Treibball in die Rechtssoziologie

Ein Pensionär braucht keine Ausrede mehr, wenn er zeitraubenden Freizeitbeschäftigungen nachgeht. Doch auch dabei kann er gelegentlich für die Rechtssoziologie profitieren. Eine Freundin, mit der ich gerne (nicht nur) über den Golfplatz gehe (wo sie mit bewundernswertem Scharfblick meine Bälle im Rough wiederfindet), hatte mir erzählt, dass ihre Tochter als Ethnologin in Halle tätig sei. Da habe ich natürlich gegugelt und Dr. Andrea Behrends gefunden und dazu einige ihrer Texte. [1]Andrea Behrends, Traveling Models in Conflict Management, 2008; Andrea Behrends, Fighting for Oil when there is no Oil yet: The Darfur-Chad Border, European Journal of Anthropology Focaal, 52, 2008, … Continue reading
In der Rechtssoziologie kennt man das Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle, weil dort Franz und Keebet von Benda-Beckmann ein Forschungsprogramm zum Rechtspluralismus betreiben. Aber dass es an der Martin-Luther-Universität in Halle auch ein Seminar für Ethnologie gibt, war mir entgangen. Es gab auch keinen Grund zur Kenntnisnahme, weil dort explizit keine Rechtssoziologie betrieben wird. Trotzdem – sozusagen aus persönlichem Interesse – habe ich die Texte von Frau Behrends, die im Internet zu finden sind, gelesen, und – siehe da – sie sind für die Rechtssoziologie durchaus interessant. Heute nur zu dem »kleinsten« dieser Texte über Traveling Models in Conflict Management. Die anderen verdienen ein separates Posting für das ich bisher nur eine Überschrift habe, aber noch keinen Inhalt: Kampf der Kulturen oder Kampf ums Öl?
Der Text »Traveling Models of Conflict Management« ist auf der Webseite einer NGO »Africa Peace and Conflict Network« veröffentlicht. Er berichtet über ein von der Volkswagen Stiftung finanziertes Forschungsprojekt, das von Frau Dr. Behrends koordiniert wird. In sechs afrikanischen Ländern werden jeweils ein traditionelles oder ein importiertes Konfliktregelungsverfahren beobachtet. Beteiligt sind stets ein einheimischer Doktorand, ein Wissenschaftler aus dem entsprechenden afrikanischen Land und ein deutscher Wissenschaftler. Spannend ist die Sache allein schon deshalb, weil die Forschung zum Teil in Ländern stattfindet, in die sich ein Tourist kaum hineinwagen würde (Sudan, Tschad, Äthiopien, Liberia, Sierra Leone, Süd Afrika).
Für die Rechtssoziologie ist alternative Konfliktregelung ein Standardthema. Dazu wird so viel untersucht und geschrieben, dass man (ich) nicht alles zur Kenntnis nehmen kann, sondern nach Generalisierungen suchen muss. Bei diesem Projekt scheint mir das Konzept der wandernden Konfliktregelungsmodelle dazu geeignet. Es geht darum, dass nicht alle Konfliktregelungsverfahren, die im zeitgenössischen Afrika praktiziert werden, am Ort der Auseinandersetzung Tradition haben. Auch die Kolonialverwaltung hat verschiedene Verfahren zur Beilegung lokaler Konflikte eingeführt. Und heute gibt es bekanntlich eine ganze Dispute-Settlement-Industrie, die ihre Modelle anbietet. Der Witz ist nun, dass beobachtet werden soll, wie einzelne Konfliktregelungsmodelle auf Wanderung gehen, wie sie also an einem anderen als dem Ursprungsort verwendet werden. Dazu müssen sie zunächst mobilisiert werden, d. h., aus Ideen müssen Texte, Geschichten und Bilder werden oder es müssen Menschen als Übermittler tätig werden. Die Ideen werden dazu aus ihrem ursprünglichen Kontext in einen neuen verpflanzt, wo sie sich stabilisieren können, vermutlich mit anderen Wirkungen, und von wo aus sie vielleicht sogar wieder eine neue Reise antreten. [2]Behrends verweist ohne Seitenangabe auf Rottenburg 2002. Richard Rottenburg ist der Direktor des Hallenser Seminars für Ethnologie. Gemeint ist sein Buch »Weit hergeholte Fakten: Eine Parabel der … Continue reading Eine gewisse Ironie liegt darin, dass man vor Jahrzehnten Konfliktregelungsmodelle aus Afrika importiert hat [3]James L. Gibbs, The Kbelle Moot: A Therapeutic Model for the Informal Settlement of Disputes, Africa 33 (1963) 1–11; Philipp H. Gulliver, Negotiations as a Mode of Dispute Settlement: Towards a … Continue reading und dass nun ausgerechnet dort der Wanderzirkus der Konfliktregelungsverfahren zum Thema wird.
Das Konzept der Wandermodelle ist umso interessanter als es nicht auf Konfliktregelungsverfahren begrenzt ist, sondern sich auf Institutionen aller Art anwenden lässt. Damit wäre man wieder bei einem Standardproblem der Rechtssoziologie, der Übertragung einer Institution aus einem Rechtskreis in einen anderen, Einfuhr und Ausfuhr, Rezeption und Oktroyierung von Recht. Ich kann noch nicht erkennen, ob das Konzept der wandernden Institutionen mehr hergibt als eine Metapher. Als solche weckt es eher friedliche Konnotationen, ganz anders als die in der Rechtssoziologie geläufigen Ausdrücke Oktroyierung von Recht oder imposition of law. Gefunden habe ich bei Sowiport noch das Abstract eines Papers von Rottenburg von 1995 mit dem Titel »When organizations travel. On intercultural cultural translation«. Danach ist die Sache wohl doch etwas komplizierter.

Während die Verbreitung von organisatorischen Modellen in der Regel auf ihre instrumentellen Aspekte und auf die Frage der optimalen Anpassung an die Organisationsumwelt hin ausgeleuchtet wird, verfolgt der Autor den Ansatz, Wandel als Materialisierung von Ideen zu verstehen. Nicht unterschiedliche Modelle der formalen Organisation, sondern die Idee der formalen Organisation selbst wird ins Zentrum gerückt. Zu diesem Zweck wird die empirisch größtmögliche Differenz zwischen dem Kontext, in dem sich eine Idee materialisiert, und der Idee angenommen. Es geht um die Materialisierung der modernen Idee formaler Organisation im zeitgenössischen Afrika am Beispiel eines einzelnen Wirtschaftsunternehmens. Als theoretische Folie dienen vor allem Ansätze aus der Soziologie der Übersetzung nach Callon und Latour sowie Ansätze des Neo-Institutionalismus. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist die Warnung davor, über die poststrukturale Analyse von Akteursnetzwerken und von politisch-kulturellen Übersetzungsprozessen eine Beliebigkeit dieser Übersetzungsprozesse zu postulieren.

Ich glaube nicht, dass ich dem weiter nachgehen werde.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Andrea Behrends, Traveling Models in Conflict Management, 2008; Andrea Behrends, Fighting for Oil when there is no Oil yet: The Darfur-Chad Border, European Journal of Anthropology Focaal, 52, 2008, 39-56; Andrea Behrends, The Darfur Conflict and the Chad/Sudan Border – Regional Context and Local Re-configurations, Sociologus 57, 2007, 99-131; Andrea Behrends/Jan-Patrick Heiß, Crisis in Chad: Approaching the Anthropological Gap, Sociologus 57, 2007, 3-9; Andrea Behrends/Günther Schlee, Lokale Konfliktstrukturen in Darfur und dem Osten des Tschad oder: Was ist ethnisch an ethnischen Konflikten? In: Walter Feichtinger und Gerald Hainzl (Hg.), Krisenmanagement in Afrika, Wien 2008, S. 159-178; Stephen Reyna/Andrea Behrends, Toward an Anthropology of Oil and Domination, European Journal of Anthropology Focaal, 52, 2008, 3-17.
2 Behrends verweist ohne Seitenangabe auf Rottenburg 2002. Richard Rottenburg ist der Direktor des Hallenser Seminars für Ethnologie. Gemeint ist sein Buch »Weit hergeholte Fakten: Eine Parabel der Entwicklungshilfe«. Größere Teile des Buches findet man bei Google-Books. Die Seiten, die hier relevant wären, fehlen anscheinend. In der UB war das Buch heute ausgeliehen, das Seminar für Entwicklungshilfe geschlossen.
Im Netz habe ich eine informative Besprechung des Buches von Thomas Bierschenk gefunden.
3 James L. Gibbs, The Kbelle Moot: A Therapeutic Model for the Informal Settlement of Disputes, Africa 33 (1963) 1–11; Philipp H. Gulliver, Negotiations as a Mode of Dispute Settlement: Towards a General Model, Law and Society Review 7 (1973) 667–691; ders., On Mediators, in: Ian Hamnett, Social Anthropology and Law, London 1977, 15-52, 39; vgl. auch Werner Nothdurft/Thomas Spranz-Fogasy, Der kulturelle Kontext von Schlichtung. Zum Stand der Schlichtungs-Forschung in der Rechts-Anthropologie, ZfRSoz 7, 1986, 31-52, 35.

