Ein Pensionär braucht keine Ausrede mehr, wenn er zeitraubenden Freizeitbeschäftigungen nachgeht. Doch auch dabei kann er gelegentlich für die Rechtssoziologie profitieren. Eine Freundin, mit der ich gerne (nicht nur) über den Golfplatz gehe (wo sie mit bewundernswertem Scharfblick meine Bälle im Rough wiederfindet), hatte mir erzählt, dass ihre Tochter als Ethnologin in Halle tätig sei. Da habe ich natürlich gegugelt und Dr. Andrea Behrends gefunden und dazu einige ihrer Texte.
In der Rechtssoziologie kennt man das Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle, weil dort Franz und Keebet von Benda-Beckmann ein Forschungsprogramm zum Rechtspluralismus betreiben. Aber dass es an der Martin-Luther-Universität in Halle auch ein Seminar für Ethnologie gibt, war mir entgangen. Es gab auch keinen Grund zur Kenntnisnahme, weil dort explizit keine Rechtssoziologie betrieben wird. Trotzdem – sozusagen aus persönlichem Interesse – habe ich die Texte von Frau Behrends, die im Internet zu finden sind, gelesen, und – siehe da – sie sind für die Rechtssoziologie durchaus interessant. Heute nur zu dem »kleinsten« dieser Texte über Traveling Models in Conflict Management. Die anderen verdienen ein separates Posting für das ich bisher nur eine Überschrift habe, aber noch keinen Inhalt: Kampf der Kulturen oder Kampf ums Öl?
Der Text »Traveling Models of Conflict Management« ist auf der Webseite einer NGO »Africa Peace and Conflict Network« veröffentlicht. Er berichtet über ein von der Volkswagen Stiftung finanziertes Forschungsprojekt, das von Frau Dr. Behrends koordiniert wird. In sechs afrikanischen Ländern werden jeweils ein traditionelles oder ein importiertes Konfliktregelungsverfahren beobachtet. Beteiligt sind stets ein einheimischer Doktorand, ein Wissenschaftler aus dem entsprechenden afrikanischen Land und ein deutscher Wissenschaftler. Spannend ist die Sache allein schon deshalb, weil die Forschung zum Teil in Ländern stattfindet, in die sich ein Tourist kaum hineinwagen würde (Sudan, Tschad, Äthiopien, Liberia, Sierra Leone, Süd Afrika).
Für die Rechtssoziologie ist alternative Konfliktregelung ein Standardthema. Dazu wird so viel untersucht und geschrieben, dass man (ich) nicht alles zur Kenntnis nehmen kann, sondern nach Generalisierungen suchen muss. Bei diesem Projekt scheint mir das Konzept der wandernden Konfliktregelungsmodelle dazu geeignet. Es geht darum, dass nicht alle Konfliktregelungsverfahren, die im zeitgenössischen Afrika praktiziert werden, am Ort der Auseinandersetzung Tradition haben. Auch die Kolonialverwaltung hat verschiedene Verfahren zur Beilegung lokaler Konflikte eingeführt. Und heute gibt es bekanntlich eine ganze Dispute-Settlement-Industrie, die ihre Modelle anbietet. Der Witz ist nun, dass beobachtet werden soll, wie einzelne Konfliktregelungsmodelle auf Wanderung gehen, wie sie also an einem anderen als dem Ursprungsort verwendet werden. Dazu müssen sie zunächst mobilisiert werden, d. h., aus Ideen müssen Texte, Geschichten und Bilder werden oder es müssen Menschen als Übermittler tätig werden. Die Ideen werden dazu aus ihrem ursprünglichen Kontext in einen neuen verpflanzt, wo sie sich stabilisieren können, vermutlich mit anderen Wirkungen, und von wo aus sie vielleicht sogar wieder eine neue Reise antreten. Eine gewisse Ironie liegt darin, dass man vor Jahrzehnten Konfliktregelungsmodelle aus Afrika importiert hat und dass nun ausgerechnet dort der Wanderzirkus der Konfliktregelungsverfahren zum Thema wird.
Das Konzept der Wandermodelle ist umso interessanter als es nicht auf Konfliktregelungsverfahren begrenzt ist, sondern sich auf Institutionen aller Art anwenden lässt. Damit wäre man wieder bei einem Standardproblem der Rechtssoziologie, der Übertragung einer Institution aus einem Rechtskreis in einen anderen, Einfuhr und Ausfuhr, Rezeption und Oktroyierung von Recht. Ich kann noch nicht erkennen, ob das Konzept der wandernden Institutionen mehr hergibt als eine Metapher. Als solche weckt es eher friedliche Konnotationen, ganz anders als die in der Rechtssoziologie geläufigen Ausdrücke Oktroyierung von Recht oder imposition of law. Gefunden habe ich bei Sowiport noch das Abstract eines Papers von Rottenburg von 1995 mit dem Titel »When organizations travel. On intercultural cultural translation«. Danach ist die Sache wohl doch etwas komplizierter.
Während die Verbreitung von organisatorischen Modellen in der Regel auf ihre instrumentellen Aspekte und auf die Frage der optimalen Anpassung an die Organisationsumwelt hin ausgeleuchtet wird, verfolgt der Autor den Ansatz, Wandel als Materialisierung von Ideen zu verstehen. Nicht unterschiedliche Modelle der formalen Organisation, sondern die Idee der formalen Organisation selbst wird ins Zentrum gerückt. Zu diesem Zweck wird die empirisch größtmögliche Differenz zwischen dem Kontext, in dem sich eine Idee materialisiert, und der Idee angenommen. Es geht um die Materialisierung der modernen Idee formaler Organisation im zeitgenössischen Afrika am Beispiel eines einzelnen Wirtschaftsunternehmens. Als theoretische Folie dienen vor allem Ansätze aus der Soziologie der Übersetzung nach Callon und Latour sowie Ansätze des Neo-Institutionalismus. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist die Warnung davor, über die poststrukturale Analyse von Akteursnetzwerken und von politisch-kulturellen Übersetzungsprozessen eine Beliebigkeit dieser Übersetzungsprozesse zu postulieren.
Ich glaube nicht, dass ich dem weiter nachgehen werde.
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