Recht und Emotion: Zur Sortierung der Begriffe

Dies ist die erste Fortsetzung des Eintrags über den Emotional Turn und die Rechtswissenschaft.

Über das Rechtsgefühl wird viel geredet, aber wenig gesagt. Um sich dem zu nähern, was Psychologie zu Emotionen zu sagen hat, gilt es, zunächst die Begriffe zu sortieren. In Psychologielehrbüchern begnügt man sich mit »Arbeitsdefinitionen«, weil der Emotionsbegriff theorieabhängig sei. Die psychologischen Emotionstheorien erweisen sich mindestens als vielschichtig. Da es mir darum geht, ein Bild von diesen Theorien zu gewinnen, muss ich mir meine eigene Arbeitsdefinition zusammenbasteln.

Schwierig ist schon die Unterscheidung von Affekt, Emotion und Gefühl, selbst wenn man weitere Kandidaten wie Stimmung oder Befindlichkeit ausklammert und von Mentalität und Persönlichkeit ganz absieht. Aus einem langen Lexikoneintrag über »Emotion/Gefühl«[1] ist zu erfahren, dass die drei Begriffe alltagssprachlich weithin gleichbedeutend verwendet werden. Dagegen heißt es in einem »Wörterbuch der Psychotherapie«[2]:

»Affekte sind (als Oberbegriff von Begriffen wie Emotion, Gefühl, Stimmung, Befindlichkeit etc.) definiert als kurz- oder langdauernde, bewußte oder unbewußte psychophysische Gestimmtheiten, die mit spezifischen neurobiologischen, hormonalen, vegetativen, verhaltensmäβigen und (eventuell) auch mimisch-expressiven und subjektiven Erscheinungen einhergehen.«

Als Oberbegriff[3] wird »Affekt« auch in dem Sammelband »Affekt und Urteil«[4] verwendet[5]. Das entspricht an sich dem englischen Sprachgebrauch, der affect weithin als Synonym für Emotion verwendet. Aber nachdem ich den Band durchgeblättert habe, weiß ich immer noch nicht, was ich denn unter Affekt zu verstehen habe und welches Urteil gemeint ist.[6] Der Übersichtsaufsatz von Susan A. Bandes/Jeremy A. Blumenthal, Emotion and the Law[7], wird zwar zitiert[8], aber gelesen hat man ihn anscheinend nicht. Hauptsächlich setzt man sich mit Kant auseinander oder zusammen und »verortet« die Begriffe. Müller-Mall verschlimmbessert das »Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt« zur oszillierenden Interpretation.

Der Affektbegriff ist für die Erörterung des Themenkreises »Recht und Emotion« jedenfalls in deutschen Texten kaum hilfreich. Nützlich ist er vermutlich nur in seiner engeren Bedeutung als Auslöser völlig unbedachter Handlungen. Kant definierte Affekte als »Gefühle der Lust und Unlust, die die Schranken der inneren Freiheit im Menschen überschreiten«[9] oder ausführlicher:

»Affekt ist Überraschung durch Empfindung, wodurch die Fassung des Gemüts […] aufgehoben wird. Er ist also übereilt, d.i. er wächst geschwinde zu einem Grade des Gefühls, der die Überlegung unmöglich macht (ist unbesonnen).«[10]

Das entspricht dem rechtlichen Verständnis. Danach ist eine Affekthandlung eine Kurzschlusshandlung im Zustand einer Erregung, die eine Kontrolle durch kognitive Prozesse verhindert. Als solche kann der Affekt nach § 20f StGB für die Schuldfrage relevant sein. Auch die Psychologie kennt diesen Begriff der Affekthandlung. Bei dieser engen Bestimmung des Affektbegriffs sollte es bleiben, soweit nicht gerade Max Webers Typus des affektiven Handelns in Rede steht. Dort ist ein weiterer Begriff des Affekts angesprochen. Der Affektbegriff hat auch eine Vergangenheit in der Psychoanalyse Freuds. Auch die soll ausgeklammert bleiben. Vor dem Affekt kommt noch der Reflex, wie er zu beobachten ist, wenn die Hand von der heißen Herdplatte zurückzuckt. Ein Gegenstück zum Affekt scheint die Stimmung zu sein, nämlich ein langsamer einsetzender und länger anhaltender Zustand, der nicht auf ein bestimmtes Objekt gerichtet ist, sondern allem Erleben eine emotionale Tönung verleiht. Emotionen werden dagegen in der Regel als objektgerichtete, episodische, d. h. vorübergehende, relativ schnell auslaufende Zustände definiert.

