Qualitätsarbeit der Justiz II

Im Anschluss an den Beitrag vom 17. März 2009 zur Qualität richterlicher Entscheidungen ein Nachtrag: Als Beispiel 8 hatte ich einen Bericht des Magazins frontal21 des ZDF vom 24.02.2009 angeführt, nach dem Staatsanwalt und Haftrichter Fluchtgefahr angenommen hatten, weil das Haus des Beschuldigten in der Zwangsversteigerung sei, was tatsächlich nicht zutraf. Da es sich hierbei um einen Umstand handelt, der schnell und eindeutig zu klären ist, muss wohl von einem echten Justizfehler ausgegangen werden. Der Fall stützt leider die Befürchtung, dass der Richtervorbehalt, der gravierende Eingriffe in die Grundrechte überwachen soll, nicht so sorgfältig gehandhabt wird, wie man es erwarten darf. Diese Befürchtung ist vor einigen Jahren durch eine Untersuchung von Otto Backes und Christoph Gusy begründet worden:
Wer kontrolliert die Telefonüberwachung?
Eine empirische Untersuchung zum Richtervorbehalt bei der Telefonüberwachung
Peter Lang Frankfurt, 2003
Hier die Zusammenfassung:

»Polizei und Staatsanwaltschaft dürfen im Ermittlungsverfahren Methoden zur Gewinnung von Informationen über Tat und Täter einsetzen, die massiv in Rechte der Beschuldigten oder der mit ihnen in Verbindung gebrachten Personen eingreifen. Um diese frühzeitigen Eingriffe rechtsstaatlich abzusichern, ist ihre Anordnung grundsätzlich einem Richter vorbehalten. Die auf Aktenanalysen und Interviews beruhende empirische Studie geht der Frage nach, wie der gesetzlich vorgeschriebene Richtervorbehalt bei der Telefonüberwachung in der Praxis gehandhabt wird. Sie führt zu dem Befund, dass die Richter fast immer dem Überwachungsantrag stattgeben und der Richtervorbehalt eher selten auf einer, wie vom Verfassungsgericht gefordert, eigenständigen Entscheidung der Richter beruht.«

Eine Kurzfassung des Abschlussberichts steht im Internet zur Verfügung.

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Gerichtsmanagement

Zu den Themen, mit denen ich mich viel beschäftigt habe, gehören die Alternativen zum Recht und zur Justiz und das Gerichtsmanagement. Auf das zweite Thema bin ich eigentlich über das erste gekommen, denn seit der berühmten Pound-Konferenz wurde von den Justizverwaltungen in den USA »ADR« als Mittel zur Entlastung der Justiz propagiert. Eigentlich wollte ich mich jetzt ganz auf die Rechtssoziologie konzentrieren. Aber nun habe ich doch noch wieder zwei Einladungen angenommen, das Gerichtsmanagement noch einmal zum Thema zu machen. Die Suche nach Neuigkeiten führt natürlich über das Internet in die USA. Da zeigt sich, dass zwei altbekannte Quellen, nämlich das Federal Judicial Center und das National Center for State Courts ihre Webseiten inzwischen so aufgeladen haben, dass sie wirklich ergiebig sind. Deshalb nehme ich sie vorübergehend auch in meine Linkliste auf.
http://www.ncsconline.org/
http://www.fjc.gov/

Nachtrag vom 17. Juni 2022: Das Gerichtsmanagement ist heute ganz auf Digitalisierung ausgerichtet. Über den Sachstand in Deutschland berichtet eine Untersuchung vom Juni 2022: Boston Consulting Group/Bucerius Law School/Legal Tech Association, The Future of Digital Justice.

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Qualitätsarbeit der Justiz

Am 19. und 20 März findet in Dresden ein »Symposium Justizlehre« statt, das vom Staatsminister der Justiz und dem Sächsischen Oberverwaltungsgericht veranstaltet wird. Dort soll ich einen Vortrag über »Justiz und Justizverwaltung zwischen Ökonomisierungsdruck und richterlicher Unabhängigkeit« halten. Dafür spielt am Rande auch die Frage eine Rolle, ob Quantitätsdruck in Qualitätsverlust umschlägt. Sie lässt sich nur beantworten, indem man Qualität definiert und kontrolliert.

Was die Qualitätskontrolle der Justiz betrifft, gibt es eine jedenfalls auf den ersten Blick erstaunliche Entwicklung. Lange bestand die Auffassung, die Qualität der Justiz lasse sich außerhalb von Rechtsmittelverfahren in keiner Weise überprüfen. 1981 machte man einen ersten zaghaften Versuch mit einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll über »Innere und Äußere Kontrolle der Justiz«. 1993 habe ich in der Deutschen Richterzeitung (S. 301-310) ausführlich über Qualitätskontrolle der Justiz in den USA berichtet. Heute ist die Notwendigkeit einer Qualitätssicherung auch in der Justiz durchgehend akzeptiert. [1]Qualität in der Justiz – Beschluss der Bundesvertreterversammlung des DRB vom 15.11.2002 und des Bundesvorstandes vom 26.4.2007 [http://www.drb.de/cms/index.php?id=487] Inzwischen gibt es mehr oder weniger überall Projekte zum Qualitätsmanagement in den Gerichten. [2]Vgl. den Bericht »Qualitätszirkel der Oberlandesgerichte«, DRiZ 2008, S. 269-271 Allerdings zeigt die Wortwahl, dass es nicht um eine Qualitätskontrolle im engeren Sinne, sondern um prospektive Maßnahmen der Qualitätssicherung oder um ein Qualitätsmanagement im Sinne eines TQM geht.

Die Richterschaft akzeptiert zwar durchaus, dass es auch für ihre Entscheidungstätigkeit verschiedene Qualitätsgesichtspunkte gibt. Sie hält indessen eine für Kontrollzwecke hinreichende Definition für ausgeschlossen.

Die Qualität richterlicher und staatsanwaltschaftlicher Arbeit ist letztlich nicht messbar. Auch wenn Richter und Staatsanwälte sich an der Realisierung dieser Qualitätskriterien ›messen‹ lassen müssen, ist doch die Messbarkeit dieser Kriterien im Sinne einer mathematisch überprüfbaren Analyse zu verneinen. Zwar gibt es objektive Parameter wie Zeitaufwand, Rechtsmittelhäufigkeit, Aufhebungs-, Vergleichs- und Erledigungsquote, Verfahrenskosten u.a. Diese Teilaspekte haben aber keine zwingende Aussagekraft für die Beurteilung der Qualität der Rechtsanwendung. Die richterliche Spruchtätigkeit und die staatsanwaltschaftlichen Entscheidungen sind schöpferische Erkenntnisprozesse, die sich deshalb einer Messung letztlich entziehen. [3]Deutscher Richterbund a. a. O. unter I. 2).

Vor allem aber gilt: Für eine (justizinterne) Kontrolle, die auf konkrete Entscheidungen eingeht, kommen nur die gesetzlich vorgesehenen Rechtsmittel in Betracht. [4]Hans-Jürgen Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1089 -1094 [1094]. Es mag dahinstehen, ob es wirklich ausgeschlossen ist, positive Qualitätsmerkmale von Verfahren und Entscheidungen in einer Weise zu definieren, dass sie kontrollierbar werden. Aber jedenfalls kann man sich doch in vielen Fällen darauf einigen, dass eine bestimmte Handhabung des Verfahrens oder eine Entscheidung mangelhaft ist. Das habe ich bereits vor längerer Zeit einmal darzustellen versucht. [5]Fehler in Gerichtsentscheidungen, in: Helmuth Schulze-Fielitz/Carsten Schütz (Hrsg.) Justiz und Justizverwaltung zwischen Ökonomisierungsdruck und Unabhängigkeit, Duncker & Humblot, Berlin, … Continue reading

Jetzt habe ich mich erneut nach einigen Beispielen für Qualitätsmängel umgesehen. Sie sollen zeigen, dass man Qualitätsmängel ganz konkret benennen kann. Darüber hinaus dürfen die Beispiele nicht verallgemeinert werden, denn sie sind ganz unsystematisch zusammengetragen worden. Aber man sollte sie auch nicht bagatellisieren. Immerhin war es nicht schwer, binnen weniger Tage zehn Beispiele zusammen zu tragen.

