Eine Anthropologie für den Natural Turn

Der Natural Turn muss eine Anthropologie zugrunde legen. Aber welche? Meine Wahl fällt, wie bereits angekündigt, auf die Sozialanthropologie des Strafrechtlers und Kriminologen Hellmuth Mayer. Sie findet sich ausführlich in seiner letzten Veröffentlichung, einem Buch mit dem Titel »Die gesellige Natur des Menschen. Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht«, 1977. Kompakter und eindrucksvoller hatte Mayer seine Vorstellungen schon 1962 in dem Band »Strafrechtsreform für heute und morgen« formuliert als »anthropologische Grundlage« für das »Programm einer neuen Kriminologie« formuliert (dort S. 6-18). Nach dem Datum scheint Mayers Anthropologie hoffnungslos veraltet zu sein. In ihren Sachaussagen war sie umsichtiger und moderner die Soziologie ihrer Zeit und in ihrem Kern bleibt sie als eine geglückte Überwindung des Gegensatzes von Naturalismus und Sozialkonstruktivismus[1] aktuell. In den Literaturlisten etwa von Andrea Behrends oder Ulrich Bröckling finde ich nichts Besseres.

Mayer sah in einer hinreichenden Klärung der anthropologischen Voraussetzungen die Basis der Kriminologie. Die anthropologische Frage sei »zuerst von Lombroso aufgeworfen worden. Die Forschung hat mit Recht die von Lombroso angebotene Lösung verworfen, leider aber das Sachproblem liegen lassen. Weder die gründlichste Negation noch die bequeme Auskunft der üblichen Anlage-Umwelt-Theorie geben eine positive Antwort … .«. Mayer suchte die Antwort in einer »vergleichenden Verhaltenslehre«, welche »die naturwissenschaftlich erfaßbare Basis des Menschen als kausalmechanische Regelstruktur« begreift. Biologische und psychologische Verhaltensbeobachtung reiche indessen nicht aus. Ein »Gesamtbild menschlichen Verhaltens« lasse sich erst mit Hilfe der »Sozialhistorie [zeichnen], welche sechs Jahrtausende mit hinreichender Sicherheit überschauen kann. … Beide Betrachtungsweisen, sowohl die der naturwissenschaftlichen Verhaltensforschung als auch die der geisteswissenschaftlich-historischen Empirie, sind klar zu unterscheiden und dann zu verbinden.«

Mayers Texte lesen sich wie die Vorwegnahme einer Auseinandersetzung mit Steven Pinkers »Blank Slate«[2]. Zwar wendet sich auch Mayer gegen die Vorstellung des Menschen als tabula rasa. Allerdings fehlt Pinkers Polemik. Vor allem aber ist Mayer weit entfernt von dessen mechanistischen Vorstellungen über die Rolle der Gene bei der Bestimmung menschlichen Verhaltens. Von biologischem Determinismus kann bei ihm keine Rede sein. Stattdessen öffnet er eine langfristige sozialhistorische Perspektive auf die Pfadabhängigkeit des Verhaltens in den Lebensbereichen, für die Soziobiologie und evolutionäre Psychologie Natürlichkeit in Anspruch nehmen, also für Geschlechterbeziehungen und Sexualität, Verwandtschaft, Gruppenbildung, Territorialverhalten, Aggression, Gewalt und Kriminalität.

Auf das Buch von 1977 werde ich später eingehen. Einen Eindruck von Mayers Sozialanthropologie sollen zunächst Zitate aus »Strafrechtsreform für heute und morgen« verschaffen:

»[S. 6] Die Anthropologie ist in diesem Sinn ebensowohl eine naturwissenschaftliche wie geisteswissenschaftliche Disziplin. …

Der Mensch muß … zuerst einmal als bloßes Naturwesen, [S. 7]d. h. als Tier innerhalb der Tierreihe … gedacht werden. … Diese – in ihrem Bereich – wohlberechtigte zoologische Betrachtung des Menschen erbringt einen äußerst wichtigen negativen Ertrag, indem sie den Begriff des [schöpferisch gedachten] Instinktes entthront. … Es gibt in Wahrheit nur eine große Anzahl relativ stereotyper Automatismen oder Triebreaktionen, die im Effekt ganz bestimmte Zwecke bzw. Teilzwecke erreichen, ohne sie jedoch final anzustreben. Diese Automatismen werden ihrerseits bereitgestellt innerhalb eines bestimmten Appetenzverhaltens, in das sie eingeordnet sind, das aber selber keine bestimmten Handlungen vorschreibt. Diese Automatismen, d. h. dem Appetenzverhalten zugeordneten Endinstinkte sind festgelegte Schemata, die durch bestimmte Signalreize ausgelöst werden, so daß bestimmt festgelegte Handlungen oder Handlungsketten ausgeführt werden. … Dieser Handlungsplan ist starr und von sich aus keiner anpassenden Wahl fähig, er schreibt in bestimmten Reizsituationen auf bestimmte äußere Signale hin ein inhaltlich bestimmtes Verhalten vor.

… Mit dieser Instinktstruktur ist ein vielfaches Fehlverhalten unvermeidlich verbunden. Die Signalsituation garantiert nämlich im Einzelfall nicht, daß die gemeinte reale Situation vorliegt. …[S. 8] Die Art überlebt nur deshalb, weil die Instinktstruktur auf die gewöhnliche ökologische Umwelt eingestellt ist, in welcher die Signalsituationen hinreichend häufig mit der real intendierten Situation übereinstimmen. In diese ökologische Umwelt ist das Tier gewissermaßen eingesperrt. Ist die Diskrepanz zwischen der Instinktstruktur und der Variabilität der Umwelt groß, so kann die Art nur durch eine sehr große Fortpflanzungsrate erhalten werden.

Im Sinn der vergleichenden Verhaltenslehre besteht die besondere biologische Situation des Menschen darin, daß Triebe und Schemata bei ihm bis auf Restbestände abgebaut sind, daß er also ohne einen festgelegten biologischen Handlungsplan zur Welt kommt.

… Der Mensch ist damit offen für jede denkbare Umwelt, soweit er sie physiologisch meistern kann. Er ist befreit von der Starrheit der Triebe und Schemata. Garantieren bereits beim Tier die Auslösesignale der Schemata nur in einer hinreichenden Zahl von Fällen, daß die real gemeinte Situation auch wirklich vorhanden ist, so würde der Mechanismus der Triebe und Schemata den heutigen Menschen unfähig machen, seine ständig wechselnden und höchst komplizierten Lebensaufgaben zu erfüllen. Diesen Aufgaben vermag er nur durch Lern- und Wahlhandlungen zu genügen.

… In bezug auf das abnorme Verhalten ist für die Situation des Menschen wesentlich, daß er aus seinem phylogenetischen Instinktgefüge, aus seiner Natur, [S. 9] herausgetreten ist, indem er sich durch die Erfindung künstlicher Waffen aus einem Pflanzenfresser zu einem Raubtier umgeschaffen hat. Es fehlt ihm also nach seiner Herkunft das für das Sozialverhalten der Raubtiere wichtigste Schema, nämlich das zwingende Demutschema, welches die Raubtiere nötigt, die Tötung des Artgenossen zu vermeiden. Nur die Raubtiere nämlich unterlassen die Tötung der Artgenossen mit Sicherheit, aber nicht etwa vermöge eines wählenden Instinktes, sondern kraft eines angeborenen Handlungsschemas, welches durch das Signal der Demuthaltung ausgelöst wird. Nimmt der unterlegene Wolf diese Haltung an, bietet er wehrlos den Hals dem tödlichen Biß dar, so kann der Sieger nicht zubeißen, sondern reagiert seine Wut durch Schüttelbewegungen in die Luft ab. Verläßt aber das unterlegene Tier die Schutzhaltung zu früh, so wird es totgebissen. Übrigens verhalten sich die Pflanzenfresser in der Frage der Tötung der Artgenossen nicht völlig einheitlich. Stärker bewaffnete Säugetiere führen untereinander im allgemeinen nur Kommentkämpfe durch, bei manchen Pflanzenfressern ist aber die wechselseitige Tötung der männlichen Tiere untereinander im Plan der Natur vorgesehen, wobei denn nur das überlebende stärkste Tier zur Fortpflanzung gelangt. … Die in der ganzen zivilisierten Menschheit heute anerkannte Moral der allgemeinen Humanität reicht weit über alle natürlichen Möglichkeiten des Zusammenlebens einer Tierart hinaus.

Es beruht also gerade die Möglichkeit des höheren menschlichen Lebens darauf, daß der Abbau der Instinkte und Triebe ihn von einem biologisch festgelegten sozialen Handlungsplan befreit. Mit dieser Erkenntnis ist die rein naturwissenschaftliche Anthropologie am Ende ihres Weges angelangt.

