Zunächst zur Erinnerung: Als Mediationsparadox hatten McEwen und Milburn das bemerkenswerte Phänomen bezeichnet, dass die obligatorische Teilnahme an einem Mediationsverfahren die Erfolgsrate nicht wesentlich beeinträchtigt. Auch hier gilt also das von mir so genannte Naturrecht oder Naturgesetz der Vermittlung, dass konstant etwa zwei Drittel aller Mediationsverfahren mit einer Einigung enden, wenn es gelingt, die Parteien an den Verhandlungstisch zu bringen. Als zweites Mediationsparadox hatte ich die Beobachtung bezeichnet, dass die Mediation ungenutzt bleibt, obwohl sie doch so erfolgreich, nämlich schneller, besser und billiger als Gerichtsverfahren sein soll. Jetzt habe ich mich noch einmal auf die Suche nach Erklärungen für diesen merkwürdigen Widerspruch gemacht. Die Fundstücke will ich heute vorstellen.
Für die Zurückhaltung des Publikums bei der Inanspruchnahme von Mediations- und Güteverfahren aller Art wird ein ganzes Bündel von Begründungen angeboten. Ich beginne mit der schon genannten Unkenntnishypothese. Sie besagt, dem Publikum sei Mediation als Alternative zum Gerichtsverfahren nicht hinreichend geläufig. Diese Hypothese ist wohl die schwächste. Die Justizverwaltungen geben sich überall große Mühe, Mediation publik zu machen, und die Medien widmen dem Thema immer wieder positiv besetzte Aufmerksamkeit.
Langsam müsste so viel Werbung eigentlich wirken. Merry und Silbey haben schon 1984 darauf hingewiesen, dass die Menschen tatsächlich große Bereitschaft zeigen, Alternativen zum Gerichtsprozess zu finden, und dass sie sich dazu bei einem breiten Spektrum von Auskunfts- und Beratungsstellen umhören. McEwen und Milburn (S. 25) meinen, die Unkenntnishypothese diene in erster Linie dazu, die Ideologie der Mediation als eines auf Freiwilligkeit beruhenden Verfahrens zu stützen. Wenn die Parteien nicht hinreichend informiert sind, dann könne man sie ruhig in die Mediation zwingen, denn hätten sie es besser gewusst, wären sie freiwillig gegangen.
Die Torhüterhypothese behauptet, dass Richter und Anwälte die Parteien davon abhalten, die Mediation zu wählen. Es ist wohl richtig: Als Ergebnis ihrer Professionalisierung haben Juristen (hoffentlich) ein Interesse an Recht und Gerechtigkeit, das über den Einzelfall hinausgeht, und ferner haben sie auch jeweils eine eigene Meinung darüber, was im Falle richtig ist. Daraus folgt ein professionelles Interesse, die Sach- und Rechtslage zur Sprache zu bringen, auch wenn ein Vermittlungsverfahren für den Mandanten vorteilhafter wäre. Ein Rechtsanwalt wird es als Belohnung empfinden, wenn er seine Fähigkeiten und Kenntnisse unter Beweis stellen kann. Der nächstliegende Weg besteht darin, eine Prognose abzugeben, wie das Gericht entscheiden würde, und diese Prognose dann mit einer Klage unter Beweis zu stellen. Allerdings hat sich doch mindestens die Rhetorik der Anwaltschaft inzwischen zugunsten der Mediation gewandelt. Es ist sicher zutreffend: Ohne Unterstützung der Rechtsanwälte wird es nichts mit der gerichtsunabhängigen Mediation. Und es ist auch wohl nicht unbedingt die Gebührenstruktur, die sie davon abhält, sich wechselseitig auch als Mediatoren einzusetzen. Jost und Neumann suchen die Ursache in erster Linie in den Wettbewerbsstrukturen der Profession.
Nach der Streitkulturhypothese besteht eine verbreitete kulturelle Disposition gegen Vermittlung und Kompromiss. Insbesondere wir Deutschen sagen uns selbst übertriebene Streitsucht nach. Daher betonen die Befürworter der Mediation, das Ziel aller Anstrengungen müsse eine Veränderung der Streitkultur sein. McEwen und Milburn halten entgegen, dass die Streitkulturhypothese auf einem Zirkelschluss beruhen könnte, weil die Streitkultur erst durch die Beobachtung des Streitverhaltens erschlossen werde.
McEwen und Maiman haben eine Hebelhypothese angedeutet. Sie fragen, warum, wenn denn Mediation so viel besser ist als der Gerichtsprozess, sowenig Streitparteien das Vermittlungsverfahren wählen, ohne vorher geklagt zu haben. Sie gehen mit Christie davon aus, dass für die meisten Menschen und Organisationen Verhandlungen die bevorzugte Art der Streitbehandlung sei, weil sie den Parteien die Kontrolle über den Konflikt lasse. Aber in der Regel habe eben doch nur eine Partei ein Interesse an einer Lösung. Die andere sei mit dem status quo zufrieden. Um sie an den Verhandlungstisch zu bringen, müsse der Gegner ihre Kosten erhöhen. Der schwächeren Partei blieben da kaum andere Mittel als der Weg zum Gericht. So könne oft erst die Klage helfen, eine einverständliche Lösung zu finden. Formelle und informelle Konfliktregelung, so McEwen und Maiman, müsse man daher eher als ein Zusammenspiel und nicht so sehr als Alternativen betrachten. Die Hebelhypothese ergänzt sich ganz gut mit dem Phänomen des vanishing trial, dass man in den USA beobachtet , das heißt also, dass die Prozesse – deren Zahl nicht abgenommen hat – nur noch ganz ausnahmsweise bis zum förmlichen Abschluss durch ein trial durchgeführt werden. Ein Blick in die deutsche Zivilprozess-Statistik zeigt zwar seit 2002 eine Erhöhung der Vergleichsquote zu Lasten der Urteilsquote um etwa 5 %, die wohl auf den damals neuen § 278 ZO zurückzuführen sein könnte. Doch man kann deutsche Urteile kaum mit dem amerikanischen trial vergleichen.
