Das Einschreiben als soziologische Theorie

Nein, es geht nicht um das gute alte Einschreiben der Post. Es geht darum, dass in soziologischen Texten immer wieder davon die Rede ist, dass etwas »eingeschrieben« sei. Das geschieht auffällig oft, ohne dass der Begriff des Einschreibens selbst reflektiert wird. Zuletzt ist mir die Begriffsverwendung in dem kleinen und feinen Aufsatz von Marius Meinhof »Postkoloniale Soziologie oder Soziologie des Kolonialismus?«[1] begegnet, wo sie auf elf Textseiten drei Mal erscheint.

»Postkolonialismus basiert auf der Annahme, dass der Kolonialismus die Grundlage und den Entstehungskontext der modernen Gesellschaft darstellt und daher so tief in die Moderne eingeschrieben ist, dass ein Verständnis kolonialer Macht für jegliche Beschäftigung mit der Moderne unablässig ist.«[2]

Sieht man genauer hin und über den zitierten Aufsatz hinaus, so lassen sich mehrere Verwendungen des Einschreibens unterscheiden. Teils dient das Einschreiben als Metapher. Teils wird es wörtlich genommen. Wörtlich nimmt es Meinhof in folgendem Satz:

»Aus postkolonialer Sicht schreibt Eisenstadt die oben erwähnten kolonialen Imaginationen nur noch auf subtilere Weise in die Soziologie ein.«[3]

So findet Meinhof das Einschreiben oder vielmehr, das Eingeschriebene im »Kanon der Soziologie«[4].

Als Metapher dient das Einschreiben auf zwei Ebenen. Beide Ebenen verbindet die Konjunktur des Vorreflexiven, die durch Harold Garfinkels Ethnomethodologie angestoßen wurde. Man kann wohl sagen, dass Soziologen das Einschreiben als einen eher tentativen Ausdruck für Phänomene verwenden, die theoretisch mit dem Konzept des impliziten Wissens von Michael Polany erfasst werden. Handfeste Verwendung findet die Metapher des Einschreibens als Einschreibung sozialer Praxis in den Körper.[5] Bourdieu hat für die durch kulturelle Praktiken geprägte Routine des Körpers den Terminus »Hexis« erfunden. Andere sprechen von embodiment.

Die zweite Ebene, auf der eingeschrieben wird, sind die mentalen Zustände. Sie erhalten bei Bourdieu die Bezeichnung »Doxa«. Ethnologen sprechen Vorstellungen, die wie selbstverständlich zugrunde gelegt werden und im Prinzip unbewusst sind, als kulturellen Code an. Bei Meinhof geht es um die »koloniale Episteme«, »um die tief in das gesellschaftliche – also auch das soziologische — Wissen eingeschriebene Kolonialität«[6] Was hier Episteme genannt wird, sind für mich »Theorien hinter der Theorie«, also unbewusste und selten explizierte, aber wirkmächtige Hintergrundtheorien.[7]

Im so genannten practice turn ist aus dem Einschreiben ein neuer Ansatz der empirisch orientierten Soziologie geworden. Unter der einen oder anderen Benennung dient das Eingeschriebene als Ansatzpunkt postmoderner Kritizismen.

Nachtrag: Herr Meinhof schreibt mir, der Begriff des Einschreibens habe vermutlich über die Foucault-Rezeption in poststrukturalistische und postkoloniale Debatten Einzug gefunden. In meinen Notizen habe ich eine halbwegs einschlägige Formulierung Foucaults gefunden. Eine Analyse der Sprache entdeckt »unbewusste Strukturen, die uns beherrschen, ohne dass wir es bemerkten oder wollten.« (Interview mit Michel Foucault, in.: ders: Schriften Bd. 1, 2001 [1968] S. 841). Mich würde aber mehr noch der französische Ausdruck für »Einschreiben« interessieren.


[1] Soziologie 49, 2020, 410-422.

[2] S. 413.

[3] S. 415.

[4] S. 416.

[5] Als Beleg mag hier genügen Frank Hillebrandt, Soziologische Praxistheorien, 2007, S. 63, 67, 74.

[6] S. 417.

[7] Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 11ff.