Erst das eigentlich Menschliche des Menschen, seine geistig-psychische Struktur befähigt ihn zur Lösung der sozialen Aufgaben, [S. 10] die außer dem Menschen kein anderes Lebewesen sich stellt. Sicherlich wurzelt dieses Humanum in biologischen Tiefenschichten, ohne daß es aber aus diesen abgeleitet werden könnte, da es etwas schlechthin Neues darstellt. Dieses Neue ist das »Ich«, die sich selbst gestaltende bewußte Persönlichkeit, die ihre geistigen Inhalte entnimmt aus den im sozialen Leben vorhandenen objektiven geistigen Gehalten, oder doch in Verbindung mit diesen schafft oder umgestaltet. Subjektiver und objektiver Geist sind nur der »geschichtlichen« Betrachtung, nicht dem naturwissenschaftlichen Denken erreichbar, sind aber nicht minder real als die Gegenstände der Naturwissenschaft.

[Der Mensch] ist zwar keiner Wachstafel zu vergleichen, in welche man alles eintragen könnte, wie das 18. Jahrhundert gelegentlich wähnte. … Aber keine Persönlichkeitsstruktur weist an sich auf bestimmte soziale Inhalte hin. Die allgemein verbreitete Vorstellung, daß das Verbrechen aus dem Zusammenwirken von Anlage und Umwelt zustande komme, ist deshalb schief, weil sie den Irrtum nahelegt, als sei der Mensch vermöge seiner Anlage überhaupt auf irgendeinen bestimmten sozialen Weg gewiesen, der dann nachträglich und von außen her von der Umwelt irgendwie beeinflußt oder abgelenkt werden könnte. In Wahrheit empfängt der Mensch alle seine sozialen Handlungsantriebe, sozialen Handlungsvorstellungen und sozialen Wertvorstellungen erst aus dem verstehenden Zusammenleben mit anderen. …

[S. 12] Grundsätzlich muß zuletzt betont werden, daß beim Menschen alle Triebe und Schemata, alle geistig-seelischen Strebungen den Weg durch das bildende Bewußtsein nehmen. Dieses bildende Bewußtsein ist eingebettet in den objektiven Geist, d. h. in die verstehende Gemeinschaft der Menschen. Die Frage, wie das Wunder des normalen sozialen Zusammenlebens zustande kommt, ist daher erst von der Soziologie zu beantworten.

Die Antwort auf die so gestellte Frage lautet: Der Mensch kommt zu planvollem Handeln dadurch, daß er als geistiges Sozialwesen dazu veranlagt ist, das in einer historischen Gemeinschaft herrschende Gemeinschaftsurteil sich anzueignen, welches in der normalen Reizsituation für den Einzelnen denkt und durch den Einzelnen hindurch handelt. Kein Mensch produziert die Masse seiner Denk- und Handlungsinhalte selbst, kein Einzelner vermöchte jemals den Weg von der Einzelerfahrung bis zum sinnvollen Handeln für sich allein zurückzulegen. Gewöhnlich wendet man nur die Sozialvorstellungen der Allgemeinheit auf den Einzelfall an.«

Soweit die Zitate (kursiv wie im Original). Es lohnt sich, die S. 6- 18  in Mayers »Strafrechtsreform für  heute und morgen« vollständig nachzulesen. So gewinnt man nicht zuletzt auch einen Eindruck von dem lebendigen Schreibstil des Autors.

[Fortsetzung folgt.]


[1] Wer eine aktuellere Darstellung dieses Ggensatzes und der Möglichkeiten einer Überbrückung sucht, sei auf den schönen Aufsatz von Sebastian Schüler, Zwischen Naturalismus und Sozialkonstruktivismus: Kognitive, körperliche, emotionale und soziale Dimensionen von Religion, Zeitschrift für Religionswissenschaft. 2014. S. 5-36, verwiesen.

[2] Steven Pinker, The Blank Slate. The Modern Denial of Human Nature, New York, NY 2002/2016 (Das unbeschriebene Blatt. Die moderne Leugnung der menschlichen Natur, 2003/2017); Kurzfassung: Pinker, The Blank Slate, The General Psychologist 41, 2006, 1-8.

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Mangolds Kritik des Natürlichkeits- und Normalitätsarguments

Als ich die Reihe zum Natural Turn begann, war die Habilitationsschrift von Anna Katharina Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht[1], noch nicht verfügbar. Ihre Kritik des Natürlichkeits- und Normalitätsarguments will ich hier nachtragen:

»Rechtliche Regelungen und Praktiken wirken in erheblichem Maße an der Etablierung und Aufrechterhaltung von Kategorisierungen mit, was freilich invisibilisiert wird, indem die Natürlichkeit und Vorgängigkeit der kategorisierenden Unterscheidungen behauptet wird. In einem argumentativen Dreischritt werden diese kategorisierenden Unterscheidungen zwischen Menschen als ›natürlich‹ und ›normal‹ zugrunde gelegt, zu denen sich das Recht ganz ›neutral‹ verhalte. Das Argument der Natürlichkeit einer Unterscheidung zwischen Personengruppen besagt, dass diese vorfindlich sei, unbeeinflussbar von der Natur vorgegeben werde – etwa jene zwischen Schwarzen und Weißen, Männern und Frauen, Menschen mit und ohne Behinderung. Diese Natürlichkeitsbehauptung wird flankiert von einer Normalitätsbehauptung, dass die Unterscheidung schon immer allgemein akzeptiert und praktiziert worden sei, sie mithin ganz ›normal‹ sei. … Das Recht schließlich, so der letzte Schritt des Argumentationsgangs, sei völlig neutral in der Frage der Kategorisierung, es setze die ›natürliche‹ und ›normale‹ Unterscheidung und unterschiedliche Behandlung also selbst lediglich voraus und reagiere bloß auf diese.«[2]

Es ist vollkommen richtig, dass Natürlichkeits- und Normalitätsargumente über lange Zeit diskriminierend gewirkt haben und noch wirken. Richtig ist auch, dass das Recht darauf hereingefallen ist und die Diskriminierung als Neutralität legitimiert hat. Damit sind diese Argumente zwar »belastet«, aber als solche noch nicht obsolet. Meine Kritik der Kritik gilt dem konstruktivistischen Kulturalismus, dem auch Mangold huldigt, wenn sie schlechthin eine ontologische Basis von Kategorien verneint und diese zu sozialen Konstruktionen erklärt (S. 313ff). So wie Texte als gedruckte oder digitalisierte eine ontologische Qualität haben, haben auch Menschen als Kinder und Erwachsene, als Frauen und Männer, als Schwarze und Weiße, als Behinderte und Nicht-Behinderte objektive Eigenschaften. Aktuell diskutiert man etwa die unterschiedliche Krankheitsanfälligkeit von Männern und Frauen und ihre Reaktion auf Medikamente. Nur wenige natürliche Eigenschaften sind als solche sozial unmittelbar relevant wie das Alter oder die Gebärfähigkeit von Frauen. Es kommt alles darauf an, wie diese Eigenschaften im sozialen Umgang bewertet werden. Wer ihre ontologische Qualität verneint, wird nie zu den psychischen Mechanismen vordringen, die eine primäre Ursache von Diskriminierungen bilden und die es sozial zu beherrschen gilt. Dazu gehören nicht zuletzt die Fehldeutungen, die mit der Augenfälligkeit einiger natürlicher Eigenschaften verbunden sind.

Analoges gilt vom Normalitätsargument, wenn man sich Normalität mit Mangold (S. 314) von vornherein nur als normatives Phänomen vorstellen kann. Dann verkennt man die »normative Kraft des Faktischen«, der es beizukommen gilt, um die fraglos gegebene Diskriminierungswirkung von Normalität zu bekämpfen. Dann verkennt man ferner, dass Diskriminierung »normalerweise« Minderheiten trifft, die als solche keine politischen Mehrheiten bilden können.[3] Damit verkennt man auch, dass die Diskriminierung von Frauen auf einem anderen Blatt steht als etwa die Diskriminierung von Behinderten. Was sich seit einigen Jahrzehnten auf dem Gebiet der Frauengleichstellung ereignet, lässt sich nur mit dem Kampf und den Erfolgen der Arbeiterbewegung vergleichen.

Die aktuelle Literatur, die sich dem Kampf gegen soziale Diskriminierung widmet, erweckt gelegentlich den Eindruck, als führe der Weg zu einer diskriminierungsfreien Gesellschaft zurück zur Natur ins Paradies der Gleichheit. Genau das Umgekehrte ist richtig. Die Menschen sind ungleich. Die Natur ist es, die, sich selbst überlassen, diskriminiert. Die Abwesenheit (bestimmter) Diskriminierungen ist ein unnatürlicher = zivilisatorischer Fortschritt. Die Schwelle zum Fortschritt ist der Entschluss, alle Menschen ohne Rücksicht auf ihre natürliche Ungleichheit in möglichst allen Dimensionen sozialen Lebens als gleich zu behandeln. Die Ironie der Geschichte: Der Fortschritt kam mit einem Natürlichkeitsargument, beginnt doch die Virginia Declaration of Rights von 1776:

That all men are by nature equally free and independent ….


[1] Anna Katharina Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht. Antidiskriminierungsrecht als Ermöglichungsbedingung der demokratischen Begegnung von Freien und Gleichen, Tübingen 2021. Mangold bietet eine profunde und gut lesbare dogmatische Aufarbeitung des Antidiskriminierungsrechts, die eine ausführliche Besprechung verdient. Dazu sind andere berufen.