Beispiel 1:
Komplizierter Bauprozess vor der Kammer des Landgerichts Irgendwo im Januar 2009. Die Partei, von der die Informationen stammen, berichtet, der Berichterstatter habe die Ausdrücke »Scheiß« und »Mist« gebraucht. Während sie mit ihrem Anwalt zur Beratung über einen Vergleichsvorschlag auf den Flur gewesen sei, sei der Gegenanwalt mit der Bemerkung, er habe dem Gericht etwas zu erzählen, allein mit den Richtern im Gerichtssaal zurückgeblieben; bei ihrer Rückkehr in den Gerichtssaal seien Gegenanwalt und Gericht in eine Unterhaltung vertieft gewesen. Um 15 Uhr betritt eine Reinmachefrau den Gerichtssaal. Sie erklärt dem Berichterstatter, er habe einen Termin. Auf Nachfrage wird sie deutlicher: »Ihre Frau erwartet Sie.« Die Sitzung wird prompt beendet. Auch für die Durchsicht des Protokolls blieb später wohl keine Zeit:

In dem Rechtsstreit pp. erschienen bei Aufruf der Sache:
1. Der Kläger und Rechtsanwalt A
2. der Beklagte und Rechtsanwalt B.
Die Sach- und Rechtslage wurde erörtert. Der Kläger wird darauf hingewiesen, dass die Mängelbeseitigungskosten bisher immer noch nicht substantiiert dargelegt sind. Insbesondere fehlt es an einem Vortrag darüber, wie die Arbeiten, die die Firma Hausbau ausgeführt hat, abzugrenzen sind von den Arbeiten weiterer am Bauvorhaben beteiligter Unternehmen einzugrenzen sind. Soweit die Firma Hausbau Grömitz in Auftrag gegebene Arbeiten nicht ausgeführt hat, wäre hierfür eine Vergütung zu zahlen gewesen soweit insoweit über Zahlungen des Klägers der Vergütung für nicht erbrachte Arbeiten hätten entgegengehalten werden können bisher auch nicht substantiiert inwieweit der Beklagte solche Überzahlungen kannte bzw. damit rechnen musste. Gutachten datiert erst vom 31.08.2005, aus dem sich solche Überzahlungen ergeben.

Der vorstehende Text ist – bis auf die veränderten Namen – Buchstabe für Buchstabe aus dem Protokoll herauskopiert. Nun hoffen die Beteiligten, dass das Urteil etwas sorgfältiger abgefasst ist – oder sie befürchten das Schlimmste.

Beispiel 2:
Erbschaftssache von dem Einzelrichter des Landgerichts. Anwalt und Partei müssen sich anhören: »Mit son’m Scheiß muss ich mich den ganzen Tag herumschlagen. Sonst entscheiden wir über Verkehrsunfälle, wo es um Leben und Tod geht.«
Im Anschluss an die Verhandlung macht der Richter einen schriftlichen Vergleichsvorschlag. Es sollen 10.000 EUR verteilt werden. Davon soll der Kläger ¼ und der Beklagte ¾ erhalten. Der Vorschlag lautet dann: Der Beklagte zahlt an den Kläger 2.000 EUR. Auf den Rechenfehler hingewiesen erklärt der Richter, es bleibe bei dem Vergleichsvorschlag.

Beispiel 3:
Amtsgericht in Ruhrgebiet. Ein Rechtsanwalt, der die Partei im Verfahren um den Versorgungsausgleich vertreten hatte, klagt sein Honorar für die Vertretung in einem Beschwerdeverfahren vor dem Oberlandesgericht ein. Die Beschwerde war von der Rentenversicherung eingelegt worden, weil das Familiengericht von falschen Daten ausgegangen war. Darauf hatte sich der klagende Anwalt für den beklagten Beschwerdebeteiligten gemeldet. Im Ergebnis wurde der Verteilungsbeschluss allerdings nur minimal um wenige Cent geändert. Der Beklagte wendet ein, das Honorar sei höher als der Beschwerdewert. Der klagende Anwalt macht geltend, um das zu erkennen, habe er sich die Beschwerde ansehen müssen, und damit sei der Honoraranspruch schon entstanden. In der Verhandlung über den Honoraranspruch gibt der Amtsrichter zu erkennen, dass er die Einwendung des Beklagten für unerheblich halte, und schlägt einen Vergleich vor. Der Kläger lehnt ab. Darauf wird die Klage abgewiesen mit der Begründung, hier müsse gelten (wörtlich) »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu«.

Beispiel 4:
Eine Privatklinik hat gegen einen Patienten nach einem Krankenhausaufenthalt eine Forderung von über 30.000 EUR. Der Patient – jetzt: der Schuldner – hat Versicherungsleistung und Beihilfe kassiert, aber nicht gezahlt. Die Klinik – jetzt: der Gläubiger – hat einen Vollstreckungsbescheid erwirkt und betreibt die Zwangsversteigerung eines Mietshauses. Am 4. 10. 2007 ist Versteigerungstermin und am Ende ergeht ein Zuschlagsbeschluss. Dagegen legt der Schuldner am 5. 11. Beschwerde ein, da er, obwohl anwesend, zu dem Verzicht auf Einzelausgebote nicht befragt worden sei. Zugleich beantragt er Protokollberichtigung, denn der Rechtspfleger habe ihn nicht im Protokoll aufgeführt, obwohl er anwesend gewesen sei und sich zu Beginn des Termins legitimiert habe. Am 30. 5. 2008 sendet das Landgericht, bei dem die Akten ruhen, diese zurück an das Amtsgericht zur Protokollberichtigung. Am 23. 6. berichtigt der Rechtspfleger das Protokoll dahin, dass der Schuldner erst zu einem Zeitpunkt nach Verkündung des Zuschlagsbeschlusses als anwesend festgestellt wurde. Am 13. 8. 2008 gibt das Landgericht dem Schuldner eine Frist zur Stellungnahme binnen vier Wochen. Eine Stellungnahme erfolgt nicht. Auf wiederholte Sachstandsanfragen erhält der Gläubigeranwalt schließlich am 28. 1. 2009 die Nachricht:

In pp. wird mitgeteilt, dass wegen Überlastung der Kammer und zahlreicher vorrangig zu bearbeitender Sachen bis auf weiteres nicht mit einer Entscheidung gerechnet werden kann.

Auf telefonische Nachfrage im Februar 2009 erhält der Anwalt vom Vorsitzenden die Auskunft, bei dem (großen) Gericht sei ein Richter abgezogen worden. Strafsachen hätten nun Vorrang. Ein Zeitpunkt für die Entscheidung sei nicht abzusehen. Der Anwalt möge sich doch an die Ministerin wenden. Aber dann ergeht am 4. März doch ein Beschluss, der auf einer halben Seite die Beschwerde zurückweist. [6]Ein kleiner Lichtblick ist das Urteil des BGH Urteil vom 11. Januar 2007 – III ZR 302/05. Darin wurden einem Grundstückseigentümer Ansprüche aus einem enteignungsgleichen Eingriff und … Continue reading

Beispiel 5:
Anwälte haften für den kleinsten Fehler, während die Gerichte, die ihre Haftungsblitze in alle Richtungen schleudern, selbst gegen jede Fehlerhaftung immun sind. Pikant sind die Fälle, in denen Anwalt und Gericht gleichermaßen Fehler unterlaufen sind.
Ein Hauseigentümer hatte die Mieter seiner Wohnungen auf Zahlung von Nebenkosten verklagt. Streitig war, ob diese zur anteiligen Zahlung von Versicherung und Grundsteuer verpflichtet waren. Das Amtsgericht gab der Klage statt mit der Begründung, die Mieter hätten durch jahrelange widerspruchslose Zahlung der Umlage einer entsprechenden Änderung des schriftlichen Mietvertrages zugestimmt. Nun ging der Kläger zum Anwalt. Der legte Berufung ein. Jetzt wurde die Klage abgewiesen, weil vorbehaltlose Zahlungen von Mietern, die auch auf Rechtsirrtum beruhen könnten, nicht zu einer Vertragsänderung führten.
Der Anwalt verlangt nunmehr vom Kläger sein Honorar. Dieser lehnt ab, weil der Anwalt das Landgericht nicht auf die Entscheidung des BGH vom 29. 5. 2000 [7]NJW-RR 2000, 14639. über die stillschweigenden Abschluss einer Vereinbarung über zu tragende Nebenkosten durch jahrelange Übung hingewiesen hatte. Der Gebührenstreit ging bis zum BGH und der entschied, dass das Versäumnis des Gerichts den Anwalt nicht entlaste. [8]U vom 18. 12. 2008 – IX ZR 179/07, NJW Spezial 2009 126.