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Sozioprudenz und Jurisprudenz

Sozioprudenz war ein Posting von Joachim Fischer und Clemens Albrecht vom 28. April 2014 auf Sozblog überschrieben.[1] Darunter verstehen sie eine »akademische Klugheitsschulung im Hinblick auf das Soziale« durch die Soziologie. Das Ziel ist eine professionelle Sozialkompetenz, die aber nicht Sozialtechnologie sein soll. Der Eintrag beginnt:

»Wird man eigentlich durch Soziologie sozial klüger? Wer Jura studiert, lernt nicht nur, das Recht richtig, sondern auch klug anzuwenden. Deshalb heißt es ›Jurisprudenz‹.«

Ich will nicht beckmessern, ob juris prudentia ein genetivus subjectivus oder objectivus ist, ob also die Klugheit im Recht oder in den Juristen liegt. Der Eintrag ist interessant, weil darin der Begriff der Jurisprudenz aufgewärmt wird.

Der Ausdruck »Jurisprudenz« wirkte heute eher angestaubt. Geläufig ist er vor allem noch in Zusammensetzungen wie Begriffsjurisprudenz, Wertungsjurisprudenz, Interessenjuris-prudenz[3] oder Soziologische Jurisprudenz. In unserer Allgemeinen Rechtslehre[4] verwenden wir ihn dagegen, wie es der juristischen Tradition entspricht, gleichberechtigt und gleichbedeutend mit »Rechtswissenschaft«, um die akademische Disziplin der Juristen zu bezeichnen. Das hilft uns, sprachlich zu variieren[5], und so tragen wir auch dem Umstand Rechnung, dass in vielen anderen Ländern eine Benennung der Jurisprudenz als Wissenschaft unbekannt ist. Das Fach heißt dort schlicht »law«, »droit« oder »diritto«. In den englischsprachigen Ländern wird es den humanities zugeordnet, die im Gegensatz zu den sciences stehen.

Mit der Benennung als Jurisprudenz verbinden wir keine Stellungnahme zur Wissenschaftlichkeit der Disziplin. Anders Hans Kelsen. Er wollte die Bezeichnung als Rechtswissenschaft auf die bloße Beschreibung und logische Analyse des geltenden Rechts beschränken und so von Jurisprudenz als der praktischen juristischen Betätigung trennen, da letztere mit ihren Entscheidungsvorschlägen am Ende immer für unwissenschaftlich gehaltene Werturteile impliziert. [6] Noch einmal anders die rhetorische Rechtstheorie in der Tradition Theodor Viehwegs. Sie war der Ansicht, dass die Disziplin keine Erkenntnisfunktion habe, sondern zu den lebensklugen Handlungslehren zählt, und bevorzugte daher die Benennung als Jurisprudenz.[7]

Arno Scherzberg hat es unternommen, Klugheit als Element juristischen Handelns zu etablieren.[8] Ihm geht es nicht darum, an die Stelle der Rechtswissenschaft schlechthin eine bloße Klugheitslehre zu setzen. Der Klugheitsbegriff dient ihm vielmehr zum Ausgleich der Rationalitätsdefizite vermeintlich rationalen Entscheidens. Er soll Erfahrung, Emotion und Intuition integrieren.

»Der Klugheitsbegriff erlaubt eine ganzheitliche Sicht auf menschliche Entscheidungsprozesse, die die expliziten und die impliziten Kompetenzen des Entscheidungsträgers integriert«. (Scherzberg 2008, 8).

Christian Nierhauve führt den Gedanken der Rechtsklugheit auf die aristotelische phronesis zurück.[9]

Bei der Jurisprudenz als Rechtsklugheit geht es, anders als wohl bei der Sozioprudenz, nicht darum, einer akademischen Disziplin überhaupt zu praktischer Relevanz zu verhelfen, sondern um die spezifische Qualität juristischen Könnens, die allein durch Rechtstechnik nicht zu vermitteln ist.

Die Rechtssoziologie bietet eine umfangreiche Debatte über Rechtsbewusstsein und/oder Rechtsgefühl (legal consciousness; sens juridique) an. Das professionelle Rechtsgefühl wird unter Juristen als Judiz angesprochen.[10] Darunter versteht man Rechtsempfinden und Urteilskraft als intuitive Elemente juristischer Tätigkeit. Bisher ist man über die Aussage, erst durch lange Lehre und Praxis des Rechts werde man rechtsklug, nicht hinausgekommen.