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Nachlese: Wie wirkt Recht?

Nach dem Kongress der Vereinigung für Rechtssoziologie in Luzern 2008 unter dem Thema ist schon 2009 ein erster Tagungsband erschienen: Estermann, Josef (Hrsg.), Interdisziplinäre Rechtsforschung zwischen Rechtswirklichkeit, Rechtsanalyse und Rechtsgestaltung, Beiträge zum Kongress “Wie wirkt Recht?” Luzern, 2008, Bern 2010. [1]Ein zweiter Tagungsband, herausgegeben von Michelle Cottier und Michael Wrase, der in der Schriftenreihe der Vereinigung erscheinen soll, ist dem Vernehmen nach im Druck. Jetzt bin ich endlich dazu gekommen, diesen Band durchzusehen. Ich will auf zwei Beiträge hinweisen, die mich besonders interessiert haben. Dass sie auch nacheinander abgedruckt sind, ist natürlich reiner Zufall:

Fritz Dolder/Mauro Buser, Zitieren geht über Studieren — Empirische Wanderungen im Grenzgebiet zwischen Rechtslehre und Rechtsprechung (S. 193–210)
Peter Thiery/Jenniver Sehring/Wolfgang Muno, Wie misst man Recht? Möglichkeiten und Grenzen der Messung von Rechtsstaatlichkeit (S. 211–230).
Dolder und Buser haben eine Stichprobe von

Urteilsbegründungen des schweizerischen Bundesgerichts zum Obligationenrecht daraufhin ausgewertet, wie viel Literatur sie zitieren, wen sie zitieren, und ob das Urteil mit den Zitaten konform geht. Sie waren ausgegangen von der Arbeitshypothese, dass solche Zitate drei Funktionen erfüllen könnten, nämlich informativ-kognitive, persuasiv-normative und sozial-zeremonielle. Sie finden, dass die Zitate persuasive und dann vor allem sozial-zeremonielle Wirkung haben, indem sie eine professionelle Arbeitsweise anzeigen. Aber das ist noch gar nicht so interessant. Niemand hätte etwas anderes erwartet. Das gilt auch für die Beobachtung, dass die Zitatdichte enorm gewachsen ist und sich nach 1980 noch einmal verdoppelt hat. Dafür gibt es einfache Erklärungen, nämlich die Zunahme der juristischen Textproduktion und nach 1980 auch die Automatisierung der Textverarbeitung. Die Frage, wer zitiert wird, beantwortet sich nach dem von Robert K. Merton so getauften Matthäus-Prinzip: success breeds success. [2]The Matthew Effect in Science, Science, 1968, 56-63; ders., The Matthew Effect in Science, II, ISIS 79, 1988, 606-623. Da ist es konsequent, dass die Autoren die Zitierhäufigkeit für einzelne Autoren mit der sonst für die Messung der Einkommens- und Vermögensverteilung verwendeten Gini-Koeffizienten darstellen. Sie errechnen für die jüngste Zeit einen Gini-Koeffizienten von 0.65. Bei der Einkommensverteilung wäre eine so starke Ungleichheit nach Ansicht der UN ein Indiz für aufkommende soziale Spannungen.
Um ihrem Material eine spezifisch rechtssoziologische Dimension abzugewinnen, sehen die Autoren auf die Ablehnungsquote, also den Anteil der Zitate, bei denen das Urteil die Aussage des Zitierten inhaltlich ablehnt. In der letzten beobachteten Periode liegt die Quote bei 4,78 %. Früher war sie etwas höher, aber auch nie zweistellig. Dolder und Buser weisen darauf hin, dass in anderen Ländern andere Sitten herrschen. In England und in den USA wird praktisch keine Literatur zitiert. Die Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts zitieren nur eigene Vorurteile. Aber – so erfährt man aus einem Verweis auf Dolders Dissertation von 1986 in Fußnote 5 – der OGH in Österreich, das Bundesarbeitsgericht und der Bundesgerichtshof in Deutschland liegen in der Zitierhäufigkeit doch sehr ähnlich wie das Schweizer Bundesgericht.
Die Autoren finden die Zitierquote von annähernd 5 % niedrig und interpretieren sie als organisierten Konformismus. Dazu berufen sie sich noch einmal auf Merton [3]Wissenschaft und demokratische Sozialstruktur, in: Weingart (Hg.), Wissenschaftssoziologie I, 1972, S. 45-59; Original 1942 in »Social Theory and Social Structure«., der der für seine Wissenschaftssoziologie den Begriff des organisierten Skeptizismus geprägt hat. Er will damit die Bedeutung wechselseitiger Kritik hervorheben. »Organisiert« ist die darin zum Ausdruck kommende Skepsis, weil sie sozial unterstützt wird. Der Gegenbegriff des organisierten Konformismus stammt wohl von Dolder und Buser selbst. Gemeint ist, dass eine allgemeine Erwartungshaltung besteht, dass Rechtsprechung und Rechtslehre wechselseitig nicht voneinander abweichen. Oder vielmehr, sie weichen gerade nur so viel voneinander ab, dass nicht der Eindruck von Kritiklosigkeit oder Unwissenschaftlichkeit entsteht.
Am Rande (S. 203) erfährt man, dass auf dem Gebiet des Arbeitsrechts die zitierten Autoren nicht so ausgewählt werden, dass sie die gesellschaftlichen Gruppierungen, denen sie zugerechnet werden können, repräsentieren. Rund 85 % der Zitierten standen den Arbeitgebern und ihren Organisationen nahe. Und am Ende folgt noch eine kritische Bemerkung dahin, dass Richter häufig selbst als Kommentatoren tätig sind und dann von den Gerichten bevorzugt zitiert werden. Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang Fußnote 23, die darauf hinweist, dass es im römischen Recht Positivlisten zitierwürdiger Autoren gab, während im NS-Staat und wohl auch in der DDR jüdische oder »bürgerliche« Autoren auf (wohl informellen) Negativlisten standen.
Die Abhandlung von Thiery, Sehring und Muno habe ich deshalb besonders aufmerksam gelesen, weil sie sich mit der Berichtsforschung befasst, die ich seit einiger Zeit im Blick habe.
Im Zuge der Globalisierung wächst der Wunsch, die weltweite Ausbreitung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu messen. Es ist erstaunlich, wie viele Institutionen sich der Aufgabe angenommen haben, mindestens Elemente von Demokratie und Rechtsstaat vergleichend zu messen. In aller Regel wird die Arbeit (und ihre Finanzierung) durch ein starkes Interesse an der Verbreitung von Rechtsstaat und Demokratie westlichen Musters motiviert. Meistens geschieht das kontinuierlich über viele Jahre, und die Ergebnisse werden laufend nach der Art von Rennlisten veröffentlicht. Thiery, Sehring und Muno haben sich drei einschlägige Berichte vorgenommen, nämlich
Freedom in the World von Freedom House
Worldwide Governance Indicators von der Weltbank
den Transformationsindex der Bertelsmann-Stiftung.
Sie unterziehen die Methodik der Rechtsstaatsmessung einer eingehenden Analyse und Kritik. (Darauf werde ich nach Möglichkeit bei anderer Gelegenheit näher eingehen, denn diese Methodenkritik lässt sich teilweise auch für andere Berichte verallgemeinern.) Ihr Ergebnis (S. 226) ist verhalten positiv. Die analysierten Indizes

messen … zwar die Verwirklichung des Rechtsstaates, nicht aber die gesamte Rechtswirklichkeit eines Landes. So kann ein nicht voll funktionierender Rechtsstaat durch ein responsives customary law ergänzt werden. Er kann aber auch defizitär sein, weil in bestimmten funktionalen oder territorialen Bereichen mächtige Akteure (Guerilla, Oligarchen, etc.) ein eigenes Regelsystem aufgebaut haben …

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Ein zweiter Tagungsband, herausgegeben von Michelle Cottier und Michael Wrase, der in der Schriftenreihe der Vereinigung erscheinen soll, ist dem Vernehmen nach im Druck.
2 The Matthew Effect in Science, Science, 1968, 56-63; ders., The Matthew Effect in Science, II, ISIS 79, 1988, 606-623.
3 Wissenschaft und demokratische Sozialstruktur, in: Weingart (Hg.), Wissenschaftssoziologie I, 1972, S. 45-59; Original 1942 in »Social Theory and Social Structure«.