[2] S. 6f.

[3] Mangold nimmt (S. 79ff) den völkerechtlichen Minderheitenschutz in den Blick. Sie weist darauf hin, dass der Minderheitenbegriff insofern ungeklärt sei, als persönliche Merkmale betroffen sind. Dass Diskriminierung generell als Minderheitenproblem betrachtet werden könnte, kommt dabei nicht in den Blick.

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Bandwagon oder Underdog?

Die Wahlumfragen zur anstehenden Bundestagswahl erinnern mich daran, dass ich mich vor vielen Jahren einmal mit der Eigendynamik soziologischer Aussagen befasst habe. Von daher hatte ich den Bandwagon-Effekt, also den Mitläufer-Effekt, und den Underdog-Effekt, also den Mitleidseffekt, in Erinnerung. Anscheinend ist die Wirkung von Umfragen auf die Wahlentscheidung nicht leicht zu erforschen. Das Beste und Aktuellste, was ich dazu gefunden habe, ist eine Abhandlung von Ursula Alexandra Ohliger und Veronika Ohliger, Der gläserne Wähler? Die Ambivalenz politischer Meinungsforschung in der Mediendemokratie, in: Ursula Münch/Andreas Kalina, Demokratie im 21. Jahrhundert, 2020, S. 202-228. Danach vermutet man wohl allgemein bei anderen eine stärkere Wirkung von Wahlumfragen als bei sich selbst. Aber wenn die Wirkung auch nur im einstelligen Prozentbereich liegt, könnte sie doch wahlentscheidend sein. Mein Wahltipp: der Underdog-Effekt wird der CDU etwas aus dem Umfragetief helfen.

Meinen alten Text zur Eigendynamik soziologischer Aussagen stelle ich hier schon einmal ins Netz, denn ich werden mich darauf in einer Stellungnahme zur Interdisziplinarität der Rechtswissenschaft wohl bald noch einmal darauf beziehen.

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Zurück zum Natural Turn, heute mit Patrick Bernau, Die Macht der Gene

Nach einer Sommerpause ist Rsozblog noch nicht wieder in Schwung. Daher verweise ich auf einen Artikel von Patrick Bernau in der FamS von heute (29. 8. 2021), den ich gerne selbst geschrieben hätte, nachdem ich schon vor vier Jahren auf einen Genetic Turn hingewiesen hatte: Die Macht der Gene. Das Erbgut beeinflusst Bildung und Vermögen. Was heißt das für die soziale Gerechtigkeit? Ich hoffe, dass der Artikel im Netz frei zugänglich ist. Ich nehme mir heraus, hier jedenfalls seine Literaturhinweise zu kopieren:

Kathryn Paige Harden: The Genetic Lottery. Why DNA Matters for Social Equality. Princeton University Press, erscheint im September 2021.
Robert Plomin: Blueprint. How DNA Makes Us Who We Are. MIT Press, November 2018
Armin Falk, Fabian Kosse, Pia Pinger, Hannah Schildberg-Hörisch und Thomas Deckers: Socio-Economic Status and Inequalities in Children’s IQ and Economic Preferences. Journal of Political Economy, September 2021, DOI 10.1086/714992.

Heute nur noch folgende Anmerkung: Wenn man Gene und die soziale Gerechtigkeit zusammenbringen will, wird man früher oder später von Gengerechtigkeit reden. Dazu drängen sich zwei Stichworte auf, die bereits Thema auf Rsozblog waren: Körperkapital und Lookismus.

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Klimaskepsis 3.0: Vor uns oder nach uns die Sintflut?

Unmittelbar auf den Eintrag vom 14. 7. zur Klimaskepsis 3.0 ereigneten sich die Überflutungen in verschiedenen Bundesländern. War das schon die Sintflut? In der FAZ fand sich gestern ein Artikel über »Vergessenes Extremwetter«, der eine umwelthistorische Perspektive einforderte. Die Perspektive reichte allerdings nur bis in Mittelalter zurück. Man sollte wieder die Bibel lesen (1. Mose 7,18-23):

Und der HERR sprach zu Noah: Geh in die Arche, du und dein ganzes Haus; denn dich habe ich gerecht erfunden vor mir zu dieser Zeit.

Von allen reinen Tieren nimm zu dir je sieben, das Männchen und sein Weibchen, von den unreinen Tieren aber je ein Paar, das Männchen und sein Weibchen.

Desgleichen von den Vögeln unter dem Himmel je sieben, das Männchen und sein Weibchen, um das Leben zu erhalten auf dem ganzen Erdboden.

Denn von heute an in sieben Tagen will ich regnen lassen auf Erden vierzig Tage und vierzig Nächte und vertilgen von dem Erdboden alles Lebendige, das ich gemacht habe.

Und Noah tat alles, was ihm der HERR gebot.

Er war aber sechshundert Jahre alt, als die Sintflut auf Erden kam.

Und er ging in die Arche mit seinen Söhnen, seiner Frau und den Frauen seiner Söhne vor den Wassern der Sintflut.

Von den reinen Tieren und von den unreinen, von den Vögeln und von allem Gewürm auf Erden gingen sie zu ihm in die Arche paarweise, je ein Männchen und Weibchen, wie ihm Gott geboten hatte.

Und als die sieben Tage vergangen waren, kamen die Wasser der Sintflut auf Erden.

In dem sechshundertsten Lebensjahr Noahs am siebzehnten Tag des zweiten Monats, an diesem Tag brachen alle Brunnen der großen Tiefe auf und taten sich die Fenster des Himmels auf, und ein Regen kam auf Erden vierzig Tage und vierzig Nächte.

An eben diesem Tage ging Noah in die Arche mit Sem, Ham und Jafet, seinen Söhnen, und mit seiner Frau und den drei Frauen seiner Söhne;

dazu alles wilde Getier nach seiner Art, alles Vieh nach seiner Art, alles Gewürm, das auf Erden kriecht, nach seiner Art und alle Vögel nach ihrer Art, alles, was fliegen konnte, alles, was Fittiche hatte;

das ging alles zu Noah in die Arche paarweise, von allem Fleisch, darin Odem des Lebens war.

Und das waren Männchen und Weibchen von allem Fleisch, und sie gingen hinein, wie denn Gott ihm geboten hatte. Und der HERR schloss hinter ihm zu.

Und die Sintflut war vierzig Tage auf Erden, und die Wasser wuchsen und hoben die Arche auf und trugen sie empor über die Erde.

Und die Wasser nahmen überhand und wuchsen sehr auf Erden, und die Arche fuhr auf den Wassern.

Und die Wasser nahmen überhand und wuchsen so sehr auf Erden, dass alle hohen Berge unter dem ganzen Himmel bedeckt wurden.

Fünfzehn Ellen hoch gingen die Wasser über die Berge, sodass sie ganz bedeckt wurden.

Da ging alles Fleisch unter, das sich auf Erden regte, an Vögeln, an Vieh, an wildem Getier und an allem, was da wimmelte auf Erden, und alle Menschen.

Alles, was Odem des Lebens hatte auf dem Trockenen, das starb.

So wurde vertilgt alles, was auf dem Erdboden war, vom Menschen an bis hin zum Vieh und zum Gewürm und zu den Vögeln unter dem Himmel; das wurde alles von der Erde vertilgt. Allein Noah blieb übrig und was mit ihm in der Arche war.

Man kann den alttestamentliche Sintflutbericht nicht als mythologisches Narrativ abtun. Es gibt eine ganze Reihe altorientalischer Fluterzählungen, so dass die Sintflut einen historischen Kern haben dürfte.[1] Man wird die Flutkatastrophen der Gegenwart allerdings nicht mehr als göttliche Strafe für die Boshaftigkeit der Menschen interpretieren. Nunmehr schreiben wir uns selbst die Schuld für den Klimawandel zu. Rettung erwarten wir nicht von göttlicher Gnade, sondern von eigener Anstrengung.

Zu der Frage, ob das Kohlendioxidregime eine Chance hat, lese man Gabor Steingarts Morning Briefing 21. 7. 2021. Dort werden plakativ »fünf Irrtümer der Klimapolitik« benannt. Der wichtigste Irrtum lautet wohl: Nicht die Verbraucher und andere Emittenten entscheiden über die Klimafreundlichkeit der Welt. Die Angebotsseite wird ignoriert:

»Öl-Multis wie Saudi Aramco und National Iranian Oil Co., Gasimperien wie Gazprom und die hinter diesen Konzernen stehenden Staaten Saudi-Arabien, die Islamische Republik Iran und Putins Russland denken nicht daran, die ihnen gehörenden fossilen Bodenschätze zu versiegeln und ihre Geschäftsmodelle einzustampfen.«

(Nachtrag:) Am 23. 7. ergänzt Steingart mit folgender Meldung:

In den fünf Jahren zwischen 2015 und 2020 addieren sich allein die Zahlungen der G20-Regierungen, wozu Deutschland, die USA, China, und Russland gehören, für die direkte und indirekte Unterstützung von Kohle, Gas und Öl auf 3,3 Billionen US-Dollar.

