufgelegt.
10 Die Zeit des Rechts, Experimente einer Moderne in Zeitschriften, 2010.
11 Angelika Nußberger, Die Vermessung der Geschichte durch die Gerichte, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 7. 2010; ferner Lukas H. Meyer (Hg.), Justice in Time, Responding to Historical Injustice, 2004.
12 »Transitional Justice zwischen globalen Normen und lokalen Verhältnissen«.
13 Das Recht des Vergessens: Zur transnationalen Diffusion von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen aus systemtheoretischer Perspektive.
14 Die Gleichzeitigkeit von Vorgestern und Übermorgen – Staats-, Rechts- und Nationenverständnis in Indien.
15 Nachtrag vom 7. 11. 2010: Nicht ganz selten mache ich die Erfahrung, dass ironisch gemeinte Beiträge oder Sätze von den Lesern meines Blogs ernst genommen werden. Ich habe Anlass zu der Klarstellung, dass ich natürlich keinen Temporal Turn für Rechtssoziologie ausrufen will. Ich hatte gehofft, dass die Ironie aus den ersten beiden Absätzen deutlich würde.

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Das Rechtssystem in Zahlen

Gerade ist das Statistische Jahrbuch 2010 erschienen. Es lässt sich ganz oder kapitelweise herunterladen. Aus dem Kapitel 10 über die Justiz erfährt man etwa, dass es im Jahre 2009 in Deutschland 20 101 Richter, 5 111 Staatsanwälte und 143 647 Rechtsanwälte gab, dass im Jahre 2008 874 691 Personen wegen eines Vergehens und Verbrechens verurteilt wurden, dass bei den Amtsgerichten 1 314 738 und bei den Landgerichten 381 014 neue Klagen eingingen oder dass die Zahl der Amtsgerichte auf 661 geschrumpft ist. Um solche Daten einzuordnen, benötigt man einen Überblick über das Rechtssystem mit Vergleichszahlen und möglichst auch Zeitreihen. Ich habe deshalb vor vielen Jahren einmal versucht, eine Dissertation über »Das Rechtssystem in Zahlen« zu veranlassen. Leider hat die Bearbeiterin nach verheißungsvollen Anfängen wegen anderer Interessen aufgegeben. Ich halte das Thema aber nach wie vor für bearbeitungswürdig.
Ich würde von einem ganz naiven Systembegriff ausgehen und das Rechtssystem als ein Teilsystem der Gesellschaft behandeln, das im allgemeinen Bewusstsein regelmäßig klar von anderen Teilsystemen abgegrenzt ist. Als Teilsysteme der Gesellschaft kommen etwa in Betracht die Wirtschaft, die Kultur, die Religion, Erziehung, Sport oder Verkehr. Gewisse Abgrenzungsprobleme gibt es zum Teilsystem der Politik. Aber darauf kommt es hier nicht an. Viele Bereiche gehören mehreren Systemen gleichzeitig an. So sind die Parlamente ein Teil der Politik ebenso wie des Rechtssystems. Juristische Fakultäten gehören zu Erziehung und Wissenschaft aber auch zum Recht.
Folgende Bestandteile des Rechtssystems sollten näher betrachtet werden: Organisatorische Einheiten, Personal, Verfahren, Betroffene, Kosten und Informationen.
Als organisatorische Einheiten des Rechts kommen Gerichte, Justizvollzugsanstalten, Juristische Fakultäten, die Anwaltschaft, das Parlament und Justizministerien in Betracht. Auch die Rechtsschutzversicherungen kann man hierzu rechnen. Auch die öffentliche Verwaltung sollte einbezogen werden.
Zum Personal zählen Richter und Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Notare, vielleicht auch Steuerberater. Rechtsprofessoren, Studenten und Referendare gehören dazu, ebenso Rechtspfleger, Gerichtsvollzieher und anderes Hilfspersonal. Von Interesse sind ferner Juristen in Verwaltung und Wirtschaft und arbeitslose Juristen.
Als Verfahren sind natürlich Zivilprozesse und Strafverfahren und all die vielen anderen Prozesse, Konkurse, Vergleiche und Zwangsvollstreckungen gemeint.
Betroffene sind Kläger und Beklagte, Verurteilte und sonstige Beteiligte, und am Rande auch Zeugen, Sachverständige oder Dolmetscher.
Die Kosten spiegeln sich in den Justizhaushalten des Bundes und der Länder. Kosten fließen vor allem als Gerichtsgebühren, Anwaltskosten oder Kosten für Zeugen und Sachverständige.
Im Rechtssystem werden Informationen gespeichert, verarbeitet und produziert. Informationen in diesem Sinne sind Gesetze und Verordnungen, Entscheidungen und juristische Literatur. Zur Bereitstellung des relevanten Rechtswissens gibt es spezielle Informationssysteme. Juristische Informationssysteme bilden natürlich die Datenbank JURIS, die sich selbst so nennt, aber auch die traditionellen Formen der Wissensspeicherung und Vermittlung wie Gesetzblätter, Entscheidungssammlungen, Bibliotheken und das juristische Verlagswesen. Diese Informationssysteme könnten auch als Institutionen aufgeführt werden, sollten jedoch wegen des Sachzusammenhangs vielleicht zusammen mit den Informationen dargestellt werden.
Es geht nicht darum, selbst zu zählen, sondern allein darum, die vorhandenen Zahlen, vor allem aus den amtlichen Statistiken, zusammenzutragen und sie in einer sinnvollen Weise darzustellen. Erforderlich sind dazu eine gute Übersicht über das Gesamtgebiet des Rechts, Sammelleidenschaft und Findigkeit, die Fähigkeit zum Umgang mit Zahlen, Tabellen und Graphiken. Auf den ersten Blick könnte die Sache nach einer Fleißarbeit aussehen, ist sie aber nicht. Es geht zwar nicht ohne Fleiß. Vor allem aber ist ein gutes Urteilsvermögen erforderlich, damit kein bloßer Zahlenfriedhof entsteht. Das Vorhaben hat ein erhebliches Frustrationspotential, weil alle Zahlen schnell veralten. Eine gewisse Erleichterung – und ein Angebot an die Nutzer einer solchen Arbeit – bietet da die Möglichkeit, Reihen, zu denen immer wieder neue Zahlen zu erwarten sind, so anzulegen, dass sie laufend ergänzt werden können.
Vorsorglich sollte ich darauf hinweisen, dass ich selbst keine Dissertationen mehr betreue.