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Serendipity-Effekt

Im Posting vom 30. 12. 2008 hatte ich den Serendipity-Effekt erwähnt. Gemeint war das Phänomen, dass man bei der Suche nach bestimmten Informationen ganz andere entdeckt, die nicht zum Thema gehören, aber sozusagen aus eigenem Recht interessant sind. Ich spreche gelegentlich auch von Kollateralfunden. Solche Gelegenheitsfunde gab es natürlich schon immer. Mein Eindruck ist aber, dass sie bei der Internetrecherche gehäuft auftreten.
Nun beißt sich die Schlange in den Schwanz. (Ein zünftiger Systemtheoretiker würde natürlich von Selbstreferentialität reden.) Zufällig habe ich in dem Nachruf von Erwin K. Scheuch auf Robert K. Merton entdeckt, dass das Kunstwort serendipity wohl eine Erfindung von Merton ist. Auch unabhängig davon ist der Nachruf lesenswert. Er relativiert doch ein bißchen die Bedeutung der Autoren, die heute nach dem von Merton formulierten Matthäus-Prinzip [1]Robert K. Merton, The Matthew Effect in Science, Science 1968, 56-63; ders., The Matthew Effect in Science, II, ISIS 79, 1988, 606-623. im Vordergrund stehen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Robert K. Merton, The Matthew Effect in Science, Science 1968, 56-63; ders., The Matthew Effect in Science, II, ISIS 79, 1988, 606-623.

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Zur Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit

Die Zweiteilung von öffentlicher und Privatsphäre entstand im 16. und 17. Jahrhundert mit der Entstehung des modernen Staates. Gegenüber dem Staat, der im Prinzip unbegrenzte Souveränität für sich in Anspruch nahm, bezeichnete die Privatsphäre den Raum, der gegen staatliche Eingriffe immun sein sollte. Als solcher wurden Familie und Wirtschaft und später auch Religion, Kunst und Wissenschaft angesehen. Zwar hatte schon John Locke (1632-1704) die Idee einer staatsfreien Privatsphäre formuliert. Doch erst im 19. Jahrhundert machten sich die Juristen daran, das ganze Recht an dem Begriffspaar öffentlich – privat neu auszurichten. Die Religionsfreiheit war inzwischen überall weitgehend gesichert – in Deutschland paradoxerweise öffentlich-rechtlich, denn Religion ist doch eigentlich die privateste Angelegenheit überhaupt. Das Privatrecht wurde zur Domäne des Eigentums und der Wirtschaftsbeziehungen. Daneben blieben ihm noch die Familienbeziehungen. Dagegen wurde die Gesundheit, für viele eine höchst private Angelegenheit, bald Regelungs­gegenstand des öffentlichen Rechts.
Auch auf der gesellschaftlichen Ebene ist die Unterscheidung einer privaten und einer öffentlichen Sphäre lebendig. Sie bestimmt nicht nur die Organisation des politischen Lebens, sondern ist oder war für wichtige Lebensbereiche der meisten Menschen auch soziale Realität. Sie erleben eine Privatsphäre im Sinne von privacy [1]Louis D. Warren und Samuel D. Brandeis haben 1890 mit einem Artikel »A Right to Privacy« eine juristische Definition gegeben: »The common law secures to each individual the right of determining, … Continue reading, die es gegenüber der Öffentlichkeit zu verteidigen gilt. Öffentlichkeit ist dabei in erster Linie der Kommunikationszusammenhang, der durch die Medien, durch Presse, Rundfunk, Fernsehen und Internet hergestellt wird. »Öffentlichkeit« begründen aber auch neue technische Entwicklungen, mit deren Hilfe Staat und Wirtschaft die Privatsphäre unter Kontrolle bringen. Im feministischen Diskurs wird auch die Erwerbsarbeit zur Öffentlichkeit gerechnet.
In der Rechtssoziologie, insbesondere von Anhängern der Critical Legal Studies und aus feministischer Sicht, wurde im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die Unterscheidung von öffentlicher und privater Sphäre kritisiert und verworfen. Die »Crits« [2]Karl E. Klare, The Public/Private Distinction in Labor Law, University of Pennsylvania Law Review 130 (1982), 1358–1422; Gerald Turkel, The Public/Private Distinction: Approaches to the Critique of … Continue reading beriefen sich auf Karl Marx und erklärten die Unterscheidung zur Ideologie, die dazu diene, Machtstrukturen und Formen der Ungleichheit zu legitimieren oder gar zu mystifizieren. Von feministischer Seite wurde die Unterscheidung als Form patriarchalischer Dominanz gebrandmarkt. Gegenwärtig kursiert die These, dass die Privatisierung von Staatsaufgaben und die Entwicklung eines transnationalen Rechts die Unterscheidung von öffentlichem und Privatrecht obsolet werden lasse, weil staatliche Verwaltung sich in organisatorische Netzwerk- und Governancestrukturen auflöse.
Auch ohne Rückgriff auf marxistische Konzepte steht die Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit unter Ideologieverdacht. Der Verdacht ist begründet, solange die Zuordnung von Akteuren und ihren Handlungen zu der einen oder der anderen Sphäre als mehr oder weniger selbstverständlich erscheint, weil sich mit ihr – zunächst ganz untechnisch gesprochen, aber dann auch im juristischen Sinne – unbedachte Rechte und Pflichten verbinden. Wenn die Familie Privatsache ist, muss man sie, etwa bei der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau oder bei der Kindererziehung gewähren lassen. Wenn Sexualität und Schwangerschaft zur Privatsphäre gehören, gibt es keinen Grund, eine Frau zur Austragung ihres Kindes anzuhalten (»Mein Bauch gehört mir.«). Als Ort der Privatheit ist die Familie zugleich der Ort für mancherlei Missbrauch und Gewalt. Die Unterscheidung lässt sich bis in die individuelle Lebensführung hinein verfolgen: Persönliche Karrierewünsche durchkreuzen ein öffentliches Engagement. Soziales Missgeschick wie der Verlust von Arbeitsplatz oder Wohnung werden zur Privatangelegenheit. Nicht zuletzt die Geschlechterordnung wird oder wurde durch den Dualismus von öffentlich und privat bestimmt: Die öffentlichen Felder wurden dem männlichen und die Privatsphäre dem weiblichen Geschlecht zugeordnet. Traditionell gilt wirtschaftliche Betätigung als Privatsache. Aber zur Wirtschaft zählen nicht nur Einzelkaufleute, sondern Gesellschaften bis hin zu den multinationalen Unternehmen. Mit ihrer Zuordnung zur Privatwirtschaft verbindet sich die Freistellung von vielen Pflichten, die öffentliche Akteure treffen. Viele politische Fragen werden daher unter dem Aspekt einer Neubestimmung von Öffentlichkeit und Privatheit ausgetragen. Auch im juristischen Diskurs ist die Unterscheidung verblasst [3]Näher Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, § 52.. Zeitweise ergab sich aus der klaren Zuordnung zu dem einen oder anderen Bereich oft die Lösung einer Rechtsfrage. Scheinbare Überschneidungen wurden durch Ausnahmetatbestände ausgeräumt wie bei der fiskalischen Tätigkeit des Staates oder der öffentlich-rechtlichen des beliehenen Unternehmers. Heute ist die Zuordnung das Problem. Die Benennung eines Sachverhalts als öffentlich oder privat ist selbst nicht länger Argument, sondern nur noch eine nachträgliche Benennung.
Duncan Kennedy [4]The Stages of the Decline of the Public/Private Distinction, University of Pennsylvania Law Review 130 (1982), 1349–1357. hat für das amerikanische Recht kurz und prägnant beschrieben, wie die Unterscheidungskraft der Dichotomie öffentlich-privat verfallen ist. Dazu unterscheidet er sechs Stadien. Das erste findet er schon im 19. Jahrhundert in einem Rechtsstreit, in dem die Bank of the United States die Freigabe von Vermögensgegenständen forderte, die von einem Beamten des Bundesstaates Ohio gepfändet worden waren. Dabei ging es um die Frage, ob der Vollstreckungsbeamte als Private oder als Repräsentant des Staates anzusehen war, denn die Verfassung der USA untersagt es, vor Bundesgerichten gegen einen Staat zu klagen. In zweiter Linie wurde dann auch die Frage akut, ob die Bank eine öffentliche Einrichtung war, bei der gar nicht gepfändet werden durfte. Damit, so Kennedy, sei die Selbstverständlichkeit der Unterscheidung verloren gegangen. Der zweite Schritt kam erst über hundert Jahre später mit der Entwicklung neuer, vermittelnder Begriffe. Nun war von privaten Unternehmen die Rede, die öffentliche Funktionen wahrnehmen und umgekehrt von Behörden, die sich wirtschaftlich betätigen. Dann tauchen, drittens, Argumente auf, die die Unterscheidung anscheinend ganz zusammenbrechen lassen. Man sagt etwa, Eigentum und Vertrag würden letztlich vom Staat garantiert, also könnten sie nicht privat sein, ein Gedanke, der uns aus der Theorie der außervertraglichen Grundlagen des Vertrages vertraut ist [5]Röhl/Röhl a. a. O. § 53.. Auf diesen »Kollaps« der Unterscheidung folgt viertens ein Rettungsversuch. Er besteht darin, aus der Dichotomie von öffentlich und privat ein Kontinuum zu machen (»continuumization«). »The distinction is dead, but it rules us frome the grave.« (S. 1353) Was dann folgt, ist Stereotypisierung: Es werden immer wieder die Standardargumente heruntergebetet, wie sie jedem deutschen Juristen nur allzu gut aus der Zulässigkeitsprüfung im Verwaltungsprozess bekannt sind. Die Entscheidung wird beliebig. Das Endstadium nennt Kennedy Loopification. Die beiden Enden des Kontinuums überschlagen sich. Die Familie erfüllt wichtige öffentliche Aufgaben und sie ist doch ein Arcanum des Privaten. Der Verbraucher folgt seinen höchst privaten Präferenzen, und sein Verhalten ist doch Gegenstand staatlicher Regulierung usw. Man kann die Unterscheidung nicht mehr ernst nehmen. Soweit Kennedy. Aber – so Teubner in einer Diskussionsbemerkung auf der letzten Tagung der Vereinigung für Rechtssoziologie [6]Die Tagung war im doppelten Sinne die letzte, nämlich zeitlich und vor der Umbenennung der Vereinigung –: Jeder dekonstruiert die öffentlich-private Grenze, aber keiner weiß sie zu ersetzen. »Polyzentrisch« taucht die Unterscheidung öffentlich-privat überall wieder auf.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Louis D. Warren und Samuel D. Brandeis haben 1890 mit einem Artikel »A Right to Privacy« eine juristische Definition gegeben: »The common law secures to each individual the right of determining, ordinarily, to what extent his thoughts, sentiments, and emotions shall be communicated to others.« (Harvard Law Review IV, 1890).
2 Karl E. Klare, The Public/Private Distinction in Labor Law, University of Pennsylvania Law Review 130 (1982), 1358–1422; Gerald Turkel, The Public/Private Distinction: Approaches to the Critique of Legal Ideology, Law and Society Review 22 (1988) 801–823.
3 Näher Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, § 52.
4 The Stages of the Decline of the Public/Private Distinction, University of Pennsylvania Law Review 130 (1982), 1349–1357.
5 Röhl/Röhl a. a. O. § 53.
6 Die Tagung war im doppelten Sinne die letzte, nämlich zeitlich und vor der Umbenennung der Vereinigung