Seit einiger Zeit blüht ein Diskurs über Rechtsästhetik.[11] Der legt es nahe, »Rechtsklugheit« mit der kantischen Urteilskraft und folglich mit der Rechtsästhetik in Verbindung zu bringen. Das Judiz wird dann zum juristischen Geschmacksurteil. Baumgarten definierte vor 250 Jahren seine neue Lehre von der Ästhetik als scientia cognitionis sensitiva. In diesem Sinne wird Ästhetik zunehmend wieder auch in einem umfassenderen Sinne als Theorie und Praxis von Aisthesis verstanden mit der Folge, dass Wahrnehmungsphysiologie und Wahrnehmungspsychologie in den Blick kommen. Die damit geforderte übergreifende Betrachtungsweise seelischer und körperlicher Phänomene zeigt sich in Begriffen wie embodiment, embodied cognition oder embodied knowledge. Dem folgt die Rede vom multisensorischen Recht[12]. Auch die hilft hier anscheinend nicht weiter.

Bisher ist es nicht gelungen, das juristische Geschmacksurteil handfest zu beschreiben und zu erklären. Deshalb sagt Joachim Lege:

»Das, worauf es im Ästhetischen ankommt, ist unsagbar (»je ne sais quoi«); und diese Unsagbarkeit ist kein unvermeidbarer Mangel, sondern sachlich notwendig.«[13]

Skeptiker könnten sagen, Ästhetik diene den Juristen als Wundpflaster für Rationalitätslücken. Psychologen, die Licht in das Dunkel richterlicher Entscheidungen zu bringen versuchen, wollen nicht hinnehmen, wenn Juristen ihr Judiz »vorschützen«. Sie fragen daher nach dem Frühstück der Richter. Andererseits bestätigen Soziologen mit dem Konzept des impliziten Wissens und mit einem als Praxeologie bezeichneten Ansatz, dass es so etwas gibt wie das Judiz.

»Der ›Ort‹ des Sozialen … sind die ›sozialen Praktiken‹, verstanden als know-how abhängige und von einem praktischen ›Verstehen‹ zusammengehaltene Verhaltens-routinen, deren Wissen … in den Körpern der handelnden Subjekte ›inkorporiert‹ ist … .«[14]

Zu handfesteren Aussagen finde ich bisher nicht. Die Sozioprudenz, die mich auf die Suche geschickt hatte, habe ich darüber vergessen.

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[1] Der Eintrag ging wohl zurück auf einen Aufsatz von Fischer mit dem Titel »Durkheims Soziologie als Sozioprudenz« in: Tanja Bogusz/HeikeDelitz (Hg.), Émile Durkheim. Soziologie-Ethnologie-Philosophie, 2013, 95-118.

[3] Der zeitgenössische Gegenspieler Philipp Hecks war dessen Greifswalder Fakultätskollege Ernst Stampe, der eine abwägende »Sozialjurisprudenz« zur Methode machen wollte; dazu Joachim Rückert, Abwägung – die juristische Karriere eines unjuristischen Begriffs oder: Normenstrenge und Abwägung im Funktionswandel, JZ 2011, 913-923, S. 914 ff.

[4] Klaus F. Röhl/Hans C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2007.

[5] In dem Entwurf für eine 4. Auflage zählt Word für »Rechtswissenschaft« 328 und für »Jurisprudenz« 310 Übereinstimmungen.

[6] Hans Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre?, FS Giacometti, 1953, 143/153.

[7] Ottmar Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, 1970.

[8] Arno Scherzberg, Wird man durch Erfahrung klug?, Internetpublikation, 2008; ders. (Hg.), Klugheit. Begriff – Konzepte – Anwendungen; 2008; ders. u. a. (Hg.), Kluges Entscheiden; 2006;

[9] Zur Rechtsklugheit, ARSP Beiheft 135, 2012, 127-141.

[10] Rolf Gröschner, Judiz – was ist das und wie lässt es sich erlernen?, JZ 1987, 903-908.

[11] Nachweise im Eintrag Ästhetische Diskriminierung; ferner Daniel Damler, Rechtsästhetik. Sinnliche Analogien im juristischen Denken, 2016.

[12] Klaus F. Röhl, Zur Rede vom multisensorischen Recht, Zeitschrift für Rechtssoziologie 33, 2012/2013, 51-75.

[13] Joachim Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, S. 331; ähnlich ders., Ästhetik als das A und O »juristischen Denkens«, Rechtsphilosophie (RphZ) 1, 2015, 28-36.

[14] Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, Zeitschrift für Soziologie 32, 2003, 282-301, S. 289.