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Berichtsforschung: Generationsgerechtigkeit statt Generationengerechtigkeit — Die Verwestlichung der chinesischen Rechtswissenschaft

Dies ist eine Fortsetzung des Postings vom 17. 9. 2010 zum World Science Report 2010. Heute geht es spezieller um Recht und Rechtssoziologie.
Im Stichwortverzeichnis gibt es drei Verweise für » law as social science discipline«. Zwei davon sind unergiebig. Man erfährt nur, dass in einigen Statistiken »law« als »social science« gezählt wird. Der dritte auf S. 182-185 ist interessanter. Er verweist auf einen Artikel von Deng Zhenglai mit dem Titel »Westernization of the Chinese Social Sciences: The Case of Legal Science (1978–2008)«. Zunächst erfahren wir, dass China seit seiner Öffnung vor nunmehr über 30 Jahren nicht nur westliche Technik und Wirtschaftsformen übernommen hat, sondern auch Konzepte, Theorien und Methoden westlicher Sozialwissenschaft, und zwar gerade auch für die Untersuchung chinesischer Probleme. Der Autor beklagt, dass darüber die Untersuchung von Tiefenstrukturen und die theoretische Innovation versäumt worden sei. Sodann geht er etwas näher auf die Rechtswissenschaft ein, und zwar am Beispiel von Umweltschutz und von Verbraucherschutz. Das chinesische Menschenrechtsverständnis gehe von einem »right of existence« aus, dem Recht, das menschliche Leben zu erhalten und zu verbessern. Dem liege das Konzept der Generationsgerechtigkeit zugrunde, nämlich das Recht der gegenwärtig lebenden Menschen, die hier und jetzt leben und sich entwickeln wollen. Dennoch hätten chinesische Juristen westliche Konzepte des Umweltrechts übernommen, die auf der Idee der Generationengerechtigkeit beruhten, nämlich auf der Idee, dass das Recht der Gegenwart die Lebensqualität künftiger Generationen mit einschließen müsse. Dabei hätten die chinesischen Juristen vernachlässigt, dass, anders als im Westen, das erste Problem, nämlich die Existenzsicherung für die aktuell lebenden Menschen, noch gar nicht gelöst sei. Man müsse also, anders als im Westen, die Probleme der Existenzsicherung und des Umweltschutzes synchron bearbeiten. Diesem Problem müsse sich die Rechtsphilosophie in China stellen. Andernfalls werde es nicht gelingen, für die große Bevölkerungsmehrheit des Landes, die arme Landbevölkerung, das Dilemma von Existenzsicherung und Umweltschutz aufzulösen.
Ähnlich liege es mit dem Verbraucherschutz. In chinesischen Rechtszeitschriften habe er zwischen 1994 und 2004 35 Aufsätze über Verbraucherschutz gefunden. Alle benutzten sie unkritisch westliche Konzepte und Theorien zur Analyse chinesischer Probleme. Sie gingen davon aus, die chinesische Gesellschaft sei ähnlich homogen wie die westliche, und übersähen die großen Unterschiede zwischen Stadt und Land und Arm und Reich. Ein Verbraucherschutzgesetz nach amerikanisch-deutschem Muster könne vielleicht in den Großstädten Chinas etwas bewirken, werde aber auf dem unterentwickelten Lande bedeutungslos bleiben.
So habe die Öffnung des Landes zum Westen nicht nur die Sozialwissenschaften, sondern auch die chinesische Rechtswissenschaft ihrer Autonomie beraubt. Sie habe sich dem westlichen Modernisierungsimperativ unterworfen und zeichne ein Idealbild sozialer Ordnung, in dem China bloß als östlicher Spezialfall einer universell gedachten Modernisierungsgeschichte erscheine. Um ihre Autonomie zurückzugewinnen, müsse sich die chinesische Wissenschaft wieder den Tatsachen zuwenden und in ein neues Stadium eintreten. Nach der Öffnung gegenüber dem Westen, dem Import westlicher Ideen und weitgehender Assimilation, gehe es nun um eine authentische Teilnahme am weltweiten Wissenschaftsdiskurs.
Was das bedeuten könnte, bleibt dann aber doch ziemlich vage. Die chinesischen Wissenschaftler sollten

establish academic standards which make it possible to conduct in-depth research on general theoretical questions and Chinese issues in particular, and so engage actively in substantive discourse with Western social scientists on our own terms. This will lead to an enrichment of Chinese social sciences, but will also impact on the intellectual development of the world’s social sciences in the light of Chinese knowledge and experience.

Ebenso vage bleibt der Schluss:

… the Chinese traditional philosophy of peaceful coexistence, not only between humankind and nature, but also between ethnicities, ideologies and ways of life, can offer resources for us to rethink some of the global issues facing humanity nowadays. It is in this way that traditional resources from other countries, places and nations will lead us to a better vision of the future world and its order, in which social sciences based on local knowledge with an international outlook will play an indispensable part.