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Legal Narratives III: »Von den Fällen, die fallweise im Einzelfall anfallen.«

Unter der Überschrift [1]Mit dem Zitat im Titel dieses Postings überschrieb Konrad Adam seinen Bericht über den Zwanzigsten Deutschen Soziologentag in Bremen 1980. Legal Narratives II habe ich die »Fallerzählungen der Juristen« angesprochen. Diese Darstellung darf so nicht stehen bleiben, denn der juristische Umgang mit Fällen beschränkt sich nicht auf bloße Narration. Juristen bearbeiten ihre Fälle sehr intensiv und sie gewinnen daraus über den Einzelfall hinaus ein enormes Erfahrungsmaterial.

Den Juristen wird immer wieder Resistenz gegen Interdisziplinarität vorgehalten. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich Einiges geändert. Wer einen Drittmittelantrag stellt, wird ihn mindestens aus gesundem Opportunismus auf interdisziplinär frisieren. Nicht wenige Zivilrechtler umarmen inzwischen die Ökonomische Analyse des Rechts, und einige Öffentlich-Rechtler sind auf Luhmann und die Systemtheorie abgefahren. Und wieder andere betätigen sich als »intellektuelle Bastler«. [2]Hubert Treiber, Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft – eine »Revolution auf dem Papier«?, Kritische Justiz 2007, 328. Aber in der juristischen Praxis ist die Resistenz gegenüber Interdisziplinarität ungebrochen. Ob diese Tatsache beklagenswert und änderungsbedürftig ist oder nicht, darauf will ich jetzt nicht eingehen. Ich will nur eine mögliche Erklärung angeben, die die Immunität/Aversität der Juristen gegenüber fremddisziplinärer Beeinflussung bis zu einem gewissen Grade verständlich macht.
Die Erklärung liegt eigentlich auf der Hand und wird vielleicht gerade deshalb nicht bemerkt. Ich habe sie in der »Allgemeinen Rechtslehre« (S. 649), nachdem mein Mitautor mich darauf hingewiesen hatte, zunächst nur ganz kurz angesprochen: Die Rechtswirklichkeit drängt sich der juristischen Praxis in dem in Rechtsprechung in Schrifttum ausgebreiteten Fallmaterial auf. Die empirische Sozialforschung hat es schwer, der Fülle des Materials, das von Gerichten und Juristen mit großem Aufwand recherchiert, publiziert und regelmäßig auch diskutiert wird, etwas entgegenzusetzen. Es geht ganz einfach um die Fälle, mit denen Anwälte und Richter tagtäglich konfrontiert sind. Jeder Einzelne begegnet ihnen zu Hunderten und zu Tausenden. Sieht man auf Gericht und Anwaltschaft als Institution, sind es Millionen. Das sind nicht nur Zahlen in der Statistik, sondern die Mehrzahl dieser Fälle wird sorgfältig aufbereitet. Von einer solchen Materialfülle können Soziologen und Ethnologen nur träumen. Sie distanzieren sich gewöhnlich von den »Fällen« der Juristen, indem sie das in der Berufspraxis erworbene Wissen als deformiert zurückweisen. Doch solche Kritik ist nur akzeptabel, wenn zuvor das Erfahrungsmaterial der Jurisprudenz auch positiv gewürdigt wurde. Deshalb war es sicher ein Fortschritt, dass sich in Bielefeld am ZiF eine Forschungsgruppe mit dem »Fall als Fokus professionellen Handelns« befasst hat. In der Ankündigung auf der Webseite des ZiF las man:

»… Zum Kern der professionellen Tätigkeit zählen der Umgang und die Arbeit mit ›Fällen‹. Professionelle Arbeit – ob nun die eines Richters, eines klinischen Mediziners oder eines Psychotherapeuten – realisiert sich an Fällen, Fälle bilden den Fokus [3]Das ist mein Unwort des Jahres. professionellen Handelns, bei dem die erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten zur Anwendung kommen. Allerdings – auch dies ist ein konstitutives Merkmal – kann die Intervention des Professionellen nie nach ›Schema F‹ erfolgen, vielmehr befindet sich der professionelle Praktiker immer in einem Spannungsfeld zwischen seinem systematischen, klassifikatorisch geordneten Expertenwissen und den unvermeidbaren Besonderheiten jedes Einzelfalls.
Im Zentrum der geplanten Kooperationsgruppe steht die Frage, wie ein Fall im professionellen Handeln von Medizinern und Juristen konstituiert wird und welche epistemischen, interaktiven und institutionellen Funktionen und Folgen die Ausrichtung auf den Fall für das professionelle Handeln hat. … Der innovative Zugang der Kooperationsgruppe zu dem Thema besteht darin, das Augenmerk zentral auf die interaktiven, sprachlichen und medialen Verfahren zu richten, über die in medizinischen und juristischen Kontexten ein Fall zu einem ›Fall von X‹ gemacht wird.
Eine der Besonderheiten dieser Kooperationsgruppe besteht darin, dass die relevanten Fragen des Forschungsgegenstandes Fallformation an Prozessdaten untersucht werden sollen, die in den verschiedenen Berufsfeldern erhoben worden sind. Neben Gesprächsdaten gehören dazu Gesprächsprotokolle und Notizen, Formulare, Akten, Videoaufzeichnungen von Operationen in einer Klinik u.v.a., die mikroanalytisch bearbeitet und unter den übergeordneten Aspekten systematisiert und ausgewertet werden sollen.«

Dem Antragskauderwelsch, mit dem das Projekt beschrieben wird, lässt sich wenig entnehmen. Ende 2009 gab es noch eine Abschlusstagung. In der Ankündigung erfährt man:

»Auf einer ersten Verallgemeinerungsstufe jenseits der verglichenen Einzelfälle spiegelt sich die Prozessperspektive in der Rekonstruktion relevanter Phasen, die in allen uns vorliegenden Fällen durchlaufen werden.«

Darauf wäre man vielleicht auch ohne den Aufwand eines ZiF-Projekts gekommen.