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Implizites Wissen

Vor kurzem ist ein von Jens Loenhoff herausgegebener Sammelband »Implizites Wissen« erschienen. [1]Jens Loenhoff (Hg.), Implizites Wissen. Epistemologische und handlungstheoretische Perspektiven, Weilerswist: Velbrück 2012, ISBN 978-3-942393-48-5. Auf ein solches Werk habe ich gewartet, denn ich schlage mich schon länger mit dem auf Michael Polanyi [2]Michael Polanyi, Implizites Wissen, 1985. zurückgehenden Begriff herum. Nun erfahre ich von Schützeichel, dass es sich bei dieser Kategorie um einen »Blockbuster gegenwärtiger Diskussion« handelt. [3]»Implizites Wissen« in der Soziologie: Zur Kritik des epistemischen Individualismus«, im angegebenen Band S. 108–128, S. 108).

Der Band beginnt mit einer ausführlichen »Einleitung« des Herausgebers. [4]Volltext der Einleitung im Internet: [http://www.velbrueck-wissenschaft.de/pdf_ausfuehrlich/978-3-942393-48-5.pdf]. Loenhoff ist Anhänger eines »starken« Begriffs des impliziten Wissens. Dieser beruht auf der »fundamentalpraktischen These vom Vorrang impliziten Wissens … dass explizite Überzeugungen nur vor dem Hintergrund praktischer Fertigkeiten verständlich gemacht werden können (S. 12). Dagegen steht ein »schwacher« Begriff impliziten Wissens, der zwar einräumt, »dass Handeln und Erkennen auf einen unbefragten, jenseits aktueller Aufmerksamkeit liegenden und nicht bzw. noch nicht thematisierten Hintergrund verwiesen ist«, der aber grundsätzlich die Explizierbarkeit auch des impliziten Wissens für möglich hält (S. 17). Loenhoff wehrt sich gegen die Annahme, implizites Wissen sei »lediglich noch nicht explizites, gleichsam auf seine Explikation wartendes Wissen« (S. 13). Durch die Lektüre des Beitrags von Hilde Haider und Alexandra Eichler »Implizites Wissen aus der Sicht der Kognitionspsychologie« (S. 244-259) ist mir klar geworden, dass ich wohl schon immer Anhänger des schwachen Begriffs war, aber jetzt erst Loenhoff bei mir durch eine Erwartungsverletzung einen Suchprozess ausgelöst hat (vgl. S. 259), der mich in den Stand setzt, meine impliziten Annahmen über das implizite Wissen explizit zu machen. Sie besagen, dass wohl prinzipiell das Implizite explizierbar ist, aber stets nur punktuell; nie alles zugleich. Damit bleibt mir allerdings auf Grund meiner »epistemologischen Vorentscheidungen« (Loenhoff S. 13 u.) der wahre Status impliziten Wissens verschlossen.

»Die in umgekehrter Richtung entwickelten Überlegungen, wie nämlich explizite Wissensbestände zu impliziten Praktiken werden«, nennt Loenhoff »recht vage« (S. 13). Unklar scheint ihm vor allem das Konzept oder gar »Paradigma« von Verkörperung oder Embodiment. Ja, so ist das nun einmal mit kulturwissenschaftlich imprägnierten Begriffen. Dieser Punkt verdient gelegentlich einen eigenen Eintrag, weil »embodied legal learning« zum Thema der juristischen Ausbildungsdiskussion geworden ist. [5]John Webb, The Body in (E)motion: Thinking through Embodiment in Legal Education, in: Paul Maharg/Caroline Maughan (Hg.), Affect and Legal Education, Ashgate 2011, S. 211–233. Vorläufig mag der Hinweis genügen, dass Hirschauer – auf den Loenhoff in Fn. 21 hinweist, – die möglichen Verwendungsweisen dieses Begriffs ganz schön klargelegt hat. [6]Stefan Hirschauer, Stefan, Körper macht Wissen. Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs, in: KarlSiegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der … Continue reading Das Problem ist nur, dass kaum jemand sich daran orientiert. Man konzentriert sich auf den »wissenden Körper als Träger von Praktiken« (Hirschauer S. 977) und übersieht dabei – das moniert Loenhoff zu recht –, dass das Repertoire des Körperwissens sich nicht in individuell praktizierbaren skills wie Radfahren oder Klavierspielen erschöpft, sondern auch handlungskoordinierende Symbolik (Grußgesten, Abstandsverhalten – meine Beispiele) einschließt.