Beispiel 6:
Ein Rechtsanwalt erhebt Scheidungsklage. Richtigerweise hätte er auf Feststellung des Nichtbestehens der Ehe klagen müssen, da die Ehe tatsächlich nichtig war. Obwohl der Sachverhalt vollständig und richtig mitgeteilt worden war, verkennt auch das Familiengericht die Rechtslage und scheidet die Ehe. [9]BGH U. v. 13. 3. 2003 – IX ZR 181/99, NJW-RR 2003, 850 – auch hier geht es um die Haftung des Anwalts.

Beispiel 7:
Nach BGHZ 174, 205: In diesem Fall hatte der Anwalt den Sachverhalt für eine Amtshaftungsklage schlüssig vorgetragen. Das Gericht hatte die Klage fälschlich abgewiesen. Zusätzlich hatte der Anwalt den Schaden zu niedrig berechnet. Der BGH ließ ihn in voller Höhe haften.

Beispiel 8:
24.02.2009: Das Magazin frontal21 des ZDF berichtet: Ein pensionierter Verfassungsschützer wird als mutmaßlicher Erpresser von einem Sondereinsatzkommando der Polizei verhaftet. Dann stellt sich heraus: Er ist Opfer einer Verwechslung.
Der Lidl-Konzern hatte einen Erpresserbrief erhalten. Der Brief kam aus dem Internetcafe einer Spielhalle. Die Polizei hatte deshalb den Spielhallenbetreiber um Hilfe gebeten. Tatsächlich kehrte der Erpresser zurück, und als er das Internetcafe verließ, wurde er von dem Betreiber beobachtet. Der verwechselte aber das Auto des Erpressers mit einem Auto, in dem ein völlig unbeteiligtes Ehepaar saß. Zwei Tage später stürmt ein Sondereinsatzkommando der Polizei deren Haus und beide werden verhaftet. Noch im Lauf der Vernehmung erfährt die Polizei, dass der wirkliche Erpresser sich erneut gemeldet hat und die Verhafteten werden natürlich entlassen.
Eine bedauerliche Verwechslung, lässt die Staatsanwaltschaft verlauten. So weit so gut. Das kann passieren. Was aber nicht passieren darf, ist die Begründung des Haftbefehls für die Fluchtgefahr. Sie lautet nach dem ZDF-Bericht: »Zwar verfügt der Beschuldigte noch über einen festen Wohnsitz. Dieser soll jedoch zwangsversteigert werden, so dass es an tragfähigen sozialen Bindungen fehlt.«
Bei dem Beschuldigten handelte es sich um einen pensionierten Oberamtsrat des Verfassungsschutzes, der seit Jahrzehnten verheiratet und mit seiner Frau schuldenfrei im eigenen Haus lebt. Das hätten weder Staatsanwalt noch Amtsrichter übersehen dürfen. Die Staatsanwaltschaft Heilbronn, die den Haftbefehl beantragte, findet jedoch, die Verhaftung sei »nicht zu beanstanden gewesen«.

Beispiel 9
Das Landgericht hatte entgegen der zwingenden Vorschrift des § 246 Abs. 3 S. 5 AktG versäumt, mehrere Anfechtungsklagen zu verbinden. Im Kostenfestsetzungsverfahren stellte sich die Streithelferin, deren Kosten die Beklagte zu erstatten hatte, auf den Standpunkt, dass jedes Beschlussanfechtungsverfahren eine eigene Angelegenheit im Sinne des RVG bilde, und machte für jedes Verfahren besondere Anwaltsgebühren geltend. Die Beklagte trat der mehrfachen Festsetzung der Kosten entgegen, weil die Verfahren zu verbinden gewesen wären, und legte schließlich gegen den die beantragten Kosten zusprechenden Kostenfestsetzungsbeschluss Rechtsmittel ein. OLG Zweibrücken entschied mit Beschluss vom 09.02.2009 – AZ 4 W 98/08-, dass der Rechtspfleger im Kostenfestsetzungsverfahren von getrennten Verfahren ausgehen müsse. Das gesetzwidrige Versäumnis des Landgerichts könne im Kostenfestsetzungsverfahren auch unter dem Gesichtspunkt der »Notwendigkeit« der Kosten nicht mehr korrigiert werden.
Beispiel 10:
Ein Autofahrer wird von einer Rotlichtampel geblitzt. Gegen den Bußgeldbescheid legt er Einspruch ein, den sein Verteidiger wie folgt begründet:

1. Es wird nicht in Abrede gestellt, dass der Betroffene der Fahrer des Wagens war, der auf den Bildern zu sehen ist.
2. Zwischen der ersten und der zweiten Aufnahme, die im Abstand von 1,1 Sekunden gemacht wurden, hat sich das Fahrzeug des Betroffenen höchstens um eine Fahrzeuglänge bewegt. Die Geschwindigkeit betrug also nur etwa 15 km/h. Das ist ungewöhnlich für einen Rotlichtverstoß.
3. Fahrer und Beifahrer haben den Kamerablitz wohl bemerkt. Der Beifahrer hat sofort gesagt: Das hat wohl einem anderen Fahrzeug gegolten. Wir sind noch eindeutig bei Gelb in die Kreuzung eingefahren.
4. Die Behörde hat zwar die Kopie einer Eichbescheinigung für eine Kamera vorgelegt. Es lässt sich jedoch nicht erkennen, dass die geeichte Kamera und die auf der Kreuzung identisch sind.

Die Behörde gibt die Sache kommentarlos über die StA an das Amtsgericht ab. Nun kommt die Anfrage des Amtsrichters an den Verteidiger:

In pp. haben Sie … Einspruch …eingelegt.
Diesen Einspruch haben sie nicht begründet oder zumindest nicht erklärt, ob Sie auch gegen die
Richtigkeit der Messung (Rotlicht)
die Identität des Fahrers anzweifeln
wenden.

Nun fragt sich der Betroffene: Wenn der Richter nicht einmal die Akten liest und auch keinen korrekten Satz schreiben kann, was darf man dann wohl noch von ihm erwarten? Da fällt es schon nicht mehr ins Gewicht, dass der Richter auch noch eine Vollmacht anfordert, obwohl der Betroffene bereits mit seinem Einspruchsschreiben an die Behörde seinem Verteidiger Vollmacht erteilt hatte.

Nachträge:

Thesen für das Wochenendseminar »Justiz in der Modernisierungsfalle?« am 29./30. Januar 2000 in Hamburg
Arbeitsgruppe 3 – Kann Qualität gemessen werden? Qualitätsinstrumente und Qualitätsmessung.

Dazu jetzt: Jordan M. Singer, Judicial Performance Evaluation in the States: The IAALS JPE 2.0 Pre-Convening White Paper (May 1, 2022). New England Law | Boston Research Paper No. 23-01,  SSRN 505778.

 

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Qualität in der Justiz – Beschluss der Bundesvertreterversammlung des DRB vom 15.11.2002 und des Bundesvorstandes vom 26.4.2007 [http://www.drb.de/cms/index.php?id=487]
2 Vgl. den Bericht »Qualitätszirkel der Oberlandesgerichte«, DRiZ 2008, S. 269-271
3 Deutscher Richterbund a. a. O. unter I. 2).
4 Hans-Jürgen Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1089 -1094 [1094].
5 Fehler in Gerichtsentscheidungen, in: Helmuth Schulze-Fielitz/Carsten Schütz (Hrsg.) Justiz und Justizverwaltung zwischen Ökonomisierungsdruck und Unabhängigkeit, Duncker & Humblot, Berlin, 2002, S, 67-97.
6 Ein kleiner Lichtblick ist das Urteil des BGH Urteil vom 11. Januar 2007 – III ZR 302/05. Darin wurden einem Grundstückseigentümer Ansprüche aus einem enteignungsgleichen Eingriff und prinzipiell auch Amtshaftungsansprüche zugesprochen, weil er zu lange auf eine Grundbucheintragung warten musste. Im Leitsatz heißt es:

»Der Staat hat seine Gerichte so auszustatten, dass sie die anstehenden Verfahren ohne vermeidbare Verzögerung abschließen können (hier: übermäßige Dauer der Bearbeitung von Anträgen durch das Grundbuchamt wegen Überlastung). Die Erfüllung dieser Verpflichtung kann den Justizbehörden insgesamt als drittgerichtete Amtspflicht obliegen (teilweise Abweichung von BGHZ 111, 272).«

7 NJW-RR 2000, 14639.
8 U vom 18. 12. 2008 – IX ZR 179/07, NJW Spezial 2009 126.
9 BGH U. v. 13. 3. 2003 – IX ZR 181/99, NJW-RR 2003, 850 – auch hier geht es um die Haftung des Anwalts.