Die Größenordnungen und die Akteure, um die es geht, sind so gewaltig, dass jede individuelle Anstrengung lächerlich wirkt. Zwar liest man bei Steingart am Ende, man dürfe bei aller Skepsis nicht den Schluss ziehen, auf einen aktiven Klimaschutz zu verzichten. Aber so richtig überzeugt das nicht mehr.

Trotzdem: Es kann nun nicht heißen: Nach uns die Sintflut. Die Flut – als pars pro toto für alle Extremwetterereignisse – ist schon da, und wir müssen mit ihr leben.

Die Politik hat inzwischen auf Sintflut umgestellt. Sie verkündet jetzt ein Programm zum Bau von Archen, das heißt, für Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel mit seinen Wetterextremen. Der Bürger ist sich selbst der Nächste, d. h., er wird versuchen, sich und sein Hab und Gut möglichst vor den Unbilden des Klimawandels zu schützen. Er wird sein Haus wasser- und sturmfest herrichten und eine Klimaanlage einbauen. Das Solardach dient nicht mehr dem Klimaschutz, sondern – im Verein mit einer Batterie – der Autarkie im Falle des Zusammenbruchs der Stromversorgung. Zur Abrundung kommt dann noch eine Elementarschadenversicherung.

Ist es damit getan? Wohl kaum! Wenn Klimaskepsis 3.0 die individuellen Anstrengungen für das Kohlendioxidregime untergräbt, so bleibt und verstärkt sie doch den Imperativ eines nachhaltigen Umwelt- und Naturschutzes. So führt Klimaskepsis 3.0 zurück zum Natural Turn.


[1] Wikipedia-Artikel Sintflut.

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Zwischenruf: Erfolgsaussicht prägt die Bereitschaft zum Klimaschutz

Am Wochenende konnte man in vielen Zeitungen den gleichen oder ähnliche Artikel lesen: So kann jeder 600 Kilo CO2 sparen. (Ich hätte da noch einige Ratschläge, mit denen man wohl auch 1000 kg Einsparung erreichen könne, z. B. auf Mineralwasser und Hunde verzichten, Diesel-PKW fahren, solange an den Ladestationen Kohlestrom verzapft wird, usw.). Aber wie bewegt man die Menschen zu tun, was sinnvoll und vernünftig wäre (und vielleicht eines nahen Tages vorgeschrieben wird)?

»Soziale Normen prägen Bereitschaft zum Klimaschutz.«

Mit dieser Schlagzeile wird eine Studie Bonner Verhaltensökonomen[1] vorgestellt. In der Zusammenfassung liest man:

»Menschen tragen wenig zum Klimaschutz bei, weil sie die Bereitschaft anderer unterschätzen, ebenfalls ihren Beitrag zu leisten.«

In einem Befragungsexperiment will man herausgefunden haben, dass Informationen über die tatsächlichen gesellschaftlichen Normen und Verhaltensweisen die Spendenbereitschaft für Klimamaßnahmen erhöhen. Das glaube ich gerne. Man tut lieber und leichter, was auch andere tun. Darin zeigt sich die normative Kraft des Faktischen. (So hat selbst dieser Zwischenruf einen Bezug zum Normalitätsthema.) Viel interessanter ist die Frage, was die Menschen von persönlichen Anstrengungen zum Klimaschutz abhält. Darauf antworte ich mit einer These, die auch ohne große Befragungsexperimente plausibel ist:

Die Bereitschaft zu persönlichen Anstrengungen für den Klimaschutz hängt von den Vorstellungen über die Erfolgsaussicht des CO2-Regimes ab.

»Klimaleugner«, also Menschen, die das Phänomen des Klimawandels und seinen anthropogenen Ursprung bestreiten, sind auf dem Rückzug. Es wächst jedoch die Zahl der Skeptiker, die bezweifeln, dass ein weltweites CO2-Regime den Klimawandel begrenzen wird. Das ist Klimaskepsis 3.0.

Zu solchen Zweifeln gibt es in der Tat allerhand Anlass. Die Zweifel beginnen schon, wenn die Emissionsquellen quantifiziert und die Umweltkosten der verschiedenen Aktivitäten geschätzt werden, z. B. wenn das Umweltbundesamt und die von ihm bestellten Wissenschaftler die Umweltkosten der Kernkraft »mit den höchsten Umweltkosten, in diesem Fall also Braunkohle« bewerten.[2] Sie wachsen mit der Frage, an welcher Stelle sich die Reduzierung der klimaschädlichen Emissionen am effizientesten bewirken ließe. Sie kumulieren bei der Frage, wie mit rechtlichen Mitteln Staaten, Organisationen und Individuen veranlasst werden können, die notwendigen Maßnahmen zu befolgen.

Noch wächst weltweit der Verbrauch von Kohle, Erdöl und Erdgas. Einsparungen bei der für Heizung notwendigen Energie werden durch den Aufwand für Klimatisierung aufgezehrt. Der Wirtschaftsminister muss einräumen, dass der Strombedarf unterschätzt worden ist. Die erneuerbaren Energien reichen noch nicht annähernd aus. Das Speicherproblem ist nicht gelöst. Die Kippmomente in Arktis, Antarktis und den Permafrostgebieten Sibiriens sind anscheinend nicht mehr aufzuhalten. Die Politik setzt Ziele und Termine und hofft auf viele kleine technologische Lösungen oder den großen Durchbruch. Die von der Klimaforschung für 2020 markierten Meilensteine[3] wurden verfehlt.

Wenn überhaupt, werden sich die Ziele der Klimapolitik nicht ohne fühlbare Einschränkungen in mehr oder weniger allen Bereichen des Lebens erreichen lassen. Die Bürger müssen solche Einschränkungen nicht nur akzeptieren, sondern aktiv mitwirken. Die dafür erforderliche Motivation hängt davon ab, dass man von der Erfolgsaussicht des CO2-Regimes überzeugt ist.

Wenn sich die Zweifel am Kohlendioxidregime im Publikum verbreiten, dürften sie Fatalismus zur Folge haben: Es hilft doch alles nichts; der Klimawandel kommt, auch wenn ich mein Auto stehenlasse und Uniper die Braunkohlenkraftwerke abschaltet. Warum soll ich mich dann einschränken? Wenn der Verzicht rechtlich eingefordert wird, kann sich gar massiver Widerstand regen, so wie bei der an sich sinnvollen Erhöhung des Dieselpreises in Frankreich.

Die Energiewende ist das ehrgeizigste und teuerste Projekt deutscher und internationaler Politik. Die Gesamtkosten allein für Deutschland werden 1 Billion EUR erreichen. Die deutsche Politik ist dabei in einen europäischen Rechtsrahmen eingebunden. Der besteht in der Hauptsache aus dem europäischen Emissionshandel (ETS), der EU-Lastenteilungsentscheidung (Effort Sharing Decision, ESD) sowie den Richtlinien über CO2-Grenzwerte für PKW und Endtermine für die Zulassung von Verbrenner*innen, über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden oder die Ökodesign-Richtlinie für energieeffiziente Produkte.

Heute will die EU neue Klimapläne verkünden. Der CO2-Ausstoß soll bis 2030 im Vergleich zu 1990 um 55 % sinken.[4] Der zentrale Bausteine im nationalen deutschen Recht sind das Energieeinsparungsgesetz, das Gesetz für den Ausbau erneuerbarer Energien (EEG), das auf das Stromeinspeisungsgesetz von 1991 zurückgeht und jetzt als EEG 2017 gilt, sowie das Gesetz zur Förderung Erneuerbarer Energien im Wärmebereich (EEWärmeG). Deutsche und europäische Gesetze sind wiederum in einschlägiges Völkerrecht eingebettet. Es ergibt sich aus den Beschlüssen der Welt-Klimakonferenzen, die nach der Rahmenkonvention der Vereinten Nationen über Klimaänderungen stattgefunden haben, zuletzt in Paris 2015, in Marrakesch 2016 und in Kattowitz. Dieser Rechtskomplex hat nicht weniger Evaluationsaufwand verdient als seinerzeit die Hartz-Gesetze. Wo bleibt die Rechtswirksamkeitsforschung zum Klimaschutz? Mit der Beobachtung von Klimaklagen ist es nicht getan.

Die Rechtssoziologie verkümmert, weil sie auf die falschen Themen setzt. Das zentrale Thema der Rechtssoziologie ist Ungleichheit und Diskriminierung. Das zentrale Thema der Welt ist die Bewahrung einer lebenswerten Umwelt, die aktuell wohl am stärksten durch Klimawandel, Plastikverseuchung und durch bewaffnete Konflikte gefährdet ist. Zum zentralen Thema der Gesellschaft werden künstliche Intelligenz und der digitalisierte Datenraum. Sind die großen Themen zu groß für die Rechtssoziologie?