Die körperbezogenen Kompetenzen machen nur einen kleinen Teil des impliziten Wissens aus. Der größere Teil besteht aus »präreflexiven Gewissheiten … in Form unhinterfragter lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten« (S. 17f.). Sie machen in ihrer Gesamtheit das »kulturelle Vorverständnis« aus, »das die Anschlussfähigkeit sozialer Praktiken sichert«. Wissen ist also, ganz analog zum Vorverständnis einer Texthermeneutik a là Gadamer die Basis einer Hermeneutik der Lebenswelt. Wer das implizite Wissen, und sei es auch nur von Fall zu Fall, für explizierbar hält, hat als Intentionalist nichts verstanden.

Für das Verständnis von Rechtstexten ist die Gebrauchstheorie der Bedeutung wichtig. Sie lässt sich weiter dadurch verfeinern, dass man auf die Unterscheidung von implizitem und explizitem Sprachwissen zurückgeht. »Nicht das Erfassen der Sprecherabsicht, im Hörer bestimmte Wirkungen hervorzurufen, sondern umgekehrt die Erfassung der Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks gemäß sozial geteilter Interpretationsroutinen ist es, die dem Hörer ermöglicht, dem Sprecher eine Absicht zuzuschreiben bzw. auf diese zu schließen.« (S. 22) Dem kann man wohl noch zustimmen. Ein falscher Gegensatz wird jedoch mit der »These vom Vorrang der sozialen Praxis de Sprachgemeinschaft vor den ›privaten‹ Intentionen einzelner Sprecher« (S. 16) aufgebaut. Von dieser These heißt es, sie leugne »nicht, dass Handlungen mit Motiven und Zwecksetzungen kontaminiert sind, sondern nur, dass die fokussierte Intentionalität Handlungen und insbesondere das Gelingen von Kommunikation und sozialer Kooperation hinreichend bestimmt«. Keine Frage, dass Kommunikation auf implizitem Wissen aufruht. Aber auch der Sprecher hat an dem impliziten Sprachwissen teil. Daher wird es ihm in aller Regel gelingen, bei den Hörern Interpretationen zu provozieren, die seinen Intentionen entsprechen. Loenhoff [7]Einleitung S. 29 unter Berufung auf Clemens Knobloch, Implizites Sprecher und Hörerwissen in der Konstruktionsgrammatik, S. 198-213. betont, dass »der Vollzug kommunikativer Akte nicht auf geteiltem Wissen basiert, sondern dieses Wissen auf der Grundlage geteilter Aufmerksamkeit, Kooperativität und der Zurechnung von Intentionalität erst erzeugt« werde. Doch der Prozesscharakter von Kommunikation ändert daran grundsätzlich nichts. Wissen verflüchtigt sich nicht in dem Augenblick, in dem es hergestellt wurde, sondern es verfestigt sich durch Wiederholung und Bestätigung. Das ist aus psychologischer Sicht gerade der Witz impliziten Wissens.

Ich habe nicht alle Beiträge des Bandes gründlich gelesen. Deshalb will ich nur zwei hervorheben. Einen habe ich schon erwähnt, nämlich den Beitrag von Heider und Aichler. Er steht fast am Ende des Bandes, und da ist die scheinbar naiv zupackende Weise der Psychologie erfrischend. Ich habe daraus entnommen, dass es jedenfalls im Prinzip möglich ist, implizites Wissen zu explizieren und explizites Wissen durch Übung zu implizieren.

Erwähnenswert ist ferner der Beitrag von Rainer Schützeichel. Er meint, es gehe beim impliziten Wissen eher um ein Syndrom, dem unterschiedliche Phänomene zugeordnet würden (S. 108). Um die Phänomene zu sortieren, verteilt er sie auf vier Traditionslinien, nämlich auf die von Gilbert Ryle, Michael Polanyi, Karl Mannheim sowie auf die phänomenologische Linie von Husserl und Merleau-Ponty. Die ersten drei werden dann näher referiert. Damit liefert Schützeichel eine nützliche Orientierung.