In Heft 2 der ZiF-Mitteilungen 2010 gibt es nun S. 4-8 einen Abschlussbericht des Projekts. Er wiederholt ausführlich, was wir schon aus Ankündigung wissen. Wir erfahren, dass man sich insgesamt fünf Monate lang mit fünf Fällen aus dem englischen Strafrecht, dem deutschen Zivilrecht, der klinischen Psychiatrie der klinischen Neurologie und der klinischen Chirurgie befasst hat. Weiter heißt es:

»Der Erkenntnisstand des Projekts nach der abschließenden Tagung im September 2009, zu der zahlreiche Experten aus dem In- und Ausland eingeladen waren, lässt sich in zweifacher Weise formulieren: Mit dem Stichwort ›Aktualgenese‹ ist eine Untersuchungsperspektive verbunden, die nach Phasen und Übergängen in der allmählichen Konstitution des Falles sucht. Mit Phasen sollen dabei geordnete Abläufe zur Erledigung relevanter Abläufe bezeichnet werden. Hierzu nur zwei Beispiele: Es ist in allen Datensätzen erkennbar, dass zunächst überhaupt entschieden werden muss, ob das Ereignis, mit dem die institutionellen Akteure konfrontiert werden, ein Fall für sie ist; denn es gibt ja auch die Möglichkeit, die Zuständigkeit zu negieren und an eine andere Instanz zu überweisen.«

Und auch die Fortsetzung klingt wie eine soziolinguistische Paraphrase des Sattelmacher. Was mag ein ausgewachsener Jurist denken, der das liest? Hier noch »der zweite Aspekt aktueller Erkenntnisse«:

»Schaut man Chirurgen während der laparoskopischen Gallenoperation zu, dann erkennt man ihr Bemühen um systematische Reduktion von Kontingenz: Unklare Gewebemengen müssen so bearbeitet werden, dass Strukturen freigelegt werden und Gefäße als solche erkennbar und handhabbar gemacht werden; in der Gruppe ist dafür die Metapher des Präparierens benutzt worden. In den Rechtsfällen hingegen ist beobachtbar und von verschiedenen Autoren herausgearbeitet worden, dass eine der wesentlichen Aktivitäten der professionellen Beteiligten darin besteht, Kontingenz zu erzeugen oder zu erhalten, um das Verfahren möglichst lange offen zu halten; dies hängt ganz offenbar mit der agonalen Grundstruktur der juristischen Bearbeitung von Alltagskonflikten zusammen.«

Ich werde die nächste Gelegenheit nutzen um zu testen, ob sich Juristen mit so aufschlussreichen Ergebnissen von dem Wert interdisziplinärer Arbeit überzeugen lassen. Oder ist das gar nicht der Anspruch der beteiligten Wissenschaftler, meinen sie doch am Ende, ihre Arbeit könne künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Thema provozieren? Mit einer Performance haben sie das auf ihrer Abschlussveranstaltung schon einmal probiert. Performing science heißt die Perspektive. Gab es das nicht schon einmal, das Gericht als Theater?

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Mit dem Zitat im Titel dieses Postings überschrieb Konrad Adam seinen Bericht über den Zwanzigsten Deutschen Soziologentag in Bremen 1980.
2 Hubert Treiber, Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft – eine »Revolution auf dem Papier«?, Kritische Justiz 2007, 328.
3 Das ist mein Unwort des Jahres.

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Rechtsrelevante Sozialpsychologie

Auf das letzte Posting zur Mediation (Mit harten Bandagen in die Mediation?) habe ich zwar keine Kommentare erhalten. Aber es hat sich daraus doch einige Emailkorrespondenz entwickelt. Eine freundliche Leserin hat mir ein Faltblatt mit dem Programm des 14. Mediations-Kongresses übermittelt, der Ende April in Bonn stattfand. Darin sind mir zwei Vorträge von Prof. Dr. Birte Englich, Bonn, aufgefallen. Der eine trug den Titel »Die Macht der ersten Zahl – Ankereffekte und andere psychologisch wirksame Einflüsse auf Verhandlungen«, der andere behandelte den »Umgang mit extremen Forderungen«. Daraufhin habe ich mir die Webseite von Frau Englich angesehen. An der Spitze der Liste ihrer Forschungsinteressen steht »judicial decision making«. Sodann werden fünf key publications genannt, die alle einschlägig sind:
Englich, B. (2008). When knowledge matters – Differential effects of available knowledge in standard and basic anchoring tasks. European Journal of Social Psychology, 38, 896-904. (pdf)
Englich, B., Mussweiler, T., & Strack (2006). Playing dice with criminal sentences: The influence of irrelevant anchors on experts´ judicial decision making. Personality and Social Psychology Bulletin, 32 (2), 188-200. (pdf)
Englich, B., Mussweiler, T., & Strack, F. (2005). The last word in court – A hidden disadvantage for the defense. Law and Human Behavior, 29 (6), 705-722. (pdf)
Mussweiler, T., & Englich, B. (2005). Subliminal anchoring: Judgmental consequences and underlying mechanisms. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 98, 133-143. (pdf)
Englich B., & Mussweiler, T. (2001). Sentencing under uncertainty: Anchoring effects in the court room. Journal of Applied Social Psychology, 31 (7), 1535-1551. (pdf)
Und was noch besser ist: Sie werden auch alle zum Download angeboten. In der vollständigen Publikationsliste finden sich weitere rechtspsychologische Arbeiten. Ich will hier nur noch eine erwähnen, einen kurzen, aber gehaltvollen Übersichtsartikel.
Englich, B. (2006). Ankereffekte im juristischen Kontext. In H.-W. Bierhoff & D. Frey (Hrsg.), Handbuch der Psychologie Band III: Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie (S.309-313). Göttingen: Hogrefe. (pdf) [http://social-cognition.uni-koeln.de/scc4/documents/hogrefe_ankereffekte.pdf]
Die Arbeiten konzentrieren sich sehr auf Ankereffekte, von denen Englich selbst sagt, sie seien empirisch gut belegt. Man muss nicht alles lesen. Aber man muss das Problem wohl doch ernster nehmen als es bisher allgemein geschieht. Besonders interessant fand ich die beiden Aufsätze von Englich, Mussweiler und Strack. Der Aufsatz von 2006 wiederholt zunächst den von 2005 und ergänzt ihn um zwei weitere Experimente.) Mit der Methode fiktiver Fälle, so würde man das in der Rechtssoziologie nennen, zeigen die Autoren, dass das vom Staatsanwalt beantragte Strafmaß in einer Weise auf das Urteil einwirkt, die dadurch, dass dem Angeklagten und seinem Verteidiger das letzte Wort zusteht, nicht aufgehoben wird. Dabei soll es sich um einen sehr robusten Effekt handeln, der nicht nur bei Jungjuristen als Testpersonen auftritt, sondern auch bei erfahrenen Strafrichtern. Selbst und vor allem der Verteidiger lässt sich bei seinen Gegenvorstellungen von dem »Anker« leiten. Der Effekt soll auch nicht davon abhängig sein, dass gerade ein Staatsanwalt das Strafmaß in den Raum stellt. Auch Strafvorschläge von Nichtjuristen, im Test von Computerstudenten, zeigen Wirkung, und das selbst dann, wenn der Strafvorschlag von einem Zufallsgenerator ausgeworfen worden war. Um noch eines drauf zu setzen, wurden im dritten Experiment die »Verteidiger« aufgefordert, sich einen Strafantrag vorzustellen, den sie durch Würfeln selbst generieren mussten. Eine Erklärung, die die Autoren für möglich halten, besagt, dass der »Anker« dazu führt, nach Argumenten zu suchen, die die Angemessenheit des Wertes bestätigen und andere ausblenden. In einem vierten Experiment wurden die Probanden daher aufgefordert, à tempo Argumente pro und contra zu sortieren. Dabei soll sich bestätigt haben, dass Argumente für Schuld und schwere Strafe bei einem hohen Ankerwert schneller eingeordnet werden. Ich muss gestehen, dass ich dieses Experiment nicht ganz nachvollziehen kann. Das Fazit der Autoren: Das letzte Wort für den Angeklagten bedeutet, dass der Staatsanwalt das erste Wort hat. Der Staatsanwalt kann damit einen »Anker« setzen, der das Verfahrensergebnis irrational beeinflusst.
Es fällt schwer, sich mit dem Ergebnis anzufreunden, und daher wird man zunächst versuchen, es hinweg zu argumentieren. Ohne dass ich tiefer eingestiegen wäre, fallen mir zwei Argumente ein.
Erstens, dass der Ankereffekt nur Zahlenwerten zugeschrieben wird. Können denn Sachargumente gegen den Ankereffekt nichts ausrichten? In Rhetorikkursen lernt man doch, dass man das wichtigste Argument an den Schluss stellen soll. Von daher würde man erwarten, dass das Schlusswort wichtiger ist als der Anfang.
Zweitens: Die Psychologen verwenden Laborsituationen. Auch wenn sie gelegentlich vom Kontext des Ankers und möglicher Gegen-Anker sprechen, so bleibt dieser Kontext doch in den Versuchssituationen dürftig. Er kann die Totalität einer Gerichtsverhandlung kaum darstellen. (Das gleiche gilt für eine Mediationsverhandlung.) Im Verlaufe einer Verhandlung werden viele Zahlenwerte genannt. Dem Laien fällt es schwer zu glauben, dass der erstgenannte sich nur schwer wieder auslöschen lässt. Immerhin sehen die Autoren selbst eine Aufgabe für weitere Untersuchungen darin zu prüfen, ob der Ankereffekt auch über eine komplette Gerichtsverhandlung durchhält (2005, S. 728).
Ich vermute allerdings, dass Frau Englich und ihre Kollegen solche Einwendungen gewöhnt sind und sie locker ausräumen können. Es bleibt wohl keine Wahl als den Ankereffekt in der forensischen Praxis ernst zu nehmen. Wer in Zivilsachen etwas gewinnen will, sollte also mit einer hohen Klageforderung beginnen. Auch Richter lassen sich davon beeinflussen. Noch wichtiger ist eine hohe Ausgangsforderung für Vergleichs- und Mediationsverhandlungen. Im Strafverfahren sollte der Verteidiger noch vor dem Staatsanwalt ein möglichst niedriges Strafmaß nennen.