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Schluss mit der Rechtsdidaktik

Elf Mal habe ich zu diesem Thema geposted. Nun ist Schluss damit, denn die Sache ist für mich zu groß geworden. Animiert von dem Hamburger »Lehrreich«-Team und tatkräftig unterstützt von Prof. Dr. Günter Reiner, Helmut-Schmidt-Universität, hatte ich einen Drittmittelantrag ausformuliert, der den Weg für die vom Wissenschaftsrat im Beschluss vom 4. Juli 2008 (Drs. 8618-08) empfohlene Einrichtung eines Fachdidaktikzentrums für Hochschullehre bereiten sollte. Anfang Januar hatte ich bei der VolkswagenStiftung angefragt, in welches Programm das Projekt passen könnte. Dann wurden am 13. Januar 2009 von der VolkswagenStiftung und der Stiftung Mercator gemeinsam 10 Mill. EUR für das Programm »Bologna – Zukunft der Lehre« ausgelobt, und ich erhielt die Nachricht, man nehme außerhalb dieses Programmes keine Anträge mehr entgegen, die mit Hochschuldidaktik zu tun hätte. Auch die Mercatorstiftung, der ich den Antragsentwurf übersandt hatte, antwortete Mitte Februar, ich möge das Projekt auf das neue Programm ausrichten. Teilnahmevoraussetzung scheint ein Bekenntnis zum Bologna-Prozess zu sein, das mir nicht leicht fallen würde. Ferner wäre ein größerer Verbund »praxisnah arbeitender Expertengruppen oder Kompetenzzentren für Hochschullehre, Curriculumforschung und –entwicklung« zur organisieren. Das ist nicht mehr die Aufgabe eines Emeritus. Auch meine zeitliche Perspektive war eine andere. Ich ziehe mich also zurück. Allen, die bereit waren mitzumachen und die mich unterstützt haben – und das waren nicht wenige – sage ich herzlichen Dank. Ich hoffe, dass die Sache weiter vorangetrieben wird. Die ausgelobten 10 Mill. sollten nicht ganz den anderen Fakultäten überlassen werden.

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Rennlisten aus dem Social Science Citation Index

Wer wen zitiert wird seit 1993 im Social Sciences Citation Index (SSCI) ausgezählt. Ausgewertet werden 1725 der weltweit wichtigsten sozialwissenschaftlichen Zeitschriften (mit Originalartikeln, Besprechungen, Korrekturen, Diskussionen, Editorials, biographischen Vermerken etc.). Zusätzlich erfolgt Auswertung (in Auswahl) von mehr als 3300 der weltweit führenden sozialwissenschaftlichen Zeitschriften. Der Index ist über die meisten Universitätsbibliotheken zugänglich. Eine erhebliche Einschränkung besteht darin, dass nur Zeitschriften, aber keine Bücher ausgewertet werden. Zwar werden auch Zitate von Büchern, die in Zeitschriften erscheinen, gezählt. Aber es gibt doch wohl immer noch eine Buchkultur, die Zusammenhalt und Fortschritt eines Faches bestimmt und im Index nicht hinreichend abgebildet wird. Der Index ist im Übrigen auf die englischsprachige Welt ausgerichtet. Um ausgewertet zu werden, muss eine Zeitschrift sich anmelden und bestimmte Voraussetzungen erfüllen, darunter insbesondere ein Reviewverfahren und regelmäßiges und pünktliches Erscheinen. Das ist der Zeitschrift für Rechtssoziologie bisher nicht gelungen. Allerdings werden in den angemeldeten Zeitschriften auch die Zitate aus nicht angemeldeten Zeitschriften gezählt.
Für eine Herausgeberbesprechung der Zeitschrift für Rechtssoziologie hatte Wolfgang Ludwig-Mayerhofer 2007 einige Zahlen aus dem SSCI zusammengestellt. Er hat mir freundlich gestattet, seine Zahlen zu verwenden.
Bis Sommer 2007 wurden insgesamt 49 Aufsätze aus der ZfRSoz zusammen 118 mal in SSCI-Journals zitiert. Die Spitzenreiter waren:
(1) Gunther Teubner/Helmut Willke, Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Steuerung durch reflexives Recht (Bd. 6, 1984, 4-35): 18 Zitationen [Google Scholar 123]
(2) E. Allan Lind, Procedural Justice and Culture: Evidence for Ubiquitous Process Concerns (Bd. 15, 1994, 24-36): 9 Zitationen [Google Scholar 29]
(3) Niklas Luhmann, Einige Probleme mit »reflexivem« Recht (Bd. 6, 1985, 1-18): 7 Zitationen [Google Scholar 19]
(4) Alfons Bora, Grenzen der Partizipation? Risikoentscheidungen und Öffentlichkeitsbeteiligung im Recht (15, 1994, 126-152): 6 Zitationen [Google Scholar 13]
(5) Klaus Eder, Prozedurale Legitimität. Moderne Rechtsentwicklung jenseits von formaler Rationalisierung (Bd 7, 1986, 1-30): 5 Zitationen [Google Scholar 11]
[Ich habe in eckigen Klammern die neuesten Zahlen aus Google Scholar hinzugefügt. Sie bestätigen die Reihenfolge.]
Unterschiedliche Dimensionen werden deutlich, wenn man erfährt, dass in derselben Zeit 1.020 verschiedene Aufsätze aus dem Law & Society Review insgesamt 17.250 mal in SSCI Journals zitiert wurden. Hier die Spitzenreiter:
(1) Marc Galanter, Why the »Haves« Come Out Ahead: Speculations on the Limits of Legal Change (Bd. 9, 1974/75, 95-160): 755 Zitationen
(2) William L. F./Richard Abel/Austin Sarat, The Emergence and Transformation of Disputes: Naming, Blaming, Claiming… (Bd. 15, 1980/81, 631-654): 257 Zitationen
(3) John Hagan, Extra-Legal Attributes and Criminal Sentencing: An Assessment of a Sociological Viewpoint (Bd. 8, 1973/1974, 357-384): mit 212 Zitationen
(4) Abraham S. Blumberg, The Practice of Law as a Confidence Game: Organizational Cooptation of a Profession (Bd. 1, Heft 2, 1967, 14-40): 159 Zitationen
(5) Harold G. Grasmick/Robert J. Bursik, Jr., Conscience, Significant Others, and Rational Choice: Extending the Deterrence Model (B. 24, 1990, 837-862): 158 Zitationen
(6) Daniel S. Nagin, Enduring Individual Differences and Rational Choice Theories of Crime (Bd. 27, 1992/1993, 467-496: 139 Zitationen
(7) Tom R. Tyler, What is Procedural Justice?: Criteria Used by Citizens to Assess the Fairness of Legal Procedures (Bd. 22, 1988, 103-135): 125 Zitationen
(8) Gunther Teubner, Substantive and Reflexive Elements in Modern Law (Bd. 17, 1982/1983, 239-286): 118 Zitationen
(9) Donald T. Campbell/H. Laurence Ross, The Connecticut Crackdown on Speeding: Time Series Date in Quasi-Experimental Analysis (Bd. 3, 1968/1969, 33-54): 117 Zitationen
(10) Kirk R. Williams/Richard Hawkins, Perceptual Research on General Deterrence: A Critical Review (Bd. 20, 1986, 545-572): 114 Zitationen.

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Empirische Rechtsforschung – Methode oder Philosophie?