Die ökonomische Analyse des Rechts steuert eine Transaktionskostenhypothese bei. Barendrecht hat das Spektrum der Optionen, die zur Verfügung stehen, wenn man im Streitfall Hilfe sucht, als Markt für Rechtsdienstleistungen konzipiert. Solche Dienstleistungen verursachen Produktionskosten und Transaktionskosten. Die Produktionskosten, so meint Barendrecht, erklärten nicht, warum viele Menschen ihre Rechtsbedürfnisse nicht befriedigen könnten. Für die meisten Streitigkeiten können Verhandlungen oder die Intervention eines Dritten brauchbare Lösungen zu angemessenen Kosten liefern. Ein tüchtiger Mediator oder ein Richter an einem Untergericht seien in der Lage, die meisten Familien-, Arbeits-, oder Nachbarschaftsstreitigkeiten in ein paar Stunden beizulegen. Die Technologie für Rechtsdienstleistungen sei nicht prohibitiv teuer. Aber, so fährt er fort, der Markt für Rechtsdienstleistungen sei in vielerlei Hinsicht unvollkommen. Im Abstract des Artikels verspricht der Autor, seine Perspektive könne erklären, warum Alternative Streitregelungsverfahren so erfolglos seien, wenn es darum gehe, Kunden anzuziehen. Speziell dieser Punkt wird aber nicht wirklich ausgearbeitet. Barendrecht unterscheidet fünf Produktionsstufen der Rechtsdienstleistung im Konfliktfall. Die erste, bei der es darum geht, die Parteien zusammenzubringen, ist wohl die für die Mediation wichtigste. Wir erfahren, dass die Parteien dazu eine Art Verfahrensvereinbarung treffen müssen. Das sei aber schwierig, weil sich hier eine zweite Verhandlungsebene eröffne, die mit psychischen Problemen belastet sei. Der Kläger habe zudem Probleme, den Beklagten zur Kooperation zu veranlassen, weil dieser meistens den status quo bevorzuge (das wissen wir ja schon). Und dann erfahren wir, dass Mediation ein Erfahrungsgut ist, so dass Information allein nicht genügt, weil man sie nicht bewerten kann. Das ist immerhin eine plausible Spezifizierung der Unkenntnishypothese.
McEwen und Milburn schließlich haben eine Konfliktdynamikhypothese entwickelt. Sie verweisen darauf, dass Konflikte einen Verlauf haben, indem sich eine Motivation gegen die freiwillige Teilnahme an einer Mediation aufbaut. Das beginnt mit einer Konfliktselektion, die nur noch wirklich streitwillige Parteien zurücklässt. Alle anderen scheitern schon an der kulturellen Barriere, die sie hindert, ihre Beschwer in einen Streit zu verwandeln. Man schreibt sich selbst die Verantwortung für seine Probleme zu und ist im Übrigen starkem sozialem Druck ausgesetzt, sich verträglich zu zeigen. Die Kommunikation mit dem Gegner lässt zusätzlich zu dem Ursprungskonflikt einen Metakonflikt entstehen, in dem es um das Verhalten des Gegner, Vorwerfbarkeit und Unvernunft geht, während man bemüht ist, die eigene Glaubwürdigkeit und Rechtschaffenheit zu verteidigen. Da hier die Selbstwahrnehmung und die eigenen moralische Integrität im Spiel sind, wird der Metakonflikt mit hoher emotionaler Beteiligung ausgetragen, die Aufmerksamkeit für alles andere stark einengt. Was dabei herauskommt, haben Merry und Silbey festgehalten, nachdem sie das Konfliktverhalten in einer städtischen Nachbarschaft beobachtet hatten:
by the time a conflict is serious enough to warrant an outsider’s intervention, disputants do not want what [mediation has] to offer. At this point the grievant wants vindication, protection of his or her rights … an advocate to help in the battle, or a third party who will uncover the ’truth’ and declare the other party wrong.
Oder, wie McEwen und Milburn (S. 31) formulieren:
The paradox of mediation, consequently, is that it offers disputing parties precisely what they do not want when they most need it.
Alle diese Hypothesen sind mehr oder weniger plausibel. Aber keine hat für sich genommen hinreichende Erklärungskraft. Vor allem aber zeigt keine einen Ausweg, wie man der Mediationsverweigerung anders als durch Druck beikommen könnte. Die Hebelhypothese legt es immerhin nahe, im Gerichtsverfahren einen Nebenausgang in die Mediation zu eröffnen. Alle, die in eine Ausbildung zum Mediator investieren wollen, sollten verpflichtet werden, zuvor nachzulesen, was Velikonja über den Überoptimismus der Mediatoren schreibt.
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