Die Rechtssoziologie hat die Forschung zur Wirksamkeit (nicht nur) der Regelung der Energiewende und damit des Klimaschutzes den Ökonomen überlassen, die die bisherigen Maßnahmen der Politik als ineffektiv und ineffizient eingestuft.[5]

Vielleicht ist die Sache für die Rechtssoziologie wirklich zu groß. Auf eine Diskussion über die Erfolgsaussicht des CO2-Regimes können Rechtssoziologen sich kaum einlassen. Sie könnten sich aber vielleicht mit der Erwartungsbildung des Publikums über diese Aussichten befassen. Die Erwartungen des Publikums bestimmen die Wirksamkeit von Rechtsvorschriften zum Klimaschutz und prägen darüber hinaus die überobligationsmäßigen Anstrengungen zur Stützung des CO2-Regimes. Mindestens könnten Rechtssoziologen unter dem Titel der Rechtswirkungsforschung relevante Fragen stellen. Oder sind solche Frage nicht opportun, weil Rechtswirkungsforschung die Unwirksamkeit des Kohlendioxidregimes als Möglichkeit in Betracht ziehen müsste?


[1] Peter Andre/Teodora Boneva/Felix Chopra/Armin Falk, Fighting Climate Change: the Role of Norms, Preferences, and Moral Values.

[2] Umweltbundesamt, Methodenkonvention 3.0 zur Ermittlung von Umweltkosten: Kostensätze, 2018, S. 18 mit Verweis auf Umweltbundesamt, Methodenkonvention 3.0 zur Ermittlung von Umweltkosten: Methodische Grundlagen, 2018, S. 26.

[3] Christiana Figueres u. a., Three Years to Safeguard our Climate, 2017

[4] Dazu der Bericht von Hendrik Kafsack in der FAZ vom 13. 7. 2021.

[5] Manuel Frondel, Ineffektiv und ineffizient. Eine Bilanz der deutschen Klimapolitik, 2017.

 

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Zweite Natur und Naturalisierung – Auf der Suche nach einer Anthropologie

Der Begriff der Naturalisierung deckt sich nur zum Teil mit dem der zweiten Natur. Er ist insofern enger, als er darauf abstellt, dass Teile der zweiten, der sozialen Natur des Menschen, den Anschein erwecken, als gehörten sie zur ersten Natur. Diese Bedeutung ist zunächst von Karl Marx und später vor allem durch Bourdieu geprägt worden. Bourdieu spricht auch von Hexis und meint damit, dass bestimmte biologisch kontingente Verhaltensweisen so fest eingeprägt sind, als seien sie angeboren. Solche Prägung hat zur Folge, dass die Verhaltensweise nur sehr schwer zu ändern ist. Sie hat unvermeidlich aber auch normative Konsequenzen, denn daran schließt die normative Kraft des Faktischen. Hier ist diese Kraft doppelt stark, denn sie knüpft nicht nur an Normalität, sondern auch an den Anschein der Natürlichkeit, mit dem sich die Vorstellung verbindet, dass das Natürliche auch das Richtige sei. Daher ist es verständlich, dass im sozialen Diskurs Behauptungen, dass bestimmte Verhaltensweisen natürlich seien und deshalb akzeptiert werden müssten als (falsche) Naturalisierung zurückgewiesen werden. Diese Zurückweisung ist weithin so rigoros, dass Natürlichkeitsargumente als schlechthin indiskutabel gelten. Das geht jedoch zu weit.

Der Mensch ist kein Stichling. Dennoch darf hier an die Diskussion erinnert werden, die vor bald einem Menschenalter der Ethologe Konrad Lorenz durch seine Forschungen (an Stichlingen) über angeborene Verhaltensweisen ausgelöst hat. Damals kam es darauf an zu akzeptieren, dass Menschen eben nicht durch angeborene Verhaltensweisen programmiert sind, sondern erst durch Kultur lebensfähig werden. Das musste vor allem die Kriminologie lernen. In den USA war sie schon länger zur Kriminalsoziologie geworden.[1] In Deutschland betrieb insbesondere Hellmuth Mayer (1896-1980)[2] die Ablösung von der Kriminalbiologie, sozusagen im Umkehrschluss zur Verhaltensforschung (Ethologie) von Tinbergen, Lorenz, Eibl-Eibesfeld und anderen, zusammenfassend in der Programmschrift »Strafrechtsreform für heute und morgen« von 1962. 15 Jahre später schrieb er noch eine »Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht«.[3] Dieses Buch ist nicht mehr rezipiert worden, wiewohl es in seinen Sachaussagen moderner und umsichtiger war als die Soziologie seiner Zeit. Ein Grund dafür sind wohl die zahlreichen »qualitativen« Beobachtungen, die sich zu einem Teil einer außerordentlichen historischen und literarischen Bildung und zum anderen Teil dem bewussten Erleben fast des ganzen 20. Jahrhunderts verdanken. Irritierend für viele Leser sind vermutlich viele Beispiele, die Mayer als Soldat und »teilnehmender Beobachter« während des ganzen Ersten und anfangs auch noch des Zweiten Weltkriegs festgehalten hat. Erstaunlich sind die ethnologischen Beobachtungen aus Afrika, die sich daraus erklären, dass eine Tochter Mayers mit einem Nigerianer verheiratet war und ein Jahrzehnt als Ärztin in Tansania verbracht hatte.

1965 war ich als junger Richter für ein Jahr auf die Assistentenstelle am Kriminologischen Seminar der Kieler Universität abgeordnet. Hellmuth Mayer wurde mein Doktorvater. Damals bestand das »Seminar« aus dem schon emeritierten Mayer als Direktor, einer Sekretärin und einer kleinen Bibliothek. 2012 wurde aus dem Seminar ein »Institut«. In seiner »Institutsgeschichte« hat es die Anfänge unter Hellmuth Mayer vergessen. Als ich dort ankam, hatte das Kieler Kriminologische Seminar erfolgreiche Jahre hinter sich. Unter Mayers Anleitung konnten sich dort vier Strafrechtler[4] habilitieren. Der junge Privatdozent Friedrich Geerds nutzte das Seminar als Fließband für Dissertationen, die alle nach dem gleichen Muster als Aktenuntersuchung abliefen. Er zog dann als Ordinarius nach Frankfurt a. M. Wolfgang Naucke, ein scharfsinniger Kantianer, ergriff die Gelegenheit, um zusammen mit dem damals in Kiel tätigen Soziologen Paul Trappe auf die Rechtssoziologie aufmerksam zu machen (und ist dafür verantwortlich, dass ich den Weg von der Kriminologie zur Rechtssoziologie gefunden habe). Trappe hatte 1959 in Mainz über die Rechtssoziologie Theodor Geigers promoviert. 1962 gab er einen umfangreichen Band heraus, der Arbeiten zur Soziologie von Theodor Geiger enthielt, von denen einige zuvor noch nicht veröffentlicht worden waren. 1964 erschien der von Trappe edierte Neudruck von Geigers »Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts«. Im gleichen Jahr wurde Trappe nach Kiel berufen, wo er zusammen mit Wolfgang Naucke in Seminaren und Veröffentlichungen Grundlagen für die in den Folgejahren aufblühende Rechtsoziologie legte. Auch Naucke wurde nach Frankfurt berufen. Friedrich W. Krause, ursprünglich Staatsanwalt, später in Mannheim und Würzburg, erwarb sich Verdienste besonders um Kriminalistik und Strafprozess. Joachim Hellmer schließlich nahm sich besonders der Sicherungsverwahrung an, die Mayer stets als grausam angesehen hatte. Er wurde Mayers Nachfolger als Seminardirektor, nachdem zwischenzeitlich Hilde Kaufmann diese Stelle innegehabt hatte.

Hellmuth Mayer war zu seiner Zeit als Anders-Mayer bekannt, weil er häufig anderer Meinung war als die Mehrheit seiner Fachkollegen. In Assistentenkreise hieß es, auf der Suche nach einem interessanten Thema könne man stets bei Mayer fündig werden. Damit bin ich nach einem kleinen Umweg wieder beim Natural Turn. Eine naturalistische Ethik muss eine Anthropologie zugrunde legen. Aber welche? Hellmuth Mayers Buch über »Die gesellige Natur des Menschen«, die eine »Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht« bieten sollte, kann da nicht als repräsentativ und maßgeblich gelten. Aber das buch ist immer noch eine Fundgrube. In der nächsten Fortsetzung werde ich daher voraussichtlich einige Fundstücke aus diesem Buch vorzeigen.


[1] Davon zeugt der Band von Fritz Sack/René König (Hg.), Kriminalsoziologie, 1968.

[2] Natalie Willsch, Hellmuth Mayer (1895-1980). Vom Verteidiger im Hitler-Prozess 1924 zum liberal-konservativen Strafrechtswissenschaftler; das vielgestaltige Leben und Werk des Kieler Strafrechtslehrers, 2008.

[3] Hellmuth Mayer, Die gesellige Natur des Menschen. Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht, 1977.

[4] Friedrich Geerds, WolfgangNaucke, Friedrich Wilhelm Krause und Joachim Hellmer.