Auch wenn ich nicht mit allem einverstanden bin oder nicht alles verstanden habe, so hat mir der Band doch geholfen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Jens Loenhoff (Hg.), Implizites Wissen. Epistemologische und handlungstheoretische Perspektiven, Weilerswist: Velbrück 2012, ISBN 978-3-942393-48-5.
2 Michael Polanyi, Implizites Wissen, 1985.
3 »Implizites Wissen« in der Soziologie: Zur Kritik des epistemischen Individualismus«, im angegebenen Band S. 108–128, S. 108).
4 Volltext der Einleitung im Internet: [http://www.velbrueck-wissenschaft.de/pdf_ausfuehrlich/978-3-942393-48-5.pdf].
5 John Webb, The Body in (E)motion: Thinking through Embodiment in Legal Education, in: Paul Maharg/Caroline Maughan (Hg.), Affect and Legal Education, Ashgate 2011, S. 211–233.
6 Stefan Hirschauer, Stefan, Körper macht Wissen. Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs, in: KarlSiegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel, Bd. II, S. 974–984.
7 Einleitung S. 29 unter Berufung auf Clemens Knobloch, Implizites Sprecher und Hörerwissen in der Konstruktionsgrammatik, S. 198-213.

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Von der Rechtssoziologie zu den Kulturwissenschaften und zurück (II)