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Nachlese zur (Hamburger Tagung über die ) Fachdidaktik des Rechts

Aktualität ist nicht meine Stärke. Am 24. und 25. März 2010 fand an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg die Tagung »Exzellente Lehre im juristischen Studium. Auf dem Weg zu einer rechtswissenschaftlichen Fachdidaktik« statt. Das Tagungsprogramm können Sie hier als Pdf-Dokument herunterladen, die von den Referenten verwendeten Folien hier. Die Tagung war rundum erfreulich. Es wurden überwiegend hörenswerte Vorträge gehalten, und es wurde lebhaft und sachlich diskutiert. Ich will hier auf zwei Vorträge erwähnen, (die sicher demnächst in einem Tagungsband nachzulesen sind).
Am Anfang stand ein Vortrag von Julian Webb, dem Leiter des UK Centre for Legal Education in Warwick. Diesen Vortrag fand ich besonders interessant wegen seiner Hinweise auf das, was Paul Maharg transactional learning nennt, nämlich »active learning based on doing legal transactions which require both reflection on learning and collaborative learning« [1]Paul Maharg, Transforming Legal Education, Ashgate 2007. Ich habe das Zitat nicht wiederfinden können. Aber vielleicht habe ich nicht gründlich genug gelesen.. Mein Interesse ist vor allem deshalb geweckt, weil es dabei um den Ersatz realer Praxis durch Simulationen aller Art, nicht zuletzt mit Hilfe des Internet geht. Darauf habe ich ein einem Beitrag in »Recht anschaulich« hingewiesen.
Dieses Posting gilt dem Vortrag von Helge Dedek, der mit dem Titel »Didaktische Zugänge in der Rechtslehre in Kanada und den USA« angekündigt war. Danach hätte ich erwartet, dass der Referent seinen Vortrag aus zwei einschlägigen neueren Aufsätzen zum Thema bestreiten würde. Doch er war so bescheiden, diese Arbeiten nicht einmal zu erwähnen, so dass ich sie hier anführen will, denn sie sind lesenswert. [2]Helge Dedek, Recht an der Universität: »Wissenschaftlichkeit« der Juristenausbildung in Nordamerika, Juristenzeitung 2009, 540–550; Helge Dedek/Armand de Mestral, Born to be Wild: The … Continue reading Anstatt seine alten Texte vorzutragen, erklärte Dedek seinen Zuhörern, wie seinerzeit die Langdellsche Case-Method entstand, nämlich weil Langdell auf eine wissenschaftliche Juristenausbildung drängte, die nur in der Universität stattfinden könne, und die auf die Originalquellen des (amerikanischen) Rechts, also auf Präjudizien zurückgreifen müsse. Dedek erläuterte, wie Langdells Methode, nicht zuletzt durch ihre Verbindung mit der sokratischen Methode, in den USA in Misskredit geriet, und zeigte dazu einen kurzen Ausschnitt aus dem Film »Paperchase«. [3]Im Netz ist nur der entsprechende Ausschnitt aus der TV-Version von »Paperchase« zu finden, der aber immer noch ganz eindrucksvoll ist. Außerdem auf Youtube: Studenten über die Socratic Method. Wohl ungeplant bewies er damit, dass wenige Bilder, richtig eingesetzt, unschlagbar sind, wenn es darum geht, ein Thema anschaulich zu machen. Dedek bemerkte, dass etwa in Asien Langdells Case Method heute beliebter ist als in ihrem Heimatland.
Die Entwicklung zur Interdisziplinarität in den amerikanischen Lawschools hatte Dedek in seinem Aufsatz in der Juristenzeitung ausführlicher behandelt hat. Dort hatte er auf die unterschiedlichen Wissenschaftsbegriffe hingewiesen, die die deutsche und die US-amerikanische Juristenausbildung prägen: Im Streit um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft hat Eugen Ehrlich mit dem Law- and Society-Movement einen späten Sieg errungen. Ehrlich hatte bekanntlich 1913 die Rechtssoziologie zur einzigen legitimen Rechtswissenschaft erklärt:

»Da das Recht eine gesellschaftliche Erscheinung ist, so gehört jede Art der Jurisprudenz den Gesellschaftswissenschaften an, aber die eigentliche Rechtswissenschaft ist ein Teil der theoretischen Gesellschaftswissenschaft der Soziologie. Die Soziologie des Rechts ist die wissenschaftliche Lehre vom Rechte.«

Zu Ehrlichs posthumen Sieg hat eine Reihe von Bundesgenossen beigetragen. Die Rechtssoziologie stellt nur noch eine Division im Heer der »Law- and …« [4]Diese Formulierung ist eine Erfindung von Guido Calabresi, An Introduction to Legal Thought: Four Approaches to Law and to the Allocation of Body Parts, Stanford Law Review 55 (2003 2113-2152, … Continue reading -Alliierten. Zu den Verbündeten gehören Anthropologie, Ethnologie, Ökonomie, Psychologie, Medienwissenschaft und Kulturwissenschaften. In den USA hat dieses Bündnis die Mehrzahl der Elite-Law-Schools erobert. Nach einer Aufstellung von Macey [5]Jonathan R. Macey, Legal Scholarship: A Corporate Scholar’s Perspective, 41 San Diego Law Review 41, 2004, S. 1759-1774. hatten 2004 hatten 2004 neun von 15 dieser Law Schools das traditionelle Modell der Legal Science zugunsten einer interdisziplinären Behandlung des Rechts aufgegeben. [6]Chicago, Columbia, Cornell, Michigan, Penn, Stanford, USC, Virginia und Yale. Nur Duke und Texas halten am traditionellen Modell fest. Berkeley, Georgetown, Harvard und NYU werden als »mixed« … Continue reading Nur noch im ersten Studienjahr sind juristische Veranstaltungen nach der traditionellen Fallmethode Langdells Pflicht. Danach steht es den Studenten frei, sich ihre Kurse aus einem großen, überwiegend interdisziplinären Angebot zusammenzustellen. Noch stärker als das Studium selbst ist die Dozentenschaft interdisziplinär ausgerichtet.
Da trifft es sich, dass Tamanaha kürzlich dargestellt hat, wie die Eroberung der akademischen Rechtswissenschaft der USA durch andere Disziplinen auf einem großen Täuschungsmanöver beruhte, nämlich darauf, dass zunächst die Schule der Legal Realists und später noch einmal die Schule der Critical Legal Studies ein falsches Feindbild von der traditionellen Rechtswissenschaft aufbauten. [7]Brian Z. Tamanaha, The Bogus Tale About the Legal Formalists, 2008, verfügbar unter http://ssrn.com/abstract=1123498; ders., Understanding Legal Realism, 2008, verfügbar unter … Continue reading Bis heute gilt es in den USA als ausgemacht, dass die traditionelle Jurisprudenz in dem Sinne formalistisch war, dass sie das Recht als objektives, unpolitisches System begriff, aus dem die Gerichte mechanisch-logisch ihre Entscheidungen ableiten konnten. Erst die Legal Realists, so die gängige Lesart, hätten entdeckt, dass und wie sehr das juristische Urteil von Wertungen der Richter abhängig ist, und erst die Critical Legal Studies hätten den politischen Charakter aller Justiz aufgezeigt. Tamanaha zeigt mit vielen Belegen, dass und wie Legal Realists und Critical Legal Studies ihrerseits politische Absichten verfolgt und in einer geradezu unwissenschaftlichen Weise ihre Augen vor der Differenziertheit der als formalistisch denunzierten Jurisprudenz verschlossen haben.

Nachtrag vom 24. Mai 2010:
Der Kommentar von Michael Wrase war notwendig.
Ich will noch darauf hinweisen, dass die bei SSRN verfügbaren Manuskripte Tamanahas in sein in diesem Jahr bei Princeton University Press erschienenes Buch »Beyond the Formalist-Realist Divide« eingegangen sind.
Nachtrag vom 28. 2. 2012:
Eine weitere Besprechung von Marin Roger Scordato (University of Richmond Law Review 46, 2011, 659-666) macht geltend, auch wenn heute alle Juristen mehr oder weniger »Realisten« seien, so sei doch im allgemeinen Rechtsbewusstsein und auch in der Politik er formalistische Standpunkt fest verankert, und auch das (amerikanische) Rechtsmittelsystem baue auf ein technisch-formales Konzept der Rechtsanwendung.