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Von der geschlechtsspezifischen Bürgerschaft zum geschlechtsspezifischen Management

Durch ein Rundschreiben der Nationalen Kontaktstelle Sozial-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften – Ausgabe 20/2010 bin ich auf ein Seminar mit dem Titel »Geschlechtsspezifische Bürgerschaft im multikulturellen Europa« aufmerksam geworden. Der Begriff der geschlechtsspezifischen Bürgerschaft ist für mich neu. Durch Gugeln bin ich nur noch auf eine weitere Quelle gestoßen, die beiläufig besagt, dass da jemand eine Dissertation zu diesem Thema in Mexiko fertigstellen will. Das englische Original gendered citizenship führt ein Stück weiter. Da findet sich in der viel geschmähten Sammlung von Google ein Buch der Inderin Anapama Roy mit dem Titel »Gendered Citizenship. Historical and Conceptual Explorations« von 2005, bei dem – wie in vielen anderen Büchern auch – der interessanteste Teil die Einleitung ist, die die geistesgeschichtliche Entwicklung des Begriffs »citizenship« referiert. So habe ich gelernt, dass das Konzept der Bürgerschaft ursprünglich für weiße Männer in einer Klassengesellschaft entwickelt worden sei und daher den Bedürfnissen besonderer kultureller Gruppen nicht Rechnung trage. Darauf reagiere der Gegenentwurf einer differenzierten Bürgerschaft, der die Mitglieder gewisser kultureller Gruppen nicht bloß als Individuen, sondern als Angehörige der Gruppe begreife, die für ihre besonderen Bedürfnisse sorge. Man kann sich dann selbst ausrechnen, was gendered citizenship meinen könnte. Aber das interessiert mich gar nicht wirklich. Interessant fand ich dagegen den einzigen deutschen Text, in dem – wie bereits erwähnt – jedenfalls am Rande die geschlechtsspezifische Bürgerschaft auftaucht. Es handelt sich um eine von der EU gesponserte Studie über »Geschlechterquoten bei Wahlsystemen und ihre Umsetzung in Europa« aus dem Jahre 2008. [1]Die Autorenschaft ist so kompliziert, dass sie in die Fußnote verbannt wird. Verfasser: Drude Dahlerup und Lenita Freidenvall mit Unterstützung von Eleonora Stolt, Katarina Bivald und Lene … Continue reading Die bietet harte Rechtstatsachenforschung. Es geht darum, ob und unter welchen Umständen gesetzliche Geschlechterquoten oder von den Parteien freiwillig eingeführte Quoten ihre Wirkung tun. Da scheiden, wie der Vergleich von Deutschland und Frankreich zeigt, parteiinterne Quoten nicht schlechter ab. Das liegt vielleicht daran, dass die Parteien sozusagen die Türhüter der Wahllokale sind.
Nachdem in Deutschland und vielen anderen Ländern der emanzipatorische Feminismus seine Gleichberechtigungsziele erreicht hat, ist nun neben dem kulturellen Feminismus der Leadership-Feminismus angesagt. Dabei geht es um die Repräsentation von Frauen nicht nur in der Politik, sondern auch in Führungspositionen der Wirtschaft. In Analogie zur geschlechtsspezifischen Bürgerschaft kann man von geschlechtsspezifischem Management sprechen. Bisher gibt es den Begriff anscheinend nur in der Medizin, z. B. in der Knie-Endoprothetik.
Während für die Politik in Deutschland parteiinterne und in vielen andern Ländern auch gesetzliche Frauenquoten mehr oder weniger akzeptiert sind, sind sie für die Wirtschaft heftig umstritten. Heute will die EU-Kommissarin Viviane Reding eine Europäische Gleichstellungsrichtlinie vorlegen: 2015 soll der Frauenanteil in Aufsichtsräten 30 Prozent betragen, 2020 sollen 40 Prozent Frauen in Spitzenpositionen der Wirtschaft vertreten sein. Bisher liegt der Frauenanteil für ganz Europa wohl nur bei drei Prozent, bei deutschen DAX-Unternehmen immerhin bei 13 %. Damit stellt sich die Frage, ob auch in der Wirtschaft »freiwillige« Quotenregelungen die gleiche oder bessere Wirkung haben als obligatorische. Rechtssoziologische Empirie kommt da vermutlich, wie so oft, zu spät. Empiriefreie Paradoxologie könnte aber vielleicht das Paradoxon des paternalistischen Feminismus entfalten und invisibilisieren.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Die Autorenschaft ist so kompliziert, dass sie in die Fußnote verbannt wird. Verfasser: Drude Dahlerup und Lenita Freidenvall mit Unterstützung von Eleonora Stolt, Katarina Bivald und Lene Persson-Weiss, Forschungszentrum ›Women in Politics (WIP)‹, Abteilung Politikwissenschaft der Universität Stockholm, in Zusammenarbeit mit International IDEA