1. Der kulturwissenschaftliche Ansatz führt zu einer souveränen Geringschätzung all dessen, was die »Disziplinen« immerhin schon geleistet haben.
2. Keines der genannten Themen ist wirklich neu.
3. Kulturwissenschaften setzen zu sehr auf den homo symbolicus [1]Ernst Cassirer sprach vom animal symbolicum (An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture New Haven 1944, 26; dt. Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der … Continue reading und damit auf einen neuen homunculus.
4. Kulturwissenschaften gebärden sich empiriefeindlich.
5. Zur beherrschenden Methode wird die wissenssoziologische Rekonstruktion.
6. Kulturwissenschaften verfahren einseitig poststrukturalistisch.
Heute nur zu den ersten beiden Punkten.
Zu 1. – Geringschätzung der traditionellen Disziplinen: Die Kulturwissenschaften verstehen sich als Neubeginn. Damit können sie, was von den traditionellen Wissenschaften geleistet worden ist, bequem beiseiteschieben: Die in ihren Disziplingrenzen befangenen Juristen, Historiker, Germanisten usw. haben ohnehin nichts verstanden. Kulturwissenschaftler sind anscheinend nicht bereit, sich näher auf den Objektbereich, über den sie reden wollen, einzulassen. Ihre Ergebnisse sind oft trivial. Juristen sind sie schwer zu vermitteln.
Zu 2. Themenangebot: Für eine kulturwissenschaftlich inspirierte Rechtsforschung wird eine lange Reihe von Themen [2]Die Aufzählung – nicht dagegen die Bewertung – folgt weitgehend dem meines Wissens unveröffentlichten Förderungsantrag von Ulrich Haltern und Christoph Möllers für eine Tagung … Continue reading empfohlen:
a) Gedächtnis: Kultur bildet einen Komplex identitätssichernden Wissens, sozusagen das Gedächtnis einer sozialen Gruppe oder gar der Gesellschaft. So verstanden ist Kultur das Arrangement von Symbolen, das die Bilder und Zeichen, Geschichten und Charaktere, Szenarien und Metaphern bereit hält, mit deren Hilfe die Mitglieder einer Gruppe ihrem Leben und der Welt um sie herum einen Sinn geben. Im Anschluss an Aleida und Jan Assmann ist daher das »kulturelle Gedächtnis« zu einem Schlüsselbegriff der Kulturwissenschaften geworden. Das Gedächtnis nimmt in Mythen und Riten, Liedern und Festen, Bildern und Texten Gestalt an. Eine »gedächtnisorientierte« Wissenschaft sucht dann nach den Ursprungsmythen moderner Institutionen. Und sie wäre keine solche, entdeckte sie nicht überall, wonach sie sucht, etwa für das Verfassungsrecht einen revolutionären Ursprungmythos, der es dem Verfassungsrecht gestatten soll, »an die Partikularität und Körperlichkeit von Revolutionen anzuknüpfen«. Oder sie beschwört den demokratischen Gründungsmythos der sogenannten verfassungsgebenden Gewalt des Volkes (Giorgio Agamben, Homo sacer, 2002, 50 ff.). Die entdeckten Symbole sind oft nicht viel besser als der Kadaver des Ziegenbocks, der in der Essener Inszenierung der »Elektra« über dem Kopf Klytaimnestras pendelte. Es handelt sich regelmäßig um paradigmatische Überinterpretationen, die in der Soziologie keinen Platz haben. Das meiste, was die Kulturwissenschaft als kulturelles Gedächtnis behandelt, ist längst Thema der Mediensoziologie und von dort auch in die Rechtssoziologie übernommen worden. In der allgemeinen Soziologie spricht man vom kollektiven Gedächtnis. Es spielt u. a. bei der Erklärung der Evolution des Rechts eine Rolle.
b) Alltagskultur und Popkultur: Die Kulturwissenschaften halten sich weiter zugute, dass sie den Blick auf die Bedeutung des Alltagswissens und der Populärkultur gelenkt habe. Da war die Rechtssoziologie allerdings auch schon ohne ihre Hilfe angekommen.
c) Visualität: Auf die Alltags- und Popkultur ist die Rechtssoziologie mittelbar durch Film und Fernsehen aufmerksam geworden, die in ihrem Themenhunger nicht nur Kriminalthemen, sondern viel allgemeiner Recht und Gerichte zum Thema von Unterhaltungsstoffen gemacht haben. Auf diesem Umweg ist nicht nur die visuelle Kommunikation, sondern viel allgemeiner die Relevanz der Kommunikationsmedien für das Recht Thema der Rechtssoziologie geworden.
d) Zeitlichkeit des Rechts: Raum und Zeit geben der Welt im Erleben der Menschen Struktur. Diese Struktur ist primär natürlich, beim Raum durch die Gestalt der Erde und ihrer Landschaften, bei der Zeit durch den Wechsel von Jahreszeiten, Tag und Nacht. Aber die natürliche Struktur wird überlagert durch eine soziale. Die Landschaften sind durch Besiedlung und Bauten gestaltet. Die Zeit erhält durch Kalender, Uhren und Gewohnheiten und Pläne ihren Rhythmus. Zeit korrespondiert mit Kausalität, denn Kausalität wird als eine zeitliche Abfolge von Ereignissen gedacht. Die Wahrnehmung der Vergangenheit durch Rechtsgeschichte und historische Soziologie bringt Periodisierungen hervor, die auf das Verständnis des aktuellen Rechts zurückwirken. Für den Alltagsgebrauch sind es die sog. Narrationen, die das Recht zeitlich gliedern. Monoton wird beklagt, dass die Beziehung zwischen Recht und Zeit wissenschaftlich vernachlässigt worden sei. Z. B. von Rebecca R. French, Time in the Law, University of Colorado Law Review 72, 2001, 663-748/663: »Time is always necessary in the law, yet it is rarely examined.«.)) Tatsächlich ist die Literatur zum Thema gar nicht so spärlich. [3]David M. Engel, Law, Time, and Community, Law and Society Review 1987, 605-638; Carol J. Greenhouse, Just in Time: Temporality and the Cultural Legitimation of Law, Yale Law Journal 98, 1631-1651; … Continue reading