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Die Natur ist amoralisch

Der Anschein normativer Qualität der Natürlichkeit ist leicht zu zerstören. Man kann darüber nachdenken, woher Natürlichkeit ihre normative Attraktivität bezieht. Alan Levinovitz, vom Fach her Theologe, meint, sie sei religiösen oder jedenfalls mythischen Ursprungs.[1] Er versucht, das Natürlichkeitsargument am Beispiel der »natürlichen Geburt« zu entlarven, denn in der Natur sei die Müttersterblichkeit und die Neugeborenensterblichkeit viel höher als beim Menschen. Keine Frage: Die Natur ist weithin »grausam«. Die Covid-Pandemie muss man wohl für natürlich halten. Deshalb ist sie aber nicht »gut«. Die Impfung dagegen ist höchst künstlich und dennoch von hohem Wert. Kein naturalistisch gedachter Naturzustand garantiert Freiheit und Gleichheit. Beides bietet erst eine rechtlich verfasste Gesellschaft. Das Natürlichkeitsargument hat eine Berechtigung nur, wenn es utilitaristisch, und das heißt, anthropozentrisch verwendet wird. Das heißt, die Natur, oder vielmehr einzelne ihrer Elemente, so wie sie sind, sind gut für Menschen. Andernfalls würde man schnell bei einem Sozialdarwinismus landen. In das utilitaristische Kalkül darf dann aber auch eingehen, was Levinovitz (S. 29) den nicht weiter reduzierbaren Wert des Naturerlebnisses nennt (oder was Menschen dafür halten), sei es das Erlebnis einer Landschaft, sei es das Erlebnis der Geburt.

Schwierig bleibt die deskriptive Bestimmung des Natürlichen. Kultur als Gegenbegriff versteht sich im weitesten Sinne unter Einschluss aller Technik. Das das Antonym natürlich/künstlich beleuchtet das Werden aller Erscheinungen, für die Natur in Anspruch genommen wird unter Einschluss der Prozesshaftigkeit ihrer Entstehung. Selbst die Saat, die der Landmann in die mit einem Grabstock gezogene Furche legt, wächst nunmehr künstlich.

Trotz alledem ist die Unterscheidung von Natur und Kultur ist nicht ganz hoffnungslos. Laien wissen in der Regel recht gut, was natürlich ist. Sie reden von natürlicher Geburt oder Naturheilkunde, von Biolebensmitteln und Biolandwirtschaft. Zwar ist auch »Bio« heute künstlich. Aber wenn es Alternativen gibt, lässt sich doch meistens zwischen mehr oder weniger natürlich unterscheiden. Und so unterscheiden nicht nur Laien, sondern auch Politik und Recht. Naturschutz und der Schutz der natürlichen Umwelt wären eine Illusion, wenn Politik und Recht keine Vorstellung hätten, was es zu schützen gilt. Landschaftsbau und Wasserwirtschaft betreiben in großem Umfang Renaturalisierung. Man kauft naturbelassene Nahrungsmittel, und Industriebrachen werden der Natur überlassen, um sich zu renaturieren. Als »natürlich« gilt in erster Linie der Verzicht auf einen Eingriff in den Ablauf der Dinge, auch wenn dieser Ablauf längst nicht mehr natürlich ist. Naturschutz, Umweltschutz und Klimaschutz scheitern jedenfalls nicht an einem ungeklärten Naturbegriff.

Naturschutz auch für den Menschen? Da wird die Sache heikel. In Ungarn kämen Politiker vielleicht auf die Idee, Naturschutz für die Zweigeschlechtlichkeit zu fordern. Aber auch Abweichungen vom Normalfall gehören zur Natur. Wer ist also »der Mensch«, der geschützt werden sollte?

Die Philosophie unterscheidet seit Aristoteles zwischen der ersten und der zweiten Natur des Menschen.[2] Die erste Natur ist die körperlich biologische. Die zweite Natur ist die kulturelle Ausformung der ersten. Als Einführung in Begriffsgeschichte und Problematik kann ein Kongressbeitrag von Philip Hogh[3] dienen. Die Begriffsbildung ist zwar philosophisch schwer beladen. Dennoch ist sie geeignet, um die Soziologie aus der konstruktivistischen Umklammerung zu befreien, das heißt, um den Menschen als soziales Wesen zu begreifen, ohne ihn vollkommen zu entnaturalisieren.[4]

Für die Bestimmung der Natur des Menschen steht eine ganze Disziplin bereit, die Anthropologie mit ihren Ausprägungen als naturwissenschaftliche, philosophische und Sozialanthropologie. Letztere kennt sogar noch eine Spezialisierung als Rechtsanthropologie.[5] Anthropologie ist in der kulturalistisch orientierten Sozialwissenschaft herzlich unbeliebt, weil sie im Verdacht steht, nach dem Einfluss genetischer Faktoren auf Kognitionen und Emotionen, auf Intelligenz und sexuelle Identität zu fragen. Für diese Abneigung kann man sich anscheinend auf den großen Kant berufen. Der hatte erklärt:

»[E]ine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet … werden.« (Metaphysik der Sitten, Einleitung II. a. E.)

Aber der Schein trügt. Kants Ethik bleibt formal, das heißt, letztlich ohne Inhalt. Eine materiale Ethik muss die Kantischen Prinzipien verletzen. Sie muss Aussagen über die Welt aufnehmen, die a priori nicht zu haben sind. Dazu braucht sie eben doch die Anthropologie. Fragt sich nur, welche.

[Fortsetzung folgt.]


[1]. Alan Levinovitz, Natural: How Faith in Nature’s Goodness Leads to Harmful Fads, Unjust Laws, and Flawed Science, 2020. Das Buch lohnt sich nicht, wenn man Birnbachers Auseinandersetzung mit dem ethischen Naturalismus zur Hand hat.

[2] N. Rath, Natur, zweite, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, 1984, Sp. 484-494.

[3] Philip Hogh, Zweite Natur. Kritische und affirmative Lesarten bei John McDowell und Theodor W. Adorno, XXII. Deutscher Kongress für Philosophie, 11. – 15. September 2011, Ludwig Maximilians-Universität München.

[4] Gedanke und Formulierung nach Philip Hogh/Julia König, Bestimmte Unbestimmbarkeit. Über die zweite Natur in der ersten und die erste Natur in der zweiten, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59, 2011, 419–438, S. 421.

[5] Die Rechtsanthropologie wird etwa von dem portugiesischen Politikwissenschaftler Armando Marques Guedes gepflegt.

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Natürlichkeitsargumente

Natürlichkeitsargumente im engeren Sinne sind solche, welche die Natur im Sinne von physikalischen und biologischen Vorgegebenheiten zur Begründung politischer, rechtlicher oder moralischer Forderungen anführen, also die Natur, wie sie als natürliche Umwelt angesprochen wird.

Das Natürlichkeitsargument i. e. S. wirft ähnliche Probleme auf wie das Normalitätsargument. Die Auszeichnung eines Sachverhalts als natürlich kann deskriptiv oder normativ gemeint sein. Aber die Bedeutungen sind noch stärker verschränkt und der normative Anspruch weitaus höher. »Normalismus« ist (nur) eine kritisch gemeinte Diagnose der Soziologie. Naturalismus tritt dagegen mit dem Anspruch einer philosophisch begründeten Ethik auf.[1] Der Appell an die Natur weckt die stärksten moralischen Intuitionen. »Die Natur schreit uns an«, so der Philosoph Markus Gabriel im Interview mit Blick auf Corona-Pandemie und Klimawandel. Vor allem aber ist ein Trivial-Naturalismus weit verbreitet. Alle lieben die »Natur«. Alle wollen es »grün« und »bio«. Doch sie machen sich kaum Gedanken darüber, wo »Natur« beginnt und wo sie endet.

Während Natürlichkeit in der Alltagsmoral einen hohen Stellenwert besitzt, wird das Argument von der akademischen Ethik eher verachtet. Es ist »natürlich« vollkommen richtig, dass sich aus der Natur unmittelbar keine ethischen oder juristischen Normen ableiten lassen. Natürlichkeit ist nur ein Argument unter vielen anderen. Aber mächtige Diskurse haben dieses Argument in Verruf gebracht haben. Die antireligiöse Aufklärung verdächtigt die Berufung auf Natürlichkeit einer Aufladung durch gottgewollte Normativität. Kulturalistische Sozialwissenschaft hat die Natur selbst dekonstruiert. Natürlichkeitsargumente sind als Naturalisierungsargumente delegitimiert. »Naturalisierung« ist zum Kampfbegriff geworden.[2] Es ist an der Zeit für einen natural turn.