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Wandernde Rechtskonzepte

Die Übertragung von Ideen, Konzepten, Institutionen oder auch nur singulären Normen aus einem Rechtskreis in einen anderen bildet ein Standardthema der Rechtssoziologie. Es wird unter Stichworten wie Einfuhr und Ausfuhr, Rezeption und Oktroyierung von Recht, Rechtstransfer, legal transplant oder imposition of law abgehandelt. Kürzlich habe ich das Thema schon einmal angesprochen, als ich auf ein schönes paper von Andrea Behrends mit dem Titel »Traveling Models in Conflict Management« gestoßen war. Nun kommt es wieder aus einer ganz anderen Richtung. In Heidelberg gibt es in den nächsten Tagen einen Workshop »Migrating Ideas of Governance and Emerging Bureaucracies between Europe and Asia since the Early Modern Era«. Und gleich darauf noch eine größere Tagung mit dem »The Flow of Concepts and Institutions«. Das Beste daran ist bisher ein kleines Exposé von Susan Richter. Ich habe daraus vorab gelernt, dass man im 18. und 19. Jahrhundert zunächst chinesische Modelle der Bürokratie nach Europa importiert hat.
Wir reden in der Rechtssoziologie viel über Interdisziplinarität und denken dabei an Fremddisziplinen wie Neurowissenschaften, Psychologie, Ökonomie, Linguistik usw. usw. Aber wir schaffen es noch nicht einmal, uns innerhalb des weiteren Bereichs der Sozialwissenschaften wechselseitig wahrzunehmen. So behandelt die Heidelberger Tagung eine genuin rechtssoziologische Thematik. Aber das haben die Veranstalter anscheinend noch nicht gemerkt. Unter den vielen Beteiligten finde ich keinen aus der Rechtssoziologie bekannten Namen. Umgekehrt haben die Rechtssoziologen noch nicht wahrgenommen, was in Heidelberg an Rechtssoziologie unter fremdem Namen passiert. Bei mir verstärkt sich der Eindruck, dass es nicht unbedingt darauf ankommt, immer noch etwas (oft scheinbar) Neues zu finden, sondern wichtiger wäre, die längst vorhandenen Wissensbestände zu integrieren.

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Berichtsforschung: Die Hegemonie der westlichen Sozialwissenschaft und der englischen Sprache

Heute habe ich einmal wieder einen neuen Bericht gefunden, nämlich den von der UNESCO und dem International Social Science Council herausgegebenen World Science Report 2010. Der Band trägt den Untertitel »Knowledge Divides«. Gemeint ist die Teilung der Welt in Länder mit mehr oder weniger entwickelter Sozialwissenschaft.

Social scientists produce work of outstanding quality and tremendous practical value, but, as this Report illustrates, social scientific knowledge is often the least developed in those parts of the world where it is most keenly needed – hence this publication’s title, ›Knowledge Divides‹.

Die Beiträge sind durchgehend sehr kurz (drei bis fünf Seiten) und entsprechend zahlreich. Ich habe mich zunächst auf die Kapitel vier (Uneven Internationalization) und fünf (Homogenizing or Pluralizing Social Sciences?) konzentriert und im Übrigen die 430 Seiten daraufhin durchgeblättert, was für die Rechtssoziologie von Interesse sein könnte. Heute will ich nur auf zwei Beiträge aus Kapitel 4 eingehen, nämlich auf

Yves Gingras/Sébastien Mosbah-Natanson, Where are Social Sciences Produced?(S. 149-153)
Ulrich Ammon, The Hegemony of English, S. 154-155.

Die Globalisierung der Kommunikation durch neue Technologien verlangt nach einer globalen Sprache. Als solche hat sich das Englische durchgesetzt. Durch den britischen Kolonialismus erhielt das Englische einen Startvorteil. Amerikanische Wirtschaftsmacht, zwei Weltkriege, in denen England und die USA dominierten, und schließlich der Zusammenbruch des Ostblocks haben die Expansion der englischen Sprache beschleunigt. Das Englische ist zur Sprache der internationalen Wirtschaft, der Wissenschaft, der Computerwelt, des Luftverkehrs und der Unterhaltungsindustrie geworden. Nicht zuletzt ist es auch die Sprache des internationalen Rechts. Es ist die Sprache der Globalisierung schlechthin. Das mittelalterliche Latein als die Lingua Franca seiner Zeit war insofern egalitär, als jeder es erst lernen musste. Das Englische dagegen ist »asymmetrisch« (Ammon). Es ist die Muttersprache nicht nur der Engländer und Amerikaner, sondern auch der meisten Australier und Neuseeländer, vieler Kanadier, Inder und anderer mehr. Sie haben damit einen Heimvorteil, der kaum aufzuholen ist. Es gilt das Prinzip der Vorteilsakkumulation (accumulated advantage; Matthäus-Prinzip).
94 % aller im Social Science Citation Index (SSCI) registrierten Artikel und 85 % der begutachteten sozialwissenschaftlichen Zeitschriften erscheinen in englischer Sprache, ebenso über 75 % der Publikationen, die in der International Bibliography of the Social Sciences verzeichnet sind (Gingras/Mosbah-Natanson S. 151). Die USA produzieren mit jährlich über 10.000 einschlägigen Arbeiten immer noch die Hälfte der sozialwissenschaftlichen Forschung. Dabei ist der relative Anteil der Amerikaner von 61 % im Zeitraum von 1988 bis 1997 auf 52,2 % im Zeitraum von 1998 bis 2007 zurückgegangen. Gestiegen ist aber vor allem der Anteil Europas, und zwar von 29, 1 auf 38 %. Das heißt, wer in den Schwellen- und Entwicklungsländern Sozialwissenschaften betreibt, ist weitgehend darauf angewiesen, für den Stand der Forschung »westliche«, vor allem amerikanische und europäische Literatur zu zitieren, und zwar Literatur in englischer Sprache. Der Informationsfluss der Wissensgesellschaft ist englisch gefärbt. Ammon spricht daher von der Hegemonie des Englischen.
[Fortsetzung folgt – vielleicht.]