Jonathan Simon hat durch ein Posting mit dem Titel Empirical Legal Bulls? eine rege Diskussion ausgelöst. Simon – der anscheinend wichtige Bücher zu Kriminologie und Kriminalpolitik geschrieben [1]Poor Discipline: Parole and the Social Control of the Underclass, 1890-1990, University of Chicago Press, 1993; Governing Through Crime: How the War on Crime Transformed American Democracy and … Continue reading hat und mir zuvor durch Rezensionen zu Foucaults »Überwachen und Strafen« [2]Discipline and Punish: The Birth of a Postmodern Middle-Range, in: Dan Clawson (Hg.), Required Reading: Sociology’s Most Influential Books, Amherst, MA, University of Massachusetts Press, 1998, S. … Continue reading und zu Macaulay/Friedman/Mertz, Law in Action [3]Law after Society, Law & Social Inquiry, 24, 1999, 143-194 aufgefallen war – hat die kühne These in die Welt gesetzt, die empirische Rechtsforschung habe immer dann Konjunktur (gehabt), wenn die Börsen haussierten. Das hänge damit zusammen, dass empirische Forschung teuer sei. Der schwarze September 2009 müsse jetzt aber kein Ende der aktuellen Konjunktur empirischer Rechtsforschung (von der wir hierzulande wenig spüren ist) bedeuten, denn:

First, it was more than Bull markets that fueled empirical peaks. These were also periods characterized by the emergence of new industries and markets that produced new demands for governance (and new questions about the adequacy of laws), social movements producing new demands for legal reform, and relatively activist administrations in Washington (Hoover in the 20s, Kennedy and Johnson in the 60’s, Clinton and Bush in the 1990s and 00’s), These factors may drive growth even after the bulls stop running on Wall street. In the 1930s, many of the empiricists drifted out of the academy to participate in the New Deal, and Obama’s New New Deal may be just in time for such a transfer.
But two reasons lead me to believe this current empirical wave will be more enduring. First, the cost of empirical research is expensive but much less than was true in the ’20s, when computers did not exist, or in the 1960’s, when they were hugely expensive to access. Second, unlike the previous periods when law schools opened up to empirical work, this wave has been generated largely internally by the emerging scholarly norms of the professoriate itself (rather than ambitions of foundation or university visionaries to change the faculty).

Dieser Beitrag hat eine Reihe von Kommentaren nach sich gezogen. Darin geht es vor allem um die Frage, ob die Konjunktur empirischer Rechtsforschung etwas mit dem Niedergang linkskritischer Soziologie und dem parallelen Aufstieg von Law & Economics zu tun hat.
Für den Legal McLuhanite ist das Diskussionsforum nicht weniger interessant als die Sache. Es ist ein Weblog mit dem Namen PrawfsBlawg. Sein Motto: »Where Intellectual Honesty Has (Almost Always) Trumped Partisanship — Albeit in a Kind of Boring Way Until Recently — Since 2005«. »BLawg« nennt man in der Blogosphäre ein Weblog, das Recht (Law) zum Thema hat. PrawfsBlawg ist dann wohl Law Professors’ Blog. Es handelt sich um einen Gemeinschaftsblog von neun Rechtsprofessoren. Ich habe ihn bis auf Weiteres in meine Blogroll aufgenommen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Poor Discipline: Parole and the Social Control of the Underclass, 1890-1990, University of Chicago Press, 1993; Governing Through Crime: How the War on Crime Transformed American Democracy and Created a Culture of Fear, Oxford University Press, 2007
2 Discipline and Punish: The Birth of a Postmodern Middle-Range, in: Dan Clawson (Hg.), Required Reading: Sociology’s Most Influential Books, Amherst, MA, University of Massachusetts Press, 1998, S. 47-54.
3 Law after Society, Law & Social Inquiry, 24, 1999, 143-194

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Evolution des Rechts – mehr als eine Metapher oder nicht einmal das?