Natürlichkeitsargumente sind im buchstäblichen Sinne Argumente aus der »Natur der Sache«, und sie begegnen damit allen Einwänden, die mit Wesensargumenten verbunden sind, insbesondere »natürlich« dem Einwand, sie beruhten auf einem naturalistischen Fehlschluss. Dieser Einwand ist allerdings unbegründet, wenn das Argument nicht als zwingende Ableitung vorgetragen wird, sondern lediglich fordert, bei der Abwägung auch einen (näher bezeichneten) Gesichtspunkt der Natürlichkeit einzustellen. Das Natürlichkeitsargument bringt aber ein anderes Problem mit sich, das sehr viel schwerer auszuräumen ist, nämlich die Unterscheidung von Natur und Kultur. Die Zurückweisung von Natürlichkeitsargumenten als Naturalisierung beruht ja darauf, dass der kulturalistische Konstruktivismus jede Wahrnehmung der Natur als sozial oder kulturell geprägt ansieht mit der Folge, dass Natürlichkeitsargumente nur die persuasive Kraft der Natürlichkeit ausschöpfen, ohne aber zur Natur vordringen zu können. Paradebeispiel ist die Zweigeschlechtlichkeit.[3]

Nach einer verbreiteten Auffassung lassen sich der deskriptive und der normative Aspekt der Natürlichkeitsbehauptung gar nicht entwirren, weil es von vornherein keine Möglichkeit gibt, sich empirisch der Natürlichkeit eines Sachverhalts zu versichern. Der Staudamm des Möhnesees ist sicher nicht natürlich. Doch was gilt von dem Staudamm, den Biber in einem Fluss errichten? Man kann vielleicht noch ein paar Beeren und Pilze sammeln. Aber sonst sind keine Nahrungsmittel zu haben, die ganz natürlich gewachsen sind. Kochen, Backen, Braten nimmt ihnen vollends die Natürlichkeit. Umgekehrt erscheinen soziale Praktiken, wenn sie selbstverständlich werden, als natürlich. Darauf beruht die zum Dogma geronnene Ablehnung von Natürlichkeitsargumenten durch die kulturalistische Soziologie.

Natürlichkeitsargumente werden als essentialistisch zurückgewiesen. Das ist in der Sache nichts anderes als die Zurückweisung von Wesensargumenten. Dahinter steht ein großes Kapitel Philosophie. Ausgangspunkt ist die Ideenlehre Platons, die das Wesen der Dinge, der realen wie der geistigen, jeweils in ihren transzendenten Ideen suchte. Platons Schüler Aristoteles hat diese Ideenlehre konkreter ausgeformt, indem er die Ideen in die reale Welt hineinholte. Nach seiner Vorstellung steht hinter jeder konkreten Erscheinung – einem Stein, einem Baum, einem Tier, einem Menschen, einer Familie, dem Staat – eine Idee, oder wie Aristoteles gleichbedeutend sagt, ein Begriff oder eine Form. Man kann auch sagen, der Begriff wird den Dingen nicht äußerlich angeheftet, sondern er steckt in ihnen selbst, er ist die Ursache ihrer Existenz, ihrer Einheit, ihres Handelns oder ihrer Entwicklung. Der Wissenschaft hat Aristoteles die Aufgabe zugesprochen, die Form in oder hinter der Sache zu erkennen und damit das Wesen der Sache zu beschreiben oder zu »definieren«.

Solches Bemühen kann zu empirischen Gesetzen führen, also zu dem, was oft Realdefinition genannt wird:

Es gehört zum Wesen des Menschen, dass er sterblich ist.

Gemeint ist nichts anderes als die empirische Aussage: Alle Menschen sind sterblich. Kaum weniger einleuchtend klingen Aussagen über soziale Tatbestände, z.B. des Aristoteles berühmter Satz vom Wesen des Menschen:

»Daß aber der Mensch, mehr noch als jede Biene und jedes schwarm- oder herdenweise lebende Tier, ein in staatlicher Gemeinschaft lebendes Wesen (politikón zóon) ist, liegt am Tage.« (Politik 1253a)

Das Problem solcher Aussagen – die auch ontologisch genannt werden – liegt darin, dass aus ihnen unter dem Deckmantel bloßer Beschreibungen oder Definitionen nicht selten Handlungsanweisungen oder Rechtfertigungen abgeleitet werden: Wenn es zum Wesen des Menschen gehört, dass er in Gesellschaft lebt, so ist es ihm auch wesensgemäß, dass er sich den Anfor­derungen der Gesellschaft beugt, ihren Gesetzen gehorcht, dass Gemeinnutz vor Eigen­nutz geht usw.

Eine essentialistische Vorstellung der Geschlechter wäre also transzendental vorgegeben. Doch nur die wenigsten, denen Essentialismus vorgehalten wird, sind Platoniker oder Aristoteliker. Die meisten sind Empiristen, die durchaus akzeptieren, dass Begriffe erst aus einer Vielzahl von Einzelbeobachtungen wachsen. Sie insistieren aber darauf, dass es auch diesseits jedenfalls Beobachtungen und daraus abgeleitete Gesetzmäßigkeiten gibt, die sich mindestens als relative Unverfügbarkeiten erweisen und sich nicht wegdiskutieren lassen. Relativ ist die Unverfügbarkeit in mehrfacher Hinsicht, nämlich erstens zeitlich, zweitens statistisch und drittens durch die Wahl der Grundgesamtheit. Das zeigt sich gut am Beispiel der Zweigeschlechtlichkeit. Zweigeschlechtlichkeit ist insofern relativ, als sie nicht bei allen Lebewesen, sondern durchgehend nur bei Säugetieren und beim Menschen anzutreffen ist. Zweigeschlechtlichkeit ist statistisch relativ, weil sie nicht bei allen Exemplaren, die zu einer grundsätzlich zweigeschlechtlichen Gattung gehören, ausgeprägt ist. Und sie ist zeitlich relativ, weil man sich vorstellen kann, dass sie im Zuge der Evolution oder der Entwicklung von Reproduktionsmedizin und Gentechnik verloren gehen kann. In diesem relativen Rahmen ist Zweigeschlechtlichkeit eine (Natur-)Tatsache, mit der wir leben müssen.

[Fortsetzung folgt.]


[1] Prominent vertreten durch Philippa Foot, Natural Goodness, 2001. Die immer noch maßgebliche Kritik dieser Ethik hat Dieter Birnbacher geliefert: Natürlichkeit, 2006, freilich noch ohne Auseinandersetzung mit Foot.

[2] Uwe H. Bittlingmayer, Wider die Naturalisierung der zweiten Natur! Pierre Bourdieus Soziologie zwischen Kritik und Politik, in: Mark Hillebrand u. a. (Hg.), Willkürliche Grenzen 2006, 33-60; Timo Heimerdinger, Naturalisierung als Kampfbegriff, in: Eva Tolasch/Rhea Seehaus (Hg.), Mutterschaften sichtbar machen, 2016, 125-140; Lisa Krall, Das Paradigma der Natur – Zum Umgang mit Naturalisierung und Dualismen in der Geschlechterforschung, IFFOnZeit 4, 2014, 18-31.

[3] Gero Bauer/Regina Ammicht Quinn/Ingrid Hotz-Davies (Hg.), Die Naturalisierung des Geschlechts, Zur Beharrlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit, 2018.

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Normalitätsargumente

Es geht darum, wie angekündigt, in einem natural turn Normalitäts- und Natürlichkeitsargumenten wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Der Umgang mit dem Natürlichkeitsargument ist schwieriger. Daher vorab ein Blick auf Normalitätsargumente.

Normalität ist kein einheitliches Phänomen. Es kommen stets viele Normalitäten in Betracht. Biologische, psychische und soziale Parameter können mehr oder weniger normal ausfallen. Nur zum kleineren Teil haben Menschen es selbst in der Hand, mehr oder weniger normal zu sein.

Das Streben nach Normalität wird gerne als Konformität abgewertet. Aber Normalität ist als solche nicht minderwertig. Für viele Menschen, wenn nicht für die meisten, bedeutet Normalität eine Entlastung. Der allgemeine Hintergrund von Normalität gibt dem Individuum die Chance, sich durch Abweichung zu profilieren. Daraus folgt aber nur eine schwache Wertschätzung von Normalität. Auf eine starke Wertung von Normalität verweist der Vitalismus Canguilhems, von dem in der letzten Fortsetzung die Rede war. Eine solche Wertschätzung bildet die Basis des neoaristotelischen Naturalismus, wie er von Philippa Foot mit Hilfe von Michael Thompson begründet worden ist. Auch wenn ich Foot in ihrer Ablehnung einer nonkognitivistischen Ethik nicht folgen kann, so bleiben ihre Prämissen doch interessant und relevant. Den Maßstab der Gutheit als zentrale Prämisse gewinnt Foot aus den natürlichen Formeigenschaften der jeweiligen Spezies, ihrer Lebensform.

Den Begriff der Lebensform hat Michael Thompson ausgearbeitet.[1] Er meint, die üblichen Definitionen des Lebens mit einer Liste von »Merkmalen des Lebendigen«[2] bildeten eine stabile Einheit, so dass man in einen Zirkel gerate, wenn man eines von ihnen separat zu erläutern versuche. Leben zeige sich nicht im Abstrakten, sondern werde nur in lebendigen Individuen wirklich. Zwischen dem abstrakten Begriff des Lebens und dem konkreten Individuum steht die Spezies (Gattung, Art), die Thompson »Lebensform« nennt. Über die Lebensformen lassen sich daher allgemeine Aussagen machen.[3]

Hinsichtlich der allgemeinen Aussagen über die Spezies oder Lebensform spricht Thompson von naturhistorischen Urteilen (natural-historical judgements). Diese Benennung leitet er von Aussagen ab, wie man sie typisch in Wander- und Naturführern findet, wenn es dort etwa heißt: Hier leben Rotluchse. Die Fellfarbe der Körperoberseite reicht von blassgelb bis rötlich braun. Im Frühling bringt der weibliche Rotluchs zwei bis vier Junge zur Welt. Später lernen die Jungen, Kaninchen, Hasen und andere Kleintiere zu jagen. [4] Dabei handelt es sich jedoch nicht um Allsätze, denn die Aussage muss nicht auf jedes Exemplar der Gattung zutreffen, sondern um Urteile über typische Eigenschaften, die auch dann »wahr« sind, wenn sie nicht bei allen Individuen zutreffen. Man hat auch schon Rotluchse mit schwarzem Fell gefangen.