Nachtrag vom 24. Juni 2010:
Hier eine schöne Besprechung des Buches von Tamanaha von Stanley Fish aus der New York Times vom 24. 6.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Paul Maharg, Transforming Legal Education, Ashgate 2007. Ich habe das Zitat nicht wiederfinden können. Aber vielleicht habe ich nicht gründlich genug gelesen.
2 Helge Dedek, Recht an der Universität: »Wissenschaftlichkeit« der Juristenausbildung in Nordamerika, Juristenzeitung 2009, 540–550; Helge Dedek/Armand de Mestral, Born to be Wild: The Trans-Systemic Programme at McGill and the De-Nationalization of Legal Education, The German Law Journal, 10, 2009, S. 889–911.
3 Im Netz ist nur der entsprechende Ausschnitt aus der TV-Version von »Paperchase« zu finden, der aber immer noch ganz eindrucksvoll ist. Außerdem auf Youtube: Studenten über die Socratic Method.
4 Diese Formulierung ist eine Erfindung von Guido Calabresi, An Introduction to Legal Thought: Four Approaches to Law and to the Allocation of Body Parts, Stanford Law Review 55 (2003 2113-2152, teilweise einsehbar unter http://www.accessmylibrary.com/article-1G1-106865769/introduction-legal-thought-four.html.
5 Jonathan R. Macey, Legal Scholarship: A Corporate Scholar’s Perspective, 41 San Diego Law Review 41, 2004, S. 1759-1774.
6 Chicago, Columbia, Cornell, Michigan, Penn, Stanford, USC, Virginia und Yale. Nur Duke und Texas halten am traditionellen Modell fest. Berkeley, Georgetown, Harvard und NYU werden als »mixed« eingestuft.
7 Brian Z. Tamanaha, The Bogus Tale About the Legal Formalists, 2008, verfügbar unter http://ssrn.com/abstract=1123498; ders., Understanding Legal Realism, 2008, verfügbar unter http://ssrn.com/abstract=1127178.

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Gerechtigkeit breitgetreten?

Unter dem Namen »Justitia Amplificata« – er weckt bei mir die Assoziation an getretenen Quark [1]Im Lexikon (Stowasser) wird amplificare etwas freundlicher mit »vermehren, vergrößern, erweitern« übersetzt. – meldet sich eine neue »Kolleg-Forschergruppe« an der Universität Frankfurt a. M. Immerhin ist es ihr gelungen, zur Eröffnungsveranstaltung am 4. Mai Ronald Dworkin als Redner zu gewinnen (Thema: Political Justice and Human Rights).
Die Gruppe wird von Prof. Stefan Gosepath und Prof. Rainer Forst geleitet. Beide gehören zu dem Exzellenzcluster »Normative Orders«, von dem im letzten Posting die Rede war. Wenn ich mir ihre Publikationslisten ansehe, habe ich den Eindruck, dass mir da Einiges entgangen sein könnte. Anscheinend gibt es zwischen Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und der Politischen Wissenschaft (nur für mich?) doch eine Fächergrenze. So schnell kann ich da nicht nachsehen, denn außer dem Artikel »Equality« von Gosepath in der Stanford Encyclopedia of Philosophy sind im Internet anscheinend keine Texte der Genannten zugänglich.
Die Forschergruppe will ein internationales Forum der wissenschaftlichen Diskussion des Begriffs der Gerechtigkeit bieten. Hinzukommen sollen Fragen der Umsetzungsmöglichkeit von Gerechtigkeitstheorien in der Praxis und nach der Erweiterbarkeit dieser Theorien auf soziale und politische Kontexte jenseits des Staates. Die letztere Frage scheint mir die interessantere zu sein. Sie war unter der Überschrift »Drittwirkung der Grundrechte« ein großes Thema der Jurisprudenz, und sie ist unter dem Titel »Corporate Social Responsibility« ein heißes Thema der Rechtssoziologie.
Nachtrag vom 8. 5. 2010: In der FAZ vom 6. Mai S. 29 berichtet Patrick Bahners unter der Überschrift »Würdeschutz durch Zwang?« über den Vortrag von Ronald Dworkin, »des berühmtesten Rechtsphilosophen der Welt«. Bahners weist darauf hin, dass amplificatio ein Begriff aus der Rhetorik ist. Er bezeichnet »die Kunst, einen Gedanken, der schon ausgesprochen ist, im Licht neuer Gesichtspunkte oder Beispiele hin und her zu wenden, bis ihn mutmaßlich jeder verstanden hat«. Wer weitere Aufklärung sucht, findet sie im Handbuch der literarischen Rhetorik von Heinrich Lausberg, 3. Aufl. 1990, in § 259 und passim. Wenn die wissenschaftliche Rechts- und Staatphilosophie gelegentlich den Eindruck erwecke, ihr Schicksal sei das Breittreten, so bezeuge die Frankfurter Namenswahl immerhin einen »Sinn für die Ambivalenzen der reflexiven Modernisierung des Wissenschaftssystems oder, schmal gesagt: für Ironie«. Das nenne ich Metaironie. Zwischen den Zeilen lese ich: Den Vortrag muss man nicht gehört haben, es sei denn, um einen großen Rhetor zu bewundern.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Im Lexikon (Stowasser) wird amplificare etwas freundlicher mit »vermehren, vergrößern, erweitern« übersetzt.

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Videothek des Exzellenzclusters »Normative Orders« an der Universität Frankfurt a. M.

Videothek des Exzellenzclusters »Normative Orders« an der Universität Frankfurt a. M.
Das Exzellenzcluster hat eine gehaltvolle Videothek mit den Vorträgen einer Ringvorlesung »Recht ohne Staat« sowie von der ersten und der zweiten Jahreskonferenz des Exzellenzclusters ins Netz gestellt. Darunter sind viele prominente und teilweise auch in der Rechtssoziologie bekannte Redner. Man (ich?) kann die Videos nicht auf Bildschirmgröße einstellen, aber sie sind scharf und der Ton, soweit ich hineingehört habe, ist gut. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, die Vorträge alle anzuhören. Damit wäre man ein paar Tage beschäftigt. Ich habe nur die Redner- und Themenliste herauskopiert und auch darauf verzichtet, für die einzelnen Videos den Link mitzuteilen. Statt dessen hier der Link für die ganze Seite: http://www.normativeorders.net/de/component/content/article/359. Hier also die Liste:

Mittwoch, 3. Februar 2010
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Professor Dr. Thomas Duve, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte
Recht ohne Staat: Ein Blick auf die Rechtsgeschichte

Mittwoch, 20. Januar 2010
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Professor Dr. Dr. h.c. mult. Gunther Teubner, Johann Wolfgang Goethe-Universität und London School of Economics
Verfassungen ohne Staat? Zur Konstitutionalisierung transnationaler Regimes

Mittwoch, 16. Dezember 2009
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Professor Dr. Dr. Rainer Hofmann, Johann Wolfgang Goethe-Universität
Modernes Investitionsschutzrecht: Ein Beispiel für entstaatlichte Setzung und Durchsetzung von Recht?

Mittwoch, 18. November 2009
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Professor Dr. Franz von Benda-Beckmann, Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung (Halle)
Recht ohne Staat im Staat: Eine rechtsethnologische Betrachtung

Samstag, 14. November 2009
2. Jahreskonferenz des Exzellenzclusters
Professor Keith Tribe
The Limits of the Market: Walras versus Becker

Panel IV: Ästhetik von Rechtfertigungsnarrativen
Prof. Dr. Martin Seel
Narration und (De-)Legitimation: Der zweite Irak-Krieg im Kino
Prof. Dr. Michael Hampe
Erklärung durch Beschreibung

Freitag, 13. November 2009
2. Jahreskonferenz des Exzellenzclusters
Panel III: Menschenrechte als Rechtsfertigungsnarrative?
Prof. Dr. Günther Frankenberg
Menschenrechte als Rechtsfertigungsnarrative
Professor Robert Howse
Human Rights Discourse in World Trade

Panel II: Rechtfertigungsnarrative in internationalen Verhandlungsprozessen
Prof. Dr. Nicole Deitelhoff
Politische Praxis und politische Analyse. Ein Kommentar
Dr. Gunter Pleuger
Die normativen Wirkungen multilateralen Verhandelns

Panel I: Rechtfertigungsnarrative in Übergangszeiten
Prof. Dr. Hartmut Leppin
Deo auctore. Die Christianisierung kaiserlicher Selbstdarstellung in der Spätantike
Prof. Dr. Hans Kippenberg
Das Thomas-Theorem In der modernen Religionsgeschichte. Zur Differenz zwischen normativen Haltungen und Handlungen

Dienstag, 3. November 2009
Frankfurt Lecture I
Professor Charles Larmore, Brown University
Subjektivität

Montag, 2. November 2009
Frankfurt Lecture I
Professor Charles Larmore, Brown University
Vernunft

Mittwoch, 21. Oktober 2009
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Prof. Dr. Klaus Dieter Wolf, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
Unternehmen als Normunternehmer: Die Einbindung privater Akteure in grenzüberschreitende politische Steuerungsprozesse

Samstag, 15. November 2008
Eröffnungskonferenz des Exzellenzclusters
Panel IV: Transnational Justice, Democracy and Peace
Professor Andrew Hurrell, Oxford
Provincializing Westphalia: The Evolution of International Society as a Global Normative Order

Freitag, 14. November 2008
Eröffnungskonferenz des Exzellenzclusters
Panel III: The Formation of Legal Norms Between Nations
Prof. Dr. Armin von Bogdandy, Heidelberg
Developing the Publicness of Public International Law: Towards a Legal Framework for Global Governance Activities
Panel II: The Historicity of Normative Orders
Professor Immanuel Wallerstein, Yale
In what Normative Order(s) has the World been Living in the Modern World System?
Professor Robert Harms, Yale
Slave Trading, Abolition, and Colonialism as Inter-Linked Normative Orders
Panel I: Conceptions of Normativity
Professor R. Jay Wallace, Berkeley
Conceptions of Normativity: Some Basic Philosophical Issues

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Mit harten Bandagen in die Mediation?