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Die Bertelsmann-Stiftung als Ghostwriter der Politik

Vor Jahr und Tag hatte ich hier einige Zeilen über die Bertelsmann-Stiftung geschrieben. Nun feiert der Medienkonzern den 175. Geburtstag, und diesem Anlass widmete das Feuilleton der heimlichen Juristenzeitung gestern fast die ganze erste Seite. Unter der Überschrift »Grundgütiges aus Gütersloh« setzt sich dort der Hamburger Notar Peter Rawert kritisch mit der Rechtskonstruktion der sogenannten Doppelstiftung auseinander, die es gestattet, mit Hilfe der gemeinnützigen Stiftung den Konzern am Rande der Legalität steuersparend zu beherrschen. Und unter der Überschrift »Bertelsmanns Republik?« nimmt Jürgen Kaube die Politikberatung durch die Bertelsmann-Stiftung aufs Korn. Beide Artikel – die in FAZ.NET leider nur für Abonnenten frei zugänglich sind – verweisen auf ein eben im Campus-Verlag erschienenes Buch des Journalisten Thomas Schuler: Bertelsmann Republik Deutschland. Eine Stiftung macht Politik.
Die Kavallerie der Ökonomisierung, so hatte ich die Bertelsmann-Stiftung genannt. Mehr als das, sie ist der Ghostwriter der Politik. Ich muss gestehen, dass ich die Bertelsmann-Stiftung bewundere. Hunderte von Politikwissenschaftlern, Ökonomen und Rechtssoziologen scheitern mit dem Versuch, sich bei der Politik Gehör zu verschaffen. Nur die Bertelsmann-Stiftung schafft es immer wieder. Um nur die wichtigsten Beispiele zu nennen: Sie hat das Neue Steuerungsmodell in Verwaltung und Justiz lanciert, sie hat die Hartz IV-Gesetze geprägt, und sie hat der Hochschulreform die Richtung gewiesen. Die zugrunde liegende Forschung als solche ist, soweit ich das beurteilen kann, durchaus in Ordnung. Viele Universitätsinstitute wären glücklich, wenn sie Vergleichbares geleistet hätten. Was lerne ich daraus? Die Kapitel Politikberatung und Wertfreiheit der Wissenschaft müssen zwar nicht neu geschrieben werden. Aber sie erhalten neue, eindrucksvolle Beispiele.

Nachtrag vom 17. Juli 2016

Über »Entmündigung als Bildungsziel« schreibt Thomas Thiel heute einen großen Artikel in der heimlichen Juristenzeitung. Darin beklagt er den fehlenden Datenschutz bei den Online-Tutorials insbesondere amerikanischer Anbieter, der dazu führen könne, dass die Bildungsbiographien der Lerner mit ihren persönlichen Daten, mit ihren Stärken, Schwächen und Vorlieben gespeichert und kommerziell verwertet werden, insbesondere auch als Angebot an das Personalmanagement. Er beklagt, dass auch die deutschen Universitäten sich mehr oder weniger kritiklos dieser Praxis bedienen und dass dabei die Bertelsmann Stiftung mit ihrem Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) als Antreiber fungiert.

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Stefan Magen wird Nachfolger von Ralf Poscher in Bochum

Nun ist es amtlich: Der Dekan hat in der vergangenen Woche mitgeteilt, dass Privatdozent Dr. Stefan Magen den Ruf auf den Lehrstuhl Öffentliches Recht, Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie in der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität (Nachfolge Professor Poscher) angenommen hat. Ich gratuliere und wünsche alles erdenklich Gute.
Herr Magen war schon einmal in Bochum, nämlich von 1992 als Hilfskraft und wissenschaftlicher Mitarbeiter an eben diesem Lehrstuhl. Nach einer Station als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht von 1998 bis 2001 war Herr Magen am Max-Planck-Institut für Gemeinschaftsgüter in Bonn tätig, wo er sich mit einer Arbeit über »Gerechtigkeit als Proprium des Rechts. Eine deskriptive Theorie auf empirischer Grundlage« habilitiert hat. Den Arbeitsgebieten von Herrn Magen entsprechend lautet die Lehrstuhlbezeichnung künftig »Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Rechtsökonomik«. Damit hat der Lehrstuhl also die Rechtssoziologie mindestens aus dem Namen verloren. Es bleibt aber zu hoffen, dass es über die Verhaltensökonomik eine Brücke zur Rechtssoziologie geben wird.

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Zur Legalisierung von Cannabis

Drei Dinge kamen zusammen und sind Anlass für diese Stellungnahme:
1. Es gibt interessante neue Literatur zur Geschichte der Prohibition in den USA. [1]Mark Lawrence Schrad, The Political Power of Bad Ideas. Networks, Institutions, and the Global Prohibition Wave, Oxford 2010. Das in diesem Zusammenhang wichtige Kapitel findet man auch unter dem … Continue reading
2. Der neue von der SPD gestellte Justizminister in Düsseldorf, Kuschaty, will die Toleranzgrenze für den straffreien Besitz von Haschisch und Marihuana auf zehn Gramm anheben.
3. Eine freundlicher Mitmensch hatte mir zum Geburtstag ein Jahresabonnement des Wirtschaftsmagazins »brand eins« geschenkt (das ich sonst kaum zur Kenntnis genommen hätte). Dort findet sich im Septemberheft (S. 12 f.) ein Artikel von Harald Willenbrock mit dem Titel »Weshalb ist Alkohol hierzulande erlaubt, Haschisch jedoch verboten?« Darin stellt Willenbrock die schädlichen Wirkungen von Alkohol-, Nikotin- und Cannabiskonsum gegenüber, erwähnt die Kosten des aussichtslosen Kampfes zur Durchsetzung des Cannabisverbots und verweist auf Bestrebungen zur Liberalisierung in Kalifornien und Dänemark.
In der »Rechtssoziologie« von 1987 hatte ich an Hand der damals verfügbaren Literatur über das Scheitern der Prohibition in den USA berichtet (S. 253 f.). Der Abschnitt beginnt:

Ein Lehrstück für die Grenzen des Rechts bei der unmittelbaren Einwirkung auf individuelles Verhalten bildet die Geschichte der Prohibition in den USA zwischen 1920 und 1932.