Thompson verwendet einigen Aufwand darauf zu begründen, dass Aussagen über eine Lebensform allgemeingültige Urteile sind, wiewohl sie nicht auf jedes Exemplar der Gattung zutreffen. Dazu bemüht er insbesondere die Kategorienlehre des Aristoteles. Diese Bemühungen laufen darauf hinaus, dass sich Lebensformen durch typische Eigenschaften und Prozesse auszeichnen, mit einem anderen Ausdruck, durch Normalität.

Spannend wird Thompsons Gedankengang durch die anschließende Frage, ob naturhistorische Urteile, also allgemeine Aussagen über eine Spezies oder Lebensform, normativer Art sind.[5] Seine Antwort schillert, ist aber doch letztlich negativ. Naturhistorische Urteile scheinen einen »verborgenen normativen Unterbau«[6] zu haben. Sie liefern die Maßstäbe oder Standards für die Exemplare der Gattung. Der Züchter wird ein Pferd nach seinem Körperbau als wohlgebildet und geeignet für den Rennsport einstufen, der Kenner eine Rose als besonders schönes Exemplar ihrer Gattung. Von einer Katze mit drei Beinen könnte man sagen, sie sei defekt, von einer Pflanze, die wuchert, sie sei krank; denn eine Katze »sollte« vier Beine haben, eine Pflanze nicht wuchern. Mit solchen Aussagen werden normative Kategorien, die eigentlich nur menschlichem Verhalten gelten, auf die subrationale Natur angewendet. Normalität, Anormalität und Anomalien = »natürliche Defekte« sind stets »lebensformrelativ«. Dabei handelt es sich zwar um »künstliche Kategorien«.[7] Aber letztlich sind alle Begriffsbildungen künstlich. »Naturhistorische Urteile«, welche die Lebensform einer Spezies beschreiben, sind deshalb nicht normativ. Anders könnte es liegen, wenn die Begriffsbildung nicht den Lebensformen der Natur im engeren Sinne, sondern sozialen Institutionen wie der Familie oder dem Staat dient. Aber das ist nicht Thompsons Thema.

Normative Urteile im eigentlichen Sinne fordern ein in irgendeiner Weise durch Willen und Verstand gelenktes Verhalten ein, wie es nur dem Menschen möglich ist. Es kommt daher zum Schwur, wenn der Mensch als Lebensform beschrieben wird. Im Vorgriff auf die Erörterung des Natürlichkeitsarguments zitiere ich hier nur, wie Thompson am Ende seiner Abhandlung auf den neoaristotelischen Naturalismus hinweist:

»Eine bestimmte Spielart von zeitgenössischem Aristotelismus in der praktischen Philosophie versucht, die antike Vorstellung zu rechtfertigen, daß, wie wir es jetzt formulieren können, Irrationalität und Laster Formen des natürlichen Defekts sind; Philippa Foots Natural Goodness bietet beispielsweise eine ungewöhnlich eindrucksvolle Darstellung dieser Idee.«[8]

Foot verankert ihren ethischen Naturalismus in der Natur des Menschen, indem sie dessen Empfänglichkeit für Gründe als praktische Rationalität als wesentliches Merkmal seiner »Lebensform« postuliert.[9] Die Unzugänglichkeit für Gründe gilt ihr als natürlicher Defekt. Daran werde ich anknüpfen, voraussichtlich unter der Überschrift »Philippa Foots halbierter Naturalismus«.

Nach diesem Exkurs zurück zur Normalität. Der Exkurs sollte an dieser Stelle nur einer Aufwertung des Normalen dienen. Er sollte zeigen, dass das Normale in Gestalt von Lebensformen das Leben ausmacht. Auch Abweichungen gehören zum Leben. Aber sie bleiben doch stets von einer Lebensform abhängig.

Die von Thompson und Foot so genannten Lebensformen sind nicht als solche normativ, aber sie haben teil an der normativen Kraft des Faktischen. Diese Kraft ist ein sozialpsychologisch verankertes empirisches Phänomen, gegen das sich nicht streiten lässt. Noch vor allem religiösen oder moralischen Überbau äußert die soziale ebenso wie die biologische Normalität faktisch ihre Überzeugungskraft. Die persuasive Kraft der Normalität begründet aber kein ethisches Argument. Sie beruht allein auf einer psychologischen Gesetzmäßigkeit. Ethische Reflexion führt im Gegenteil zu großer Skepsis gegenüber jedem Versuch, natürliche oder soziale Normalität als Argument anzuführen.

Normalitätsargumente sind von vornherein indiskutabel, soweit sie sich auf Parameterbeziehen, auf welche die Betroffenen keinen Einfluss haben, wie bei einer körperlichen Behinderung. Aber auch die argumentative Berufung auf Normalität zur Bewertung und Einforderung sozialen Verhaltens bleibt problematisch. Das gilt auch dann, wenn die Gefahr eines naturalistischen Fehlschlusses erkannt ist, das Argument daher nicht als zwingend eingebracht wird. Normalitätsargumente sind gefährlich, weil sie stets Minderheiten treffen, und zwar selten positiv, meist dagegen negativ. Deshalb sind solche Argumente aber nicht von vornherein ausgeschlossen. Werden sie mit Minderheitenschutz-Kautelen gestützt, so können sie annehmbar sein.

Im Recht sind Normalitätsargumente durchaus vertraut. So verwendet, wer sich auf Sozialadäquanz oder Verkehrssitte beruft, ein Normalitätsargument. Die Zivilrechtsprechung versucht, ihre Urteile mit der Figur eines mehr oder weniger imaginierten, empirischen oder normativ gedachten Dritten zu objektivieren. Da werden der bonus pater familias, der objektive Beobachter und der verständige Rechtsgenosse, der vernünftige Angehörige eines Verkehrskreises, der ordentliche Kaufmann und der unvoreingenommene Durchschnittsleser bemüht.[10] Eine ähnliche Rolle spielt im amerikanischen Recht die reasonable person. Der Sache nach wird hier der »Normalo« bemüht. Auch die Ortsüblichkeit, mit der sich ein Emittent nach § 904 II BGB gegen Unterlassungsansprüche von Grundstücksnachbarn wehren kann, interpretiere ich als Normalitätsargument. Für § 1 BImSchG muss man mindestens diskutieren, ob es gilt, nur »Normalmenschen« vor schädlichen Umwelteinwirkungen zu schützen.[11] Die Aufzählung lässt sich verlängern. Allerdings hat die Normalität nie das letzte Wort. Stets steht am Ende ein Werturteil, dass der Sitte bescheinigt, keine Unsitte zu sein, oder das besagt, unter den gegebenen Umständen gelte es, diejenigen vor Schaden zu bewahren, die aus der Norm fallen, und dafür den »Normmenschen« gewisse Einschränkungen aufzuerlegen.

[Fortsetzung folgt.]


[1] Michael Thompson, The Representation of Life, in: Rosalind Hursthouse u. a. (Hg.), Virtues and Reasons 1995, 247–296. Überarbeitete Fassung in Michael Thompson, Life and Action, 2008; deutsch als Michael Thompson, Leben und Handeln, Grundstrukturen der Praxis und des praktischen Denkens, 2011.

[2] Thompson 2011, S. 46ff. Thompson hätte sich auch auf die Aufzählung im Wikipedia-Artikel »Leben« beziehen können. Dort werden genannt: Energie- und Stoffwechsel, Organisiertheit und Selbstregulation (Homöostase), Kommunikation (Koordination aller Lebensprozesse mit Signalen), Reaktion auf chemische oder physikalische Reize, Wachstum, Fortpflanzung und Vererbung.

[3] Thompson 2011 S. 65.

[4] Thompson 2011 S. 83.

[5] Thompson 2011 S. 96ff.

[6] Thompson 2011 S. 105.

[7] Thompson 2011 S. 106.

[8] Thompson 2011 S. 106.

[9] Vorläufig sei auf das vorzügliche Referat von Tilo Wesche, Ethischer Naturalismus. Erste und zweite Natur bei Foot und McDowell, in: Thomas Hoffmann/Michael Reuter (Hg.), Natürlich gut. Aufsätze zur Philosophie von Philippa Foot, 2010, 263-291 (S. 265-277) verwiesen.

[10] Dazu kritisch Eva Kocher, Die Position der Dritten. Objektivität im bürgerlichen Recht, JöR NF 67, 2019, 403-426.

[11] Dazu Monika Böhm, Der Normmensch. Materielle und prozedurale Aspekte des Schutzes der menschlichen Gesundheit vor Umweltschadstoffen, 1996.

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