Heute, an seinem 200. Geburtstag, ist die Frage angebracht, wie Darwin [1]Darwins Geburtstag ist nicht der Tag, um auf die Verdienste von Wallace um die Evolutionstheorie hinzuweisen. hilft, die Evolution des Rechts zu erklären. In der Rechtssoziologie fällt, wenn von der Entwicklung des Rechts die Rede ist, wie selbstverständlich auch sein Name. [2]Z. B. bei Thomas Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2007, S. 344. Doch bleibt weithin offen, was genau die biologische Evolutionstheorie für die (Rechts-)Soziologie bedeutet.
Niklas Luhmann hatte schon auf der Grundlage der funktional-strukturellen Systemtheorie eine Evolutionstheorie des Rechts entworfen. [3]Z. B. Evolution des Rechts, in: Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 11-34 = Rechtstheorie 1, 1970, 3-22. Sein großes Thema war die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in immer neue soziale Systeme und damit verbunden eine immense Steigerung ihrer Komplexität. Luhmann nahm an, dass sich die Evolution des Rechts in drei Schritten vollzöge, die er Variation, Selektion und Stabilisierung nannte. Damit kam er der biologischen Evolutionstheorie sehr nahe. Variation ist die durch Zufall oder wie auch immer erzeugte Möglichkeit neuer Formen oder Alternativen. In der Biologie spricht man von Mutationen. Aus einer Vielzahl solcher Neuerungen überleben diejenigen, die den Anforderungen der Umwelt am besten angepasst sind. Darwin sprach ursprünglich vom Überleben im Kampf um das Dasein (struggle for life) und übernahm später den von Spencer geprägten Ausdruck survival of the fittest. Schließlich müssen die so ausgewählten Neuerungen zur Normalität werden. In der Biologie geht es um die Reproduktion der brauchbaren Formen, also um Vermehrung. Für die Gesellschaft spricht Luhmann von der Stabilisierung neuer Möglichkeiten im System. Im Rechtssystem sollte die Variation auf der Normebene stattfinden, die Selektion in institutionellen Strukturen, insbesondere Verfahren, und die Stabilisierung durch begrifflich dogmatische Verfestigung. Die drei Schritte der Evolution treffen, so Luhmann, auf den verschiedenen Entwicklungsstufen der Gesellschaft auf unterschiedliche Voraussetzungen, aus denen sich jeweils spezifische Probleme der Rechtsentwicklung ergeben sollen.
Mit der Umstellung auf die autopoietische Systemtheorie kam Luhmann der Biologie noch ein Stück näher, denn die Systeme wurden lebendig und ihre Evolution nun zum Herzstück seiner großen Bücher. Im »Recht der Gesellschaft« von 1995 handelt das ganze 6. Kapitel (S. 239-296) von der »Evolution des Rechts«. Darin wird der »Evolutionsbegriff in Anlehnung an die Theorie Darwins« benutzt. In der »Gesellschaft der Gesellschaft« (1997) trägt das umfangreiche Kapitel 3 (181 Seiten) die Überschrift »Evolution«. Es beginnt: »Gesellschaft ist das Resultat von Evolution. Man spricht auch von ›Emergenz‹. Das ist aber nur eine Metapher, die nichts erklärt …«. »Evolution« dagegen ist also keine Metapher? So klingt es jedenfalls.
Gunther Teubner (Recht als autopoietisches System, 1989) hatte schon tiefer geschürft. In einem Kapitel über »Blinde Rechtsevolution« wies er Kritik am Evolutionsbegriff als Missverständnis zurück. Damit wandte er sich gegen evolutionistische Vorstellungen von einer gerichteten Entwicklung und den damit meistens verbunden Normativismus. Er widersprach aber auch soziobiologischen Konzepten und Habermas’ Vorstellung von der Autonomie normativer Phänomene in der sozio-kulturellen Evolution. Sein Ziel war ein »gereinigter Evolutionsbegriff« [4]Teubner bezieht sich hier besonders auf Arbeiten von Donald T. Campbell. Eine jüngere einschlägige Arbeit von Campbell (und Francis Heylighens) habe ich im Netz gefunden: Selection of Organization … Continue reading (S. 63), »der den fruchtbaren Kern aus biologistischen Analogien herausschält«. Als solchen nennt er: »(1) das ›blinde Zusammenspiel der Evolutionsmechanismen Variation, Selektion und Retention; (2) die Kombination ontogenetischer und phylogenetischer Entwicklung; (3) die Vorstellung der Ko-evolution von Rechtssystem, Gesellschaftssystem und anderen gesellschaftlichen Teilsystemen.« (S. 66)
Eine besonders sorgfältige und materialreiche Analyse soziologischer Theorien der Rechtsevolution stammt von Marc Amstutz (Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, Kapitel 3 bis 5). Ich greife nur zwei Punkte heraus. Für die Biologie gilt heute eine sog. synthetische Evolutionstheorie. Sie kombiniert Darwins Theorie mit Erkenntnissen der Genetik. Deren Übertragung auf die Sozialwissenschaften scheidet nach Ansicht von Amstutz aus, »da soziale Phänomene kein eigentliches Äquivalent zum Gen kennen« (S. 186). Amstutz hat einen weiteren Gesichtspunkt eingebracht: Die »Eigenlogik des Rechtsystems markiert nun gerade die äußerste Grenze der Variabilität seiner Normen. In der Argumentation Darwins taucht diese Grenze nicht auf …« (S. 184.). Also keine »echte« Evolution des Rechts? In der Tat: für Amstutz kann evolutorisches Rechtsdenken nur ein Denken in Metaphern sein (S. 167).
Deutlich wird auch Thomas Vesting. 30 von 157 Seiten seiner »Rechtstheorie« von 2007 verwendet er auf das Thema »Evolution«. Zu Beginn (Rn. 245) wird der Leser auf »die unhintergehbare Paradoxie der historischen Zeit, der Identität von Kontinuität (Identität) und Entwicklung (Differenz)« eingestimmt. Die Evolutionsbiologie kennt keine Paradoxien. Von dieser setzt Vesting sich ab: »Die Verwendung von Begriffen Darwins in der Rechtstheorie sollte nicht als analoge Anwendung biologischer Erkenntnisse oder ›Metaphern‹ interpretiert werden. Darwins Begriff der ›natural selection‹ wird nicht einfach auf die Systemtheorie übertragen; der Systemtheorie geht es um interne Selektion und um die vorübergehende Eigenstabilisierung dynamischer (Sinn-)Systeme, nicht aber um externe Selektion und ausschließlich phylogenetische Gesetzmäßigkeiten wie Darwin.« Evolution des Rechts also nicht einmal eine Metapher?
Luhmann und Teubner, Amstutz und Vesting arbeiten auf der Grundlage der autopoietisch gewendeten Systemtheorie. Jürgen Habermas meint, Gesellschaft, vom Persönlichkeitssystem getrennt, könne die Evolution nicht alleine tragen. Vielmehr stellten Gesellschafts- und Persönlichkeitssystem zusammengenommen ein evolutionsfähiges System dar. »Wohl trägt das Persönlichkeitssystem den Lernvorgang der Ontogenese; und in gewisser Weise sind es allein die vergesellschafteten Subjekte, die lernen. Aber Gesellschaftssysteme können unter Ausschöpfung des Lernniveaus vergesellschafteter Subjekte neue Strukturen bilden, um ihre Steuerungskapazität auf ein neues Niveau zu bringen.« [5]Zum Theorievergleich in der Soziologie: am Beispiel der Evolutionstheorie, in: Jürgen Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, 3. Aufl. 1982, 129 ff., 133..
Vielleicht darf man gar nicht so fragen, wie es meine Überschrift nahelegt. Vermutlich hat das (biologische) Evolutionsgesetz für die Soziologie nur heuristischen Wert. Ich formuliere trotzdem einige Fragen, die sich bei dem Versuch einer direkten oder analogen Anwendung stellen.
Biologie sucht nach dem Anfang des Lebens (Biogenese). Die Frage nach dem Anfang des Rechts (Legogenese?) wird uns von der Systemtheorie untersagt (Vesting, Rn. 265). Dafür werden wir auf einen rechtsintern erzeugten Ursprungsmythos verwiesen. Aber das kann nur die Antwort der (einer) Rechtstheorie sein. Ethnologen und Soziologen lassen sich die Frage nach dem Anfang des Rechts nicht verbieten.
Für die Biologie gilt:
»1. Arten sind nicht unabänderlich. Sie entstanden in einer ununterbrochenen Generationenfolge vom Zeitpunkt der Entstehung des Lebens bis hin zu den heute existierenden (rezenten) Arten.
2. Individuen einer Art sind untereinander nicht gleich. Innerhalb einer jeden Art lässt sich für jedes Merkmal eine beträchtliche Variation feststellen.
3. Jedes Individuum ist einer natürlichen Selektion (einem Selektionsdruck) unterworfen. Nur die der Umwelt am besten angepassten haben eine Chance, zu überleben und sich fortzupflanzen.« [6]Peter von Sengbusch, Botanik online, 2002, URL: http://www.biologie.uni-hamburg.de/b-online/d36/36.htm.
Thema der Evolutionsbiologie ist die Phylogenese der Lebewesen. [7]Kutschera, S. 15. Die Erklärung findet sich auf der Ebene der Ontogenese, d. h. der Generationenfolge. Als Phylogenese des Rechts kommt die Rechtsgeschichte oder die Entwicklung des Rechtssystems in Betracht. Die Analogie zur Ontogenese ist nicht so einfach. Dazu müsste man über eine Analogie zum Begriff des Individuums verfügen. Der Mensch als Naturwesen kann es kaum sein. Vielleicht aber, wie Habermas meint, sein Persönlichkeitssystem? Teubner findet die Ontogenese in der konkreten Interaktion des Verfahrens (S. 76).
Das Individuum – und nicht die Art – ist auch Grundeinheit der Selektion. Erneut drängt sich die Frage auf, welche Einheit in der sozialen Evolution für das Individuum steht. Ist die Grundeinheit der Rechtsevolution ein System? Aber welches System? Das Rechtssystem? Oder irgendwelche Subsysteme? Alle Systeme? Und was steht dann für die Arten? Was für die Umwelt? Teubner wird genauer und erklärt uns, Einheiten sozialer oder rechtlicher Evolution seien »nicht menschliche Individuen oder ihre Aggregate, also Gruppen, Nationen, Rassen …, sondern soziokulturelle Phänomene: Ideen, Gebräuche, Organisationsformen etc.« (S. 66). Auf der folgenden Seite ist Einheit der Evolution dann »das Recht selbst als System sozialer Kommunikationen«.
Biologen diskutieren heute, ob die Selektion wirklich nur bei Individuen angreift oder ob nicht auch Gruppen (Populationen) dem Selektionsdruck ausgesetzt sind. [8]Ulrich Kutschera, Evolutionsbiologie, 3. Aufl. 2008, David Sloan Wilson/Edward O. Wilson, Evolution – Gruppe oder Individuum, Spektrum der Wissenschaft Januar 2009, S. 32-41. Diese Erweiterung der biologischen Theorie könnte ihre Übertragung auf die Gesellschaft erleichtern.
Weiter ergibt sich die Frage, wie Variationen und damit die Anpassung an die Umwelt zustande kommt. Luhmann [9]Das Recht der Gesellschaft, S. 245 ff verwendet zwölf Seiten auf die Bedeutung der Schrift, um mit der Feststellung zu enden, »alle Rechtsevolution, vor allem die einmalige, zweitausendjährige Evolution des römischen Zivilrechts, [sei] durch die Differenz von Text und Interpretation ermöglicht worden«, die neue Variationen entstehen ließ. Vesting (Rn. 262) hat ein Beispiel zur Hand: »Der Versammlungsbegriff wurde in der Vergangenheit stets weit ausgelegt, unter dem Druck der Zunahme eines neuen Typus von Unterhaltungsdemonstration (›Love-Parade‹) sieht sich das Bundesverfassungsgericht jedoch mit einer veränderten Sachlage konfrontiert und sucht nach neuen Möglichkeiten, mit dem abweichenden Demonstrationstypus umzugehen (Variation). In einer Entscheidung wird die Unterhaltungsdemonstration aus dem Versammlungsbegriff ausgeschlossen (Selektion)., in weiteren Entscheidungen verfestigt sich die neue Rechtsprechung (Restabilisierung).« So einfach ist das?
Biologisch entstehen Variationen zufällig durch Mutation oder – bei höheren Lebewesen sehr viel wichtiger – durch bisexuelle Vermehrung. Auf der Ebene der Gesellschaft kommen biologisch vererbte sozial relevante Eigenschaften und erworbene Eigenschaften in Betracht. Erworbene Eigenschaften sind in der Gesellschaft wichtiger als in der Natur. Wichtiger ist deshalb auch die Frage nach der Möglichkeit epigenetischer Vererbung. Davon hält die Biologie bisher wenig oder gar nichts. [10]Kutschera, S. 62 Zwar ist in der Soziologie öfter von sozialer Vererbung die Rede. Aber dabei denkt man kaum an Evolution. [11]Typisch Andreas Diekmann/Henriette Engelhardt, Die soziale Vererbung des Scheidungsrisikos, Zeitschrift für Soziologie 24, 1995, 215-228.
Selektion ist für die Biologie schlicht eine Frage des Ergebnisses. Wer sich fortpflanzt, ist der Selektion nicht zum Opfer gefallen. Für die Gesellschaft können wir uns schwer von der Vorstellung frei machen, dass Anpassung und Selektion ganz mechanisch erfolgen. Teubner (S. 68) hält es sogar für »offenkundig …, daß evolvierende Systeme wie das Recht über höhere Autonomie im Evolutionsprozeß verfügen«.
Die Stabilisierung erfolgt biologisch im Genom oder Erbgut. Amstutz’ Verdikt soll uns nicht hindern, jedenfalls nach einer Analogie zu suchen. Das Äquivalent ließe sich vielleicht im sozialen Gedächtnis finden. Diesen Ausdruck verwendet Luhmann. Er verweist uns auf die Speicher- und Verbreitungsmedien als Gedächtnisort. Der Legal McLuhanite wird ihm darin gerne folgen. Auch für Vesting spielen die Medien für die Evolution des Rechts eine zentrale Rolle. Er sieht in ihnen jedoch nicht das »Genom« des Rechts, sondern spricht von der Coevolution von Rechtssystem und Mediensystem. [12]Rechtstheorie, Rn. 274 ff., 280.
Makroevolution in der Natur wird von der Biologie als eine Summierung von vielen kleinen Veränderungen behandelt. [13]Ulrich Kutschera/Karl J. Niklas, The Modern Theory of Biological Evolution: An Expanded Synthesis, Naturwissenschaften 2004, 91, 255–276, S. 263.[ http://www.evolutionsbiologen.de/niklas.pdf] Der Emergenzbegriff spielt keine Rolle. In der Soziologie dagegen haben wir es immer wieder mit Emergenzeffekten und manchmal auch mit Eigendynamiken zu tun. Wie passt beides zusammen?
Einfacher ist es vermutlich, soziologische Entsprechungen für den Reproduktionsüberschuss und die Sterblichkeit natürlicher Lebewesen zu finden. Am Einfachsten ist es aber, die hier aufgelisteten Fragen als unzulässig zurückzuweisen.