Als »Lehre« hatte ich damals zwei Dinge im Auge, nämlich erstens das Phänomen, dass Lebensbereiche wie der Umgang mit Alkohol und Rauschmitteln dem Modell rationalen Verhaltens im Sinne von rational choice weniger zugänglich sind als andere, und zweitens, dass die Verbotspolitik ihrerseits nicht als rational im Sinne instrumentellen Handelns gelten darf, sondern den symbolischen Ausdruck moralischer Überzeugungen bildet. Heute ist es an der Zeit, auch die politisch praktische Lehre zu ziehen, die ich damals nicht gewagt habe. Sie kann nur lauten, dass weiche Drogen legalisiert werden sollten.
Drogen schaden der Gesundheit und sind allein in Deutschland jährlich für über 200.000 Menschen tödlich. Sie sind mindestens deshalb auch wirtschaftlich schädlich, und sie sind sozial bedenklich, weil sie Lebensläufe und soziale Beziehungen zerstören können. Es gibt auf den ersten Blick also allen Grund, Drogen zu verbieten, wie es in Deutschland durch das Betäubungsmittelgesetz geschieht. Es gibt aber drei prinzipielle Probleme. Das erste ist die Ungleichbehandlung verschiedener Drogen, das zweite die Nebenwirkungen des rechtlichen Verbots und vor allem der Strafverfolgung. Das dritte Problem liegt auf der normativen Ebene: Wieweit darf der Staat die Individuen vor Selbstschädigung schützen? Wieweit muss er mit Rücksicht auf Drittinteressen eingreifen?
Die Ungleichbehandlung wird deutlich, wenn man die schädlichen Wirkungen der verschiedenen Drogen nebeneinander stellt. Verboten sind in Deutschland (und in den meisten anderen Ländern) Opiate und Heroin, Amphetamine, Kokain und Haschisch/Marihuana. Erlaubt dagegen sind Alkohol und Nikotin. Die wichtigsten Vergleichskandidaten sind Cannabis einerseits sowie Alkohol und Nikotin andererseits.
Man darf die Cannabiswirkungen nicht verharmlosen. Willenbrock verweist dazu auf eine Metastudie der australischen Wissenschaftler Wayne Hall und Louisa Degenhardt aus dem Jahr 2009 [2]Adverse Health Effects of Non Medical Cannabis Use, The Lancet 374, 2009, 1383-1391.. Die individuellen Wirkungen sind anders, aber sicher nicht leichter als die von Alkohol und Nikotin. Ich zitiere aus einer Zusammenfassung des genannten Artikels:

Die wahrscheinlichsten unerwünschten Folgen des Cannabiskonsums sind ein Abhängigkeitssyndrom, ein erhöhtes Risiko für Verkehrsunfälle, gestörte Atemwegsfunktionen, Herzkreislauferkrankungen und nachteilige Effekte des regelmäßigen Konsums auf die psychosoziale Entwicklung der Heranwachsenden und die psychische Gesundheit.

Etwa neun Prozent der Personen, die jemals Cannabis konsumiert haben, sollen davon abhängig werden. Auch psychotische Störungen werden beobachtet. Wichtiger aber scheint mir: Die kumulativen Wirkungen von Cannabis sind um die Größenordnung zehn niedriger als die von Alkohol und Nikotin. Immerhin scheint das individuelle Risiko bei regelmäßigem Cannabiskonsum doch größer zu sein als bei Alkohol. Ich zitiere noch einmal aus derselben Quelle:

Die Autoren stellen fest, dass die Belastung der öffentlichen Gesundheit durch Cannabiskonsum im Vergleich zu Alkohol, Tabak und anderen illegalen Drogen noch relativ gering sei. Eine kürzlich erfolgte australische Studie schätzte, dass der Cannabiskonsum nur zu 0,2 Prozent zur Gesamtbelastung durch Krankheiten beitrage, und dass in einem Land, in dem höchste Cannabiskonsum-Raten verzeichnet werden. Cannabis wird für zehn Prozent der Belastungen verantwortlich gemacht, die durch alle illegalen Drogen entstehen (darunter Heroin, Kokain und Amphetamine). Außerdem werden zehn Prozent der Krankheitsbelastungen durch Alkohol (2,3 Prozent), jedoch nur 2,5 Prozent der Belastungen durch Tabak (7,8 Prozent) dem Cannabis angelastet.

Alkoholgenuss, so zitiert Willenbrock Mechthild Dyckmans, die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, gehöre nun einmal zur Kultur und sei »aus unserem gesellschaftlichen Leben nicht mehr wegzudenken«, die Freigabe von Cannabis sei dagegen für die Bundesregierung tabu. Willenbrock kommt zu dem Schluss:

»Man muss kein Quartalskiffer sein [3]Ich habe es nie probiert., um die Kriminalisierung von Cannabis für kontraproduktiv, kostspielig und verlogen zu halten.«