Zwischen Emotion und Gefühl wird nicht immer unterschieden. Meistens ist Emotion der Oberbegriff. Unter Gefühlen versteht man dann bewusst gewordene Emotionen. Zweckmäßiger erscheint es, deutlich zwischen Emotionen und Gefühlen schärfer zu trennen. Die Emotionspsychologie kämpft mit dem gleichen Problem wie die Soziobiologie, nämlich mit der Frage, was ist Anlage und was kommt aus der Umwelt. Aus verschiedenen Texten kristallisiert sich für Emotionen ein körperlicher Bezug heraus, sei er nun physiologisch oder sogar genetisch. Nach wie vor scheint unklar zu ein, ob Kognitionen Emotionen auslösen oder ob umgekehrt Emotionen die Kognitionen lenken, ferner, ob man die Emotionen in einem angeborenen Teil des Nervensystems suchen soll oder ob sie in irgendeiner Weise gelernt und danach im psychischen System fixiert sind.[11] Daher liegt es nahe, sich für die Unterscheidung von Emotionen und Gefühlen auf die Bestimmung von Damasio[12] zu stützen, auch wenn man ihm sonst nicht in allem folgt. Danach sind Emotionen (engl. emotions) Körperzustände. Bei Damasio sind diese Zustände mit somatischen Markern verbunden, die durch irgendwelche Ereignisse oder Wahrnehmungen ausgelöst werden. Dahinter steckt schon eine spezielle Emotionstheorie. Lässt man diese Theorie außen vor, so bezeichnen Emotionen zunächst nur das körperliche Geschehen, unabhängig davon, wieweit es auf Anlage oder gespeicherte Erfahrung zurückgeht. Gefühle – Damasio spricht von feelings, die Übersetzer von Empfindungen – sind dagegen die mehr oder weniger bewussten Wahrnehmungen und Interpretationen der Emotion genannten Körperzustände. So jedenfalls will ich im Folgenden die Begriffe verwenden, auch wenn ich das sprachlich nicht immer durchhalte. Insbesondere bei adjektivischem Gebrauch lässt sich »emotional« als Oberbegriff sowohl für Körperzustände als auch für (bewusste) Gefühle schwer vermeiden.

[Fortsetzung hier]


[1] Hans Hermsen, Emotion/Gefühl, Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 1,  1990, 661-682

[2] Gerhard Stumm/Alfred Pritz (Hg.), 2020, S. 7.

[3] Franziska Schmithüsen u. a., Lernskript Psychologie, 2014 (S. 83) weisen darauf hin, dass affect im Englischen als Synonym zu Emotion und manchmal auch als übergeordneter Begriff verwendet werde, der auch Stimmungen mit umfasst.

[4] Gertrud Koch/Christoph Möllers/ Thomas Hilgers/Sabine Müller-Mall (Hg.), Affekt und Urteil, 2015. Der Band lässt vom Titel her nicht erkennen, dass er auf der Rechtsästhetikwelle schwimmt. Er geht auf die Jahrestagung 2012 des SFB 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« zurück.

[5] So ausdrücklich von Sabine Müller-Mall, Zwischen Fall und Uteil. Zur Verortung des Rechtsgefühls, in: Gertrud Koch u. a. (Hg.), Affekt und Urteil 2015, S. 117-131, Fn. 8 auf S. 118.

[6] Auch eine Tagungsankündigung »Emotionen und Affekte – Perspektiven in der Politischen Psychologie« der mir bisher nicht bekannten privaten »Internationalen psychoanalytischen Universität Berlin« macht mich nicht klüger.

[7]Annual Review of Law and Social Science 8, 2012, 161-181.

[8] Von Sabine Müller-Mall, Zwischen Fall und Urteil. Zur Verortung des Rechtsgefühls, in: Gertrud Koch u. a. (Hg.), Affekt und Urteil 2015, S. 117-131, Fn. 1F.

[9] Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1798/1800, zitiert nach der Insel-Ausgabe 1964, § 58 Anmerkung (S. 557).

[10] § 71 Anfang (S. 580).

[11] Konstanze Senge, Die Wiederentdeckung der Gefühle, in: dies. u. a., Schlüsselwerke der Emotionssoziologie, 2022, 1–29, S. 11ff.

[12] Antonio R. Damasio, Descartes’ Irrtum, Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, 2004.

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