Beispiele drängen sich auf. Beispiele kann man suchen.
»Es gibt zwei Arten von Beispielen: Eine besteht darin, frühere Ereignisse zu erzählen, die zweite darin, selbst etwas zu erdichten.«[1]
Es war bereits davon die Rede, wie Trudy Grovier hypothetische Vergleichsfälle als (originäre) A-Priori-Analogien behandelt. Lawrence B. Solum hat mit einem Artikel seines Legal Theory Lexicon aufgezeigt, dass und wie Juristen mit hypothetischen Fällen argumentieren.[2] Der Artikel ist so lebhaft, kurz und präzise, dass ich besser die Lektüre empfehle als den Inhalt zu referieren.
Solums Lexikon-Artikel regt dazu an, mit Extrembeispielen die sogenannte defeasibility of rules zu demonstrieren. Das hat insofern mit dem Analogieproblem zu tun, als Analogie-Skeptiker für sich in Anspruch nehmen, es könne und müsse stets erst ein Prinzip abgeleitet werden, um den Ausgangsfall zu beurteilen. Erneut sollte ich dazu besser auf einen fremden Text verweisen. Da es insoweit aber nur um einen Ausschnitt geht und der Text von André Juthe [3]im Original englisch ist, versuche ich mich mit einer Paraphrase.
Juthe seinerseits nutzt ein Beispiel von Govier:[4]
»Lorenzo, Chairman der in finanziellen Schwierigkeiten befindlichen Eastern Airlines, sucht beim dem Konkursgericht Schutz vor seinen Gläubigern. Das sei etwa so, als ob ein junger Mann, der seine Eltern ermordet hat, um Milde bittet, weil er ein Waise sei. Denn Lorenzo habe in den letzten drei Jahren wertvolle Vermögenswerte von Eastern verschleudert und berufe sich nun auf Mittellosigkeit, weil Eastern Geld verliere.«
Govier skizziert den Gedankengang wie folgt:
(1) Ein junger Mann tötet seine Eltern, und bittet um Gnade, weil er nun Waise ist.
(2) Der Chairman von Eastern Airlines (Lorenzo) vernichtet die wichtigsten Vermögenswerte der Firma, nd beruft sich auf die Zahlungsunfähigkeit der Firma, , der er die ihre wichtigsten Vermögenswerte entzogen hat, und bittet und Schutz vor den Gläubigern.
(3) Der junge Mann verdient keine Gnade.
(4*) Niemand, der sich selbst in eine schwierige Situation gebracht hat, verdient Milde oder Schutz.
(5) Lorenzo verdient keinen Schutz vor seinen Gläubigern.
Juthe stellt nicht in Frage, dass die Analogie plausibel ist, bezweifelt aber die Kraft des duduktiven Arguments. Die Generalisierung in (4*) sei nämlich durchaus problematisch. Dafür genüge es nicht, die Fälle von Lorenzo und von dem Mann, der seine Eltern umbrachte, in allen relevanten Einzelheiten zu bedenken. Man müsste auch die relevanten Umstände aller (hypothetisch) denkbaren einschlägigen Fälle berücksichtigen. (4*) könnte leicht ausgehebelt werden mit dem Beispiel von rauschgiftabhängigen Jugendlichen oder Menschen, bei denen dumme kleine Fehler schwere Folgen nach sich ziehen. Vielleicht würde (4*) besser lauten: Niemand, der durch eigene unmoralische Handlungen sein eigenes Unglück herbeiführt, verdient Gnade. Aber diese Regel kann wiederum durch den Fall in Frage gestellt werden, dass ein nicht sehr schwerwiegender Moralverstoß sehr gravierende Folgen hat. Das Prinzip müsste also lauten: »Niemand, der unmoralische Handlungen sein eigenes Unglück herbeiführt, verdient Gnade, es sei denn, die Unmoral wiegt nicht schwer und die Folgen sind gravierend. Aber dann muss spezifiziert werden, was unter schwerwiegender Unmoral zu verstehen und welche Folgen gravierend sind. Man könnte dann sicher wieder Gegenbeispiele finden, welche diese Definitionen als unzureichend erweisen, z. B. den Fall, dass sich jemand eine schwerwiegende unmoralische Handlung begeht, dann aber bereut, was er getan hat und ein neues Leben beginnt. Erst danach treffen ihn die schweren Folgen seiner Handlung. Als Gegenbeispiel könne ferner vielleicht der Fall dienen, dass auch Unbeteiligte unter den schweren Folgen leiden. Eine allgemeine Regel, die mit dem Ziel formuliert wird, für Gegenbeispiele immun zu sein, müsste also alle Ausnahmefälle berücksichtigen.