Dagegen finde ich keine Argumente, sondern nur die Erklärung, dass hier nach wie vor im Hintergrund ein Wertkonflikt ausgetragen wird, bei dem Cannabis nur als Symbol für eine bestimmte Weltsicht steht. [4]Ich wäre allerdings sehr vorsichtig, diese Argumentation auf die sog. Harten Drogen zu übertragen. Hier passt noch weitgehend die alte Schablone von links und rechts. Symbol des Symbols ist hier der frühere Richter und heutige Bundestagsabgeordnete der Linken Wolfgang Nešković, der als Vorsitzender Richter am Landgericht Lübeck 1992 dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorlegte, ob die Kriminalisierung des Besitzes von Cannabisprodukten im Hinblick auf die Legalität des viel gefährlicheren Alkohols nicht gegen den Gleichheitssatz verstoße. Der Vorlagebeschluss hat damals die Gefährlichkeit von Cannabis aus heutiger Sicht verharmlost. Und dennoch bleibt der Vergleich mit dem Alkohol triftig. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Cannabis-Beschluss (E 90, 145) letztlich einen Verfassungsverstoß verneint, weil die Möglichkeit bestehe, in Bagatellfällen durch das Absehen von Strafe (§ 29 Abs. 5 BtMG) oder Strafverfolgung (§§ 153 ff StPO, § 31a BtMG) dem Verdikt der Unverhältnismäßigkeit auszuweichen. Es erscheint wenig aussichtsreich, erneut verfassungsrechtlich gegen die Kriminalisierung von Cannabis zu argumentieren.
Warum hat sich das Cannabisverbot nicht von selbst erledigt wie einst die Alkoholprohibition? Immerhin hatte John Kaplan 1971 von einer »New Prohibition« gesprochen [5]John Kaplan 1971, Marihuana: The New Prohibition, New York 1971. gesprochen, um auszudrücken, dass das Recht mit der Kriminalisierung von Marihuana wieder auf dem zur Erfolglosigkeit verurteilten Weg sei, ein Verhalten, dessen Schädlichkeit nicht klar erwiesen sei und das von weiten Kreisen der Bevölkerung gebilligt oder gar praktiziert werde, aus moralischen Gründen zu verbieten. Der Grund liegt wohl darin, dass bei der Zahl der Cannabiskonsumenten die kritische Masse nicht erreicht wird. Die Zahl der Alkoholkonsumenten und damit Interessenten liegt mindestens um den Faktor 30 höher. [6] Zahlen im Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung 2009. Denkbar wäre das ja, dass man die Wirtschaft ankurbeln möchte, indem man die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen erhöht. Ich halte die Politik aber nicht für so zynisch ist, dass sie den volkwirtschaftlichen Schaden des Alkoholkonsums, der vor allem aus Gesundheitskosten und Arbeitsausfall resultiert und der in der Größenordnung von 20 Milliarden zu suchen ist, gegen die wirtschaftliche Bedeutung der Spirituosenindustrie aufrechnet.
Es geschehen manchmal Zeichen und Wunder. Wer hätte vor zwanzig Jahren gedacht, dass es gelingen würde, das Rauchen in der Öffentlichkeit soweit zurückzudrängen? Mit dem Bundesverfassungsgericht würde ich das »Recht auf Rausch« verneinen. Umgekehrt wäre es illiberaler Paternalismus, Alkohol und Nikotin von Staats wegen zu verbieten. Aber eine Prävention gegen Alkohol- ebenso wie gegen Nikotinmissbrauch ist nicht nur unbedenklich, sondern angezeigt. Es sieht so aus, als ob nun auch der Alkohol in die Defensive gerät. Vielleicht lesen wir bald auf jeder Flasche »Alkohol schadet der Gesundheit! Alkohol kann tödlich sein.« Da wäre es doch naheliegend, dass die Spirituosenindustrie sich für die Freigabe von Cannabis stark macht. Dann hätte die Sache vielleicht auch im politischen Raum eine Chance. Die Mittel für die notwendige Prävention – die auch jetzt schon aufgewendet werden –, lassen sich aus einer Cannabissteuer erzielen. Non olet.
Nachtrag vom 26. 9. 2010: In der FamS schreibt heute Paul Nicolas Hinz einen ganz interessanten Artikel »Trinker und Raucher kosten die Gesellschaft 60 Milliarden Euro«. [7]Der Artikel ist Online nur für Abonnenten zugänglich. Er bezieht sich dabei auf den Hamburger Rechtsökonomen Michael Adams. Auf dessen Homepage ist dazu nichts Aktuelles zu finden. Interessant scheint mir aber immer noch ein älterer Aufsatz zu der Frage »Wie zerstört man den Markt für Rauschgifte?«. Auch wenn er eigentlich die harten Drogen betrifft, wäre doch daraus für Cannabis-Produkte zu lernen, dass Freigabe nicht völlige Freigabe bedeuten kann, sondern kontrolliert nur soweit gehen sollte, dass der illegale Markt austrocknet.
Nachtrag vom 27. 10. 2010: Rein zufällig hatte ich gerade einen älteren Artikel von Sebastian Scheerer aufgeschlagen: The New Dutch and German Drug Laws: Social and Political Conditions for Criminalization and Decriminalization, Law and Society Review 12, 1978, 585-606. Ende der 1960er Jahre verbreitete sich in den Niederlanden und etwas später auch in der Bundesrepublik der Gebrauch von Cannabis und dann auch von Heroin, so dass von einer Rauschgiftwelle die Rede war. Beide Länder reagierten mit einer Reform ihrer Betäubungsmittelgesetze, die Bundesrepublik mit einer generellen Verschärfung, die Niederlande mit einer Verschärfung nur für den organisierten Rauschgifthandel, dagegen mit einer Milderungen der Sanktionen für bloße Konsumenten und in der Folgezeit der de facto Duldung des Konsums. Scheerer nimmt diese Gesetzgebung als Beispiel zum Test allgemeinerer Theorien über die Ursachen von Kriminalisierung und Dekriminalisierung. Scheerer beschreibt, wie die Dekriminalisierung des Drogenkonsums in den Niederlanden von politischen Machteliten gegen die öffentliche Meinung betrieben wurde.

Criminal legislation “from above” is directed not by public opinion but by the powerful. In legal democratic societies the powerful are organized social groups and the bureaucratic apparatus of government. It is their perception that determines where legislative action is needed. When they articulate their legislative interests the articulation alone is sufficient to create a political vacuum or a “policy deficit”, which every government must fill with some activity if it has not completely lost interest in remaining in power. These groups exercise a high degree of control over the political process. They are seldom progressive and often morally conservative. But if public opinion is punitive and repressive, the morally conservative masters of policy deficits are the only ones who can successfully decriminalize. The remarkable thing is that they do so.