Mediation ist eine tolle Technik. Doch gegen jede Technik werden früher oder später Gegenmaßnahmen entwickelt.
Ich wundere mich schon lange, dass bisher anscheinend noch niemand Strategien entwickelt oder auch nur zusammengestellt hat, mit denen man als Partei in einer Mediationsverhandlung das Beste für sich herausholt. Wie man machiavellistisch verhandelt, ist im Grund längst bekannt. Der Klassiker ist Philip G. Schrag & Michael Meltsner, Negotiating Tactics for Legal Services, 7 Clearinghouse Review 259-263 (1973). [1]Teilweise abgedruckt in Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution, 5. Aufl. 2007, S. 17-22. Im Internet kursiert eine Kopie unter … Continue reading Sozusagen die Gegenposition, die heute die Grundlage für die Schulung der Mediatoren bildet, ist die kooperative oder integrative Verhandlungstaktik nach Fisher und Ury. In meinem alten Skriptum zur Verhandlungstechnik hatte ich versucht, die beiden Verhandlungsstrategien zusammenzuführen.
In einem neueren, schrecklich langen Aufsatz stellt Robert J. Condlin [2]Condlin, Robert J. (2008): ‘Every Day and in Every Way, We are All Becoming Meta and Meta:’ Or How Communitarian Bargaining Theory Conquered the World (of Bargaining Theory). In: Ohio … Continue reading die beiden Verhandlungsstrategien einander gegenüber. Die kooperativ-integrative bezeichnet er als communitarian, ihr Gegenstück als adversarial. Sein Fazit lautet etwa, die Überlegenheit kooperativer Verhandlungstechnik sei empirisch nicht nachgewiesen.

The empirical arguments for communitarian bargaining … make general claims about bargaining practice based on cartoon data about stylized, overly simple, non-legal disputes in a manner that is more often gimmicky than real. They tout maneuvers and techniques that work in limited contexts and have little application to ordinary bargaining problems as examples of best bargaining practice across the board. And they defend these claims in a manner that bespeaks more of prestidigitation than reasoned elaboration. The complete case for the communitarian method, both its normative and critical dimensions, rejects the possibility of intractable conflict and the existence of incommensurable values and beliefs, ignores the compressed time frames and constricted social relationships within which bargaining is conducted, and closes it eyes to many of the practical constraints of real life situations that do not fit easily into its idealized communal model of bargaining interaction. It is also gratuitously competitive and unfair in the way it describes and dismisses adversarial approaches to bargaining, misleading in the manner it reports and uses empirical data, and imperialist in the attitude it takes toward the world of bargaining theory generally. It is based mostly on prescriptive writing grounded in aesthetic and ideological preferences, with little in the way of empirical evidence to back it up. As an argument, it seems based on the assumption that life imitates (communitarian) theory, if it knows what’s good for it. (S. 296 f.)

Sie werde jedoch ideologisch überhöht und die Gegenposition auf eine geradezu adversariale Weise bekämpft. Was die Empirie betrifft, so muss man wohl doch besser unterscheiden, ob es um erfolgreiche Konfliktregelung geht oder um erfolgreiches Abschneiden einer Partei. Es scheint so, als ob eine kooperative Verhandlungstechnik erfolgreicher ist, wenn es darum geht, die Parteien zu einer Einigung zu bringen. Und deshalb ist sie das Rezept der Mediation. Und das ist natürlich auch, wenn man so will, die Ideologie der Mediation. Wer dagegen rücksichtslos seinen eigenen Vorteil durchsetzen will, fährt als kompetetiver Verhandler besser. Daher durfte man gespannt auf eine Anleitung warten: Wie nutze ich in der Mediation die kooperative und integrative Haltung meines Gegners am besten zu meinen Gunsten aus.
Als solche kann man ein neues Buch zur Verhandlungstechnik (über das die heimliche Juristenzeitung ausführlich berichtet hat) [3]Jörg Oberwittler, Der Klügere gibt nicht nach, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 13 vom 16. 1. 2009 in der Beilage »Beruf und Chance«, die auch in der FamS vom 17. 1. noch einmal erschienen ist. lesen. Es stammt von einem »harten Hund«, der als ehemaliger Leiter einer Sondereinheit der bayerischen Polizei über Erfahrungen in der Verhandlung mit Geiselnehmern verfügt: Matthias Schranner, Teure Fehler. Die 7 größten Irrtümer in schwierigen Verhandlungen, Berlin (Econ) 2009. Jetzt vermarktet Schranner seine Erfahrungen mit dem in der Schweiz angesiedelten »Schranner Negotiation Institute«.
Schranners Credo: »Ein Konfliktberuht immer auf unterschiedlichen Interessen und der Annahme, dass die eigenen Interessen die richtigen Interessen sind. Was dazu führt, dass die gegnerische Partei falsche Interessen hat.« (S. 17). Und deshalb ist Irrtum Nr. 1 der Glaube daran, dass beide Seiten gewinnen können, dass eine ›Win-win‹-Vereinbarung möglich ist.« (S. 11). Zwar heißt es dann später (S. 109), es gebe immer Gemeinsamkeiten, auch zwischen zwei sich noch so sehr bekämpfenden Parteien; andernfalls könne man überhaupt nicht verhandeln. Doch sie werden nur strategisch genutzt, um bei dem Gegner eine positive Verhandlungsstimmung zu erzeugen: Wir haben ein gemeinsames Problem. Schranners Verhandlungsstrategie ist darauf ausgerichtet, den Gegner nicht gewinnen zu lassen, sondern ihm nur das Gefühl zu geben, er habe gewonnen. Irrtum Nr. 2 besteht in der Annahme, eine gute inhaltliche Vorbereitung sei entscheidend. Mindestens ebenso wichtig, so Schranner sind Strategie und Taktik. Was dann unter »Irrtum« Nr. 3 bis 7 aufbereitet wird, sind die altbekannten Rezepte für kompetetives Verhandeln. Es geht um Verhandlungsphasen, den Umgang mit Emotionen und Alternativen zum angestrebten Verhandlungsergebnis. »Sie dürfen nicht rational verhandeln!« Rational ist nur die Vorbereitung auf einen Verhandlungskampf, bei dem es darauf ankommt zu gewinnen. Zwar sind Lügen verpönt, doch Bluff keineswegs. Schranner will »nicht das Hohelied auf das Fairplay singen« (S. 67). »No-Gos« gibt es nur im Umgang innerhalb des eigenen Verhandlungsteams. Die Herkunft des Verfassers aus der Polizei zeigt sich etwa, wenn er rät, sich nach Möglichkeit einen V-Mann im Lager des Gegners zu suchen. Das Ganze ist auf Verhandlungen zwischen Wirtschaftsunternehmen, insbesondere Automobilherstellern und ihrer Zulieferern oder Arbeitgebern und Gewerkschaften abgestimmt. Aber das Buch ließe sich leicht auf die Verhältnisse bei der gerichtlichen Mediation umschreiben. Die Rezepte Schranners taugen vermutlich für eine einseitige Aufrüstung. Wenn beide Teile sich bei ihm Rat holen, führen sie wohl eher in eine Katastrophe.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Teilweise abgedruckt in Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution, 5. Aufl. 2007, S. 17-22. Im Internet kursiert eine Kopie unter http://www.mediationadvocacy.com/Meltsner%20&%20Schrag.pdf. Anscheinend gibt es eine neue Version in 39 Clearinghouse Rev. 589-593 (2006), die mir nicht zugänglich ist.
2 Condlin, Robert J. (2008): ‘Every Day and in Every Way, We are All Becoming Meta and Meta:’ Or How Communitarian Bargaining Theory Conquered the World (of Bargaining Theory). In: Ohio State Journal on Dispute Resolution, Jg. 23, zuerst veröffentlicht: Available at SSRN: http://ssrn.com/abstract=957570.
3 Jörg Oberwittler, Der Klügere gibt nicht nach, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 13 vom 16. 1. 2009 in der Beilage »Beruf und Chance«, die auch in der FamS vom 17. 1. noch einmal erschienen ist.

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