Nachtrag: Im Dezember 2012 gab es eine interessante Tagung der Vereinigung für Recht und Gesellschaft and der Universität Freiburg/Schweiz über »Rechtsevolution: Theoretische und Soziologische Perspektiven«. Die Vorträge sind leider nicht veröffentlicht worden. Hier will ich noch auf vier Cluster von einschlägiger Literatur hinweisen. Der erste umfasst Arbeiten von Evolutionsspezialisten, die von der Biologie herkommen. Es handelt sich besonders um Robert Boyd, Peter J. Richerson, ihre Schüler und Mitarbeiter. Das zweite Cluster enthält Arbeiten aus dem Max Planck Institute of Economics in Jena. Das dritte besteht aus den Beiträgen zu einem Symposium on Evolutionary Approaches to (Comparative) Law, das 2010 in Ghent stattfand. Das vierte Cluster ist ein Sammelsurium aus Internetressourcen, die von SEAL, der Society for Evolutionary Analysis in Law, auf ihrer Webseite gesammelt werden.

 

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Darwins Geburtstag ist nicht der Tag, um auf die Verdienste von Wallace um die Evolutionstheorie hinzuweisen.
2 Z. B. bei Thomas Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2007, S. 344.
3 Z. B. Evolution des Rechts, in: Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 11-34 = Rechtstheorie 1, 1970, 3-22.
4 Teubner bezieht sich hier besonders auf Arbeiten von Donald T. Campbell. Eine jüngere einschlägige Arbeit von Campbell (und Francis Heylighens) habe ich im Netz gefunden: Selection of Organization at the Social Level: Obstacles and Facilitators
of Metasystem Transitions
5 Zum Theorievergleich in der Soziologie: am Beispiel der Evolutionstheorie, in: Jürgen Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, 3. Aufl. 1982, 129 ff., 133.
6 Peter von Sengbusch, Botanik online, 2002, URL: http://www.biologie.uni-hamburg.de/b-online/d36/36.htm.
7 Kutschera, S. 15.
8 Ulrich Kutschera, Evolutionsbiologie, 3. Aufl. 2008, David Sloan Wilson/Edward O. Wilson, Evolution – Gruppe oder Individuum, Spektrum der Wissenschaft Januar 2009, S. 32-41.
9 Das Recht der Gesellschaft, S. 245 ff
10 Kutschera, S. 62
11 Typisch Andreas Diekmann/Henriette Engelhardt, Die soziale Vererbung des Scheidungsrisikos, Zeitschrift für Soziologie 24, 1995, 215-228.
12 Rechtstheorie, Rn. 274 ff., 280.
13 Ulrich Kutschera/Karl J. Niklas, The Modern Theory of Biological Evolution: An Expanded Synthesis, Naturwissenschaften 2004, 91, 255–276, S. 263.[ http://www.evolutionsbiologen.de/niklas.pdf]

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Neue Online-Zeitschrift: Journal of Legal Analysis

Harvard University Press und das John M. Olin Center for Law, Economics, and Business an der Harvard Law School haben eine neue frei zugängliche Online-Zeitschrift mit dem Titel Journal of Legal Analysis gestartet. Sie ist zu erreichen unter http://jla.hup.harvard.edu. Natürlich wird das Allerbeste versprochen:

The Journal of Legal Analysis aspires to publish the best legal scholarship from all disciplinary perspectives and in all styles, whether verbal, formal, or empirical.

Die Zeitschrift wird von der Fakultät herausgegeben, die Artikel sollen vor der Annahme begutachtet werden. Es gibt keine kalendergesteuerten Publikationstermine. Die einzelnen Arbeiten sollen erscheinen, sobald sie druckreif sind. Allerdings sollen jährlich auch gedruckte und gebundene Ausgaben angeboten werden.
Gleich aus dem ersten Artikel [1]Adrian Vermeule, Many Mind Arguments in Legal Theory. habe ich mindestens einen neuen Begriff gelernt: many mind arguments. Der Begriff soll von Cass Sunstein erfunden worden sein und bezeichnet wohl alle Rechtsansichten, die von einem Kollektiv geäußert werden, also von Parlamenten, Gerichten und wohl auch von ganzen Rechtssystemen. Solche kollektiven Rechtsmeinungen sollen von höherer Qualität sein als individuelle Ansichten. Vermeule liegt wohl richtig, wenn er sich damit kritisch auseinandersetzt.
Ich will die neue Publikation beobachten und nehme sie dazu in die Linkliste für die Allgemeine Rechtslehre auf.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Adrian Vermeule, Many Mind Arguments in Legal Theory.

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Siems über Zitiermuster in englischen und deutschen Gerichtsentscheidungen

Die Digitalisierung verändert Recht und Rechtswissenschaft. Aber zunächst bietet sie neue Forschungsmöglichkeiten, u. a., indem sie es gestattet, mit vertretbarem Aufwand Zitiermuster (citation patterns) nachzuweisen. Von dieser Möglichkeit hat Matthias M. Siems Gebrauch gemacht: Citation Patterns of the German Federal Supreme Court and the Court of Appeal of England and Wales (24. Januar 2009). Seine Untersuchung ist bei SSRN verfügbar: http://ssrn.com/abstract=1305185. Hier das Abstract:

This paper presents citation statistics on decisions of the Court of Appeal of England and Wales (CA) and the German Federal Supreme Court (Bundesgerichtshof, BGH) for the last 55 years. This data is used in order to identify whether the citation patterns of the CA and the BGH reflect the conventional comparative perceptions about the English and German legal system. For instance, it is addressed how often the CA and the BGH cite the highest national and European courts and higher foreign courts from different legal families. The paper also examines the cross-citations between the highest courts of the United Kingdom (House of Lords, Court of Appeal of England and Wales, Court of Appeal in Northern Ireland, Court of Session and the High Court of Justiciary).