Das ist natürlich kein Automatismus. Es kommt immer auf die Randbedingungen an. In Deutschland waren Polizei und vor allem Ärzteschaft gegen eine Entkriminalisierung. Für die Niederlande verweist Scheerer auf das als Versäulung der Gesellschaft bekannte Phänomen und die daraus folgende spezifische Toleranzhaltung. Da hat sich anscheinend in der Zwischenzeit etwas geändert.
Nachtrag: Die Kalifornier haben am 2. November 2010 die Proposition 19 zur Legalisierung von Cannabis abgelehnt. Ohnehin hätte wohl Kalifornien als Bundesstaat gar keine ausreichende Gesetzgebungskompetenz gehabt, um Anbau, Besitz und Verbrauch von Marihuana wie beabsichtigt straffrei zu stellen. Dazu in der heimlichen Juristenzeitung vom 2. November S. 20 der Artikel von Roland Lindner: Mit Marihuana gegen die Haushaltskrise.
Nachtrag vom 4. 2. 2011: Die Studie »Alkoholkonsum Jugendlicher und junger Erwachsener in Deutschland 2010« steht unter http://www.bzga.de >Forschung > Studien/Untersuchungen > Studien zum Download bereit.
Nachtrag vom 11. 3. 2011: Nach einer neuen Pressemitteilung soll eine neue Studie der University of New South Wales, Sydney, belegen, dass der Genuss von Cannabis den Ausbruch psychischer Erkrankungen in den entscheidenden Jahren der Gehirnentwicklung um bis zu 2,7 Jahren beschleunigen kann.
Nachtrag vom 19. 11. 2020: Drogen-Trip ins Krankenhaus – Ulmer Studie zeigt starke Zunahme von Cannabis-Psychosen: Seit 2011 hat sich am Universitätsklinikum Ulm die Zahl der Psychiatriepatienten mit Cannabis-Psychose vervielfacht. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III. Mögliche Ursache ist der hohe THC-Wert von hochpotenten Neuzüchtungen sowie von synthetischen Cannabis-Produkten. Ein weiterer Grund könnte die ab 2017 geltende gesetzliche Zulassung von medizinischem Cannabis sein: Maximilian Gahr/Julia Ziller/Ferdinand Keller/Carlos Schönfeldt-Lecuona, Increasing Proportion of Cannabinoid-Associated Psychotic Disorders: Results of a Single-Center Analysis of Treatment Data From 2011 to 2019, Journal of Clinical Psychopharmacology 40, 2020, 642-645.
Nachtrag vom 5. 3. 2021: Einer von zehn Konsumenten entwickelt eine Cannabiskonsumstörung. Das ist der Tenor eines Übersichtsartikels, der soeben in dem des britischen Wissenschafts-Magazins Nature veröffentlicht wurde (Cannabis Use and Cannabis Use Disorder, Nat Rev Dis Primers 7, 17, 2021, https://doi.org/10.1038/s41572-021-00256-3).

Aus der Pressemitteilung des Universitätsklinikums München, wo die Mitautorin Eva Hoch tätig ist:

»Nach Angaben der Vereinten Nationen nutzen etwa 193 Millionen Menschen pro Jahr Cannabis, das aus der Hanfpflanze gewonnen wird. Und anderem mit diesen Konsequenzen: Neben dem kurzfristigen, berauschenden Gefühl verringert Cannabis die Aufmerksamkeit und schränkt die Psychomotorik ein, das Risiko für Arbeits- und Verkehrsunfälle steigt. Zudem kann bei genetischer Vorbelastung schon einmaliger Konsum eine Psychose auslösen, das Risiko für psychische Störungen ist ebenfalls erhöht.

Teenager, die Cannabis konsumieren, haben häufiger Schulprobleme, brechen ihre Ausbildung öfter ab. Einer von zehn Konsumenten entwickelt eine Cannabiskonsumstörung. Aber nicht jeder hat das gleiche Risiko dafür. ›Neben einer genetischen Vulnerabilität gibt es verschiedene psychische und soziale Risikofaktoren. Ob sich aus dem Cannabiskonsum eine Abhängigkeit entwickelt, hängt auch davon ab, wie intensiv man vor dem 16. Lebensjahr konsumiert‹, erklärt PD Dr. Hoch. ›Besonders in der Pubertät bis hin zum jungen Erwachsenenalter verändert Cannabis die Struktur und die Funktion des Gehirns.«

Seit den Hippie-Zeiten in den 1970er Jahren hat sich die Droge stark verändert. In den letzten zehn Jahren hat sich der psychoaktive Hauptwirkstoff in der Hanfpflanze, das Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC), durch spezielle Züchtungen fast verdoppelt. Das nicht-berauschende Cannabidiol (CBD), dem schützende Eigenschaften zugeschrieben werden, ist oftmals nicht mehr in der Droge vorhanden. Die Pflanze enthält nach heutigem Kenntnisstand mindestens 150 Cannabinoide, die wenigsten davon sind erforscht.«

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Mark Lawrence Schrad, The Political Power of Bad Ideas. Networks, Institutions, and the Global Prohibition Wave, Oxford 2010. Das in diesem Zusammenhang wichtige Kapitel findet man auch unter dem Titel »The Transnational Temperance Community« in: Marie-Laure Djelic/Sigrid Quack (Hg.), Transnational Communities, Cambridge 2010, S. 255–281.
2 Adverse Health Effects of Non Medical Cannabis Use, The Lancet 374, 2009, 1383-1391.
3 Ich habe es nie probiert.
4 Ich wäre allerdings sehr vorsichtig, diese Argumentation auf die sog. Harten Drogen zu übertragen.
5 John Kaplan 1971, Marihuana: The New Prohibition, New York 1971.
6 Zahlen im Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung 2009.
7 Der Artikel ist Online nur für Abonnenten zugänglich.

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