Juthe folgert aus solchen Überlegungen, dass es ausgeschlossen sei, Analogien auf Induktion und Deduktion zurückzuführen, weil die Umstände, die im Fallvergleich berücksichtigt werden, für eine Generalisierung nicht ausreichen. Träfe das zu, so taugten Regeln wenig oder gar nichts. Tatsächlich »funktionieren« sie aber. So führen die Überlegungen zur Analogie zu einem der großen Standardthemen der Rechtstheorie, nämlich auf das Unbestimmtheitsheorem.
Zu praktisch jeder Rechtsnorm, die zur Anwendung in Betracht kommt, lassen sich Einschränkungen oder Ausnahmen finden oder erfinden. Das ist in der prinzipiellen Unvollständigkeit des Rechts begründet. Um dieses Phänomen herum ist unter dem Titel Defeasibilaty eine ebenso umfangreiche wie überflüssige Diskussion entstanden. Es geht um das Grundphänomen jeder Begriffsbildung. Begriffe abstrahieren von konkreten Objekten. Sie stellen Verallgemeinerungen dar. Das gilt selbstverständlich auch für Regeln aller Art und damit für Rechtsnormen. Verallgemeinerungen erweisen sich aber immer wieder als konkretisierungsbedürftig. Mit einem Beispiel aus einem Kongressvortrag von Giovanni Sartor: Tweety ist ein Vogel. Vögel können fliegen. Aber Tweety ist ein Pinguin, der nicht fliegen kann. Die (allgemeine) Regel gilt anscheinend nicht ausnahmslos. Aber das ist nur die Kehrseite der Unschärfe der Begriffe. Man kann auch sagen, die Regel gilt nur prima facie oder als Vermutung, solange sie nicht durch zusätzliche Informationen eingeschränkt wird. Die allgemeine Regel bildet einen Standard für den Normalfall (default rule), wenn nicht Gründe für eine Ausnahme ersichtlich sind.
Nur durch Verallgemeinerungen bekommt man die Komplexität der Welt halbwegs in Begriff. Man muss dafür bereit sein, sich unter Umständen eines Besseren belehren zu lassen. Das ist eine Trivialität, und deshalb sollte das umfangreiche Schrifttum über Defeasibility im Recht unter Ockhams Razor fallen. Wer sich davon überzeugen möchte, dass sie nicht weiter führt, mag einen der folgenden Titel zur Hand nehmen: Leonard G. Boonin, Concerning the Defeasibility of Legal Rules, Philosophy and Phenomenological Research 36, 1966, 371-378; Carsten Bäcker, Rules, Principles, and Defeasibility, ARSP Beiheft 119, 2010, 79-91, sowie Jordi Beltrán Ferrer/Giovanni Battista Ratti (Hg.), The Logic of Legal Requirements: Essays on Defeasibility, 2012; Francesca Poggi, Defeasibility, Law, and Argumentation: A Critical View from an Interpretative Standpoint, Argumentation 35, 2021, 409-434, sowie vier Beiträge im Schwerpunktheft Nr. 1/2022 der Zeitschrift »Rechtsphilosophie« zum Thema »Defeasable Normative Reasoning«.
[1] Aristoteles, Rhetorik, 1393a, übersetzt von Gernot Krapinger, 1999.
[2] Lawrence B. Solum, Legal Theory Lexicon 003: Hypotheticals, 2021.
[3] André Juthe, Argument by Analogy, Argumentation 19, 2005, 1-27, S. 20f.
[4] Trudy Govier, Analogies and Missing Premises, Informal Logic 11, 1989, 141-152, S. 143.