Man erfährt u. a., dass der BGH mit 7,96 Zitaten sogar geringfügig mehr Präjudizien anführt als der Court of Appeal (7,26). Besonders interessant, wie die beiden Gerichte sich auf den EUGH und den EGMR berufen und in welchem Umfang sie ausländische Obergerichte zitieren.

Nachtrag: Jetzt neu von Mathias Siems: A Network Analysis of Judicial Cross-Citations in Europe, Law & Social Inquiry 48, 2023, 881–905.

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Die Bilder der heimlichen Juristenzeitung

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) ist die heimliche Juristenzeitung. Seit eh und je gibt es mittwochs die Seite »Recht und Steuern«. Ziemlich neu ist die wöchentliche Seite »Staat und Recht«. Dafür verantwortlich ist Reinhard Müller. Auch sonst schreibt er über »alles, was Recht ist«. Die Seite »Die Gegenwart« bot am 8. 9. 2008 einen großen Aufsatz von Roman Herzog und Lüder Gerken über Kompetenzanmaßungen des EUGH, der eine rege Diskussion auslöste. Selbstverständlich, dass die Zeitung über wichtige rechtspolitische Entwicklungen und bemerkenswerte Gerichtsverfahren schreibt. Die Artikel von Friedrich Karl Fromme zu staats- und verfassungsrechtlichen Themen sind in guter Erinnerung. Heute sorgen Alexandra Kemmerer und Melanie Amann für zuverlässige und interessante Berichte. Für den Wirtschaftsteil hat Frau Amann die Anwaltschaft im Blick. Über die Rechtswelt in den USA berichtet zitierwürdig Katja Gelinsky. Im letzten Jahr ist der »Rechtsstab« noch um Hendrik Wieduwilt erweitert worden, der sich der Zeitung dem Vernehmen nach als Blogger [1]Mit Juratexter.de, wo besseres Deutsch für Juristen propagiert wurde. Die Seite wird nicht mehr gepflegt. Wieduwilt bloggt jetzt mit RechtReal über virtuelle Welten und Recht. empfohlen hatte. Auch die alte Tradition, über völkerrechtliche Fragen zu informieren, wird fortgeführt. Am 7. 1. gab es – zwar aus aktuellem Anlass, aber doch ganz abstrakt gehalten – gleich zwei Artikel zum Kriegsvölkerrecht [2]Thomas Speckmann, Sie mögen uns Rebellen nennen, und Reinhard Müller, Totaler Krieg verboten.. Früher war es vor allem Gerd Roellecke, der rechtsphilosophische Themen behandelte. Ihn hat mehr und mehr Michael Pawlik abgelöst. [3]Pawlik listet auf seiner Webseite 110 Rezensionen rechtsphilosophischer Bücher für die FAZ (seit 1991). Die Startseite seiner Internetpräsenz ziert Pawlik mit dem Titelkupfer des Leviathan. Ganze Debatten zwischen Richtern und Professoren werden in der FAZ ausgetragen. [4]An die Kontroverse zwischen Hirsch einerseits und Möllers und Rüthers andererseits knüpft Dieter Simon mit einem Vortrag an, den er am 3. 11. 2008 für den Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit … Continue reading
Es liegt beinahe in der Natur der Sache, dass eine anspruchsvolle Zeitung umfangreich über Themen berichtet, die im Fach unter »Law & Society« laufen. Miloš Vec sorgt dafür, dass Rechtssoziologie und Rechtsgeschichte gut vertreten sind. Der interdisziplinär orientierte Jurist findet in den Artikeln von Jürgen Kaube (der meine Skepsis gegenüber dem kulturwissenschaftlichen Staubsauger teilt) Information und Anregung. Über »Law and Economy« erfährt man, vor allem in den Buchbesprechungen des Wirtschaftsteils am Montag, allerhand. Am 5. 1. wurde Richard A. Posner von Patrick Bahners als »Sozialdarwinist auf der Richterbank« vorgestellt, und am 6. 1. erfuhr man aus der Feder von Hendrik Wieduwilt, dass sich die Rechtswissenschaft der Verhaltensforschung öffnet.
Für das Projekt »Recht anschaulich« verfolge ich am Rande auch, wie die Presse juristische Themen illustriert. Daraus war für die Münchener Rechtsvisualisierungstagung ein Diskussionsbeitrag über die »Ästhetisierung der Sachinformation« entstanden. Für das Blog ist er zu lang. Deshalb steht er hier zum Download zur Verfügung.
Hier folgt dazu noch ein Nachtrag: Am 5. 1. druckte die Zeitung in der Rubrik »Neue Sachbücher« unter dem Titel »Bloße Begriffsanalyse ist ausgereizt« eine Rezension von Michael Pawlik zu Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008.
Die Rezension wird, für die Illustrationspraxis der FAZ eher ungewöhnlich, durch ein vermutlich billiges Agenturfoto angereichert, und zwar durch das Foto eines Doppelknotens aus dickem Tau, der auf einem hellen Bouclé-Teppichboden plaziert ist.
faz-knoten
Die Legende lautet: »Hält der Knoten, den die Rechtsphilosophie bindet?« Die Knotenmetapher könnte eigentlich ganz gut zu dem rechtsphilosophischen Thema passen. In der Interpretation durch die Legende beißt sie sich aber mit der Überschrift.
Die Illustration bleibt mit ihrer Qualität hinter dem sonst in der FAZ anzutreffenden Niveau zurück. Das Bild macht den Eindruck eines Amateurfotos. Als Bildquelle wird »BilderBox.com« angegeben. Dabei handelt es sich um eine Agentur aus Österreich. Die Bildagentur nennt zu dem Bild folgende Stichworte:

assisted suicide, aufhaengen, aufhängen, death penalty, Dinge, Example, hang, hangman, Henker, Henkerknoten, henkerschlinge, Henkerseil, Illustration, knod, Mord, murder, rope, Selbstmord, Strick, Suizid, Symbol, symbol image, symbol-image, symbol-photo, Symbolaufnahme, Symbolaufnahmen, Symbolbild, Symbolbilder, Symbole, Symbolen, Symbolfotos, symbolically, symbolisch, Symbolischen, symbolphoto, symbols, thread, Todesstrafe

So also werden Bilder verschlagwortet. Die Webseite fordert damit zu einer rechtsoziologischen Inhaltsanalyse heraus. Hier kann man sehen, welche Bilder und welche Wortwolken juristische Laien mit Rechtsbegriffen verbinden. Das Suchwort »Gericht« zeigt unter den 573 Treffern zuerst »Junge Frau mit Salat« an. Davon darf man sich nicht irritieren lassen. Aber bemerkenswert ist es doch, wenn die ersten zehn von insgesamt 27 Bildern, die auf das Suchwort »Richter« antworten, amerikanische Symbole nutzen, und zwar die ersten eine gavel über Euroscheinen (Legende: Eurogeldscheine und Richter-/ Auktionshammer) und die folgenden sieben eine grüne Spritze in Variationen mit oder ohne Union Jack (Legende: Giftspritze – lethal injection).

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Mit Juratexter.de, wo besseres Deutsch für Juristen propagiert wurde. Die Seite wird nicht mehr gepflegt. Wieduwilt bloggt jetzt mit RechtReal über virtuelle Welten und Recht.
2 Thomas Speckmann, Sie mögen uns Rebellen nennen, und Reinhard Müller, Totaler Krieg verboten.
3 Pawlik listet auf seiner Webseite 110 Rezensionen rechtsphilosophischer Bücher für die FAZ (seit 1991). Die Startseite seiner Internetpräsenz ziert Pawlik mit dem Titelkupfer des Leviathan.
4 An die Kontroverse zwischen Hirsch einerseits und Möllers und Rüthers andererseits knüpft Dieter Simon mit einem Vortrag an, den er am 3. 11. 2008 für den Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit gehalten hat (Vom Rechtsstaat in den Richterstaat?, verfügbar auf der Webseite des BAR. Simon flüchtet sich, wie es heute üblich ist, in Paradoxievorstellungen, und plädiert am Ende für bessere Bezahlung, Fortbildung und mehr Respekt für die Richter.

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