Überall im Recht ist die Zeit präsent, beim Alter von Personen, in Fristen und Terminen, bei der Verjährung, der Dauer einer Strafe usw. usw. Positivität des Rechts bedeutet Änderbarkeit und begründet damit auch ein Zeitphänomen. Das ist durch Niklas Luhmann zu einem klassischen Thema der Rechtssoziologie geworden. Das alles ist trivial. Aber die Kulturwissenschaften leben davon, Trivialitäten hochzustilisieren. Interessanter als die Zeitlichkeit des Rechts ist die Veränderung der Zeitperspektive der Gesellschaft. Zu beobachten sind gegenläufige Entwicklungen. Auf der einen Seite steht die Dehnung der für relevant angesehenen Zeit. Traditionelle Verjährungsvorstellungen sind zu einem erheblichen Teil obsolet geworden. 1949 verjährte die Verfolgung von Mord noch in 20 Jahren. Dann wurde diese Verjährungsfrist im Blick auf die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen auf 30 verlängert, und als 1979 auch diese Spanne ablief, ganz aufgehoben. Aber auch zivilrechtliche Wiedergutmachungsansprüche werden heute ohne Rücksicht auf Fristen zugelassen. Hier sind ganz deutlich die rechtlichen Konsequenzen einer Neubewertung von Kolonialismus und Sklaverei, Naziverbrechen und sozialistischen Diktaturen zu spüren. In der Sprache der Kulturwissenschaften: In den 1960er Jahren hat man von einer Kultur des Vergessens auf eine Kultur der Erinnerung umgestellt. Die Konsequenz ist eine »Vermessung der Geschichte durch die Gerichte« [4]Angelika Nußberger, Die Vermessung der Geschichte durch die Gerichte, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 7. 2010; ferner Lukas H. Meyer (Hg.), Justice in Time, Responding to Historical … Continue reading. Rückwirkende Moralisierung schlägt auf das Recht durch. Auf der anderen Seite Beschleunigung: Die Beschleunigung von Transport- und Kommunikationsvorgängen durch die moderne Technik und die (dadurch beförderte) Globalisierung der Wirtschaft mit dem daraus folgenden Konkurrenzdruck haben zu einer Art Nonstop-Gesellschaft geführt. Die rechtliche Regelung von Feiertagen und Ladenschluss, Arbeitszeiten und Fristen aller Art muss darauf reagieren.
e) Raum: Recht braucht einen Anwendungsbereich. Der ist, seitdem die Menschen sesshaft geworden sind, in erster Linie räumlich bestimmt. Traditionelle Rechtsvorstellungen sind daher mit Stadt und Staat verbunden. Eine alte Fragestellung der Rechtssoziologie befasst sich dem Phänomen lokaler Rechtskulturen, nämlich damit, dass Recht, das seinem Anspruch nach in einem bestimmten Territorium eigentlich einheitlich gelten sollte, in der Praxis ganz unterschiedliche Ausprägungen annimmt. Das geht bis hin zu den illegalen Siedlungen in Großstädten von Schwellen- und Entwicklungsländer, in denen sich relativ unabhängig vom staatlichen Recht ein Ordnungssystem entwickelt, für das die Bewohner Rechtsqualität in Anspruch nehmen. [5]Boaventura de Sousa Santos, The Law of the Oppressed: The Construction and Reproduction of Legality in Pasargada, Law and Society Review 12, 1977, 5-126.
Mit der Beförderungs- und der Kommunikationstechnik sind die Menschen mobiler geworden. Politischer Druck und wirtschaftlicher Sog bringen sie in Bewegung. Grenzen sind durchlässiger geworden. Raum und Mobilität haben dadurch als Rechtstatsachen Bedeutung gewonnen. Das ist offensichtlich, wenn es um die Globalisierung des Rechts oder um Immigration und Integration geht. Durch die neue Mobilität haben sich die Raumerfahrung auch das Selbstverständnis der Menschen und damit ihre Beziehung zum Recht verändert. Die über den Raum vermittelte Loyalität zu Stadt, Staat und Recht hat sich abgeschwächt. Das alles ist nicht neu und reicht sicher nicht aus, um, etwa analog zur Wirtschaftsgeographie, wie sie der Nobelpreisträger Paul Krugman, angeregt von Ansätzen deutscher Raumwirtschaftstheoretiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wiederentdeckt und fortentwickelt hat, einer Rechtsgeographie das Wort zu reden. Was dazu angeboten wird [6]Nicholas K. Blomley/David Delaney, Richard T. Ford, (Hg.), The Legal Geographies Reader, Law, Power, and Space, Oxford 2001; Kim Economides/Mark Blacksell/Charles Watkins, The Spatial Analysis of … Continue reading, lässt sich einfacher in den konventionellen Kategorien der Rechtssoziologie unterbringen.
Man kann das Raumthema aber auch kunsthistorisch und architekturästhetisch ausmalen. Alessandro Nova [7]Nova ist Direktor des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, das als Max-Planck-Institut firmiert. hat gerade einen Vortrag über »Recht und Piazza« angekündigt. Um sich unter diesem Thema etwas vorstellen zu können, muss man wohl erst den von Nova und Jöchner herausgegebenen Band »Platz und Territorium: urbane Struktur gestaltet politische Räume« (2010) zur Hand nehmen. Man kann sich auch das Programm einer Tagung im Frankfurter MPI für Europäische Rechtsgeschichte über »Recht, Bild und Raum« ansehen.
In der modernen Soziologie ist zwar viel von Räumen (space) die Rede. Meistens wird der Begriff aber nicht geographisch, sondern im übertragenen Sinne verwendet wie von Bourdieu, wenn er von juristischen Feldern [8]Pierre Bourdieus, La force du droit. Éléments pour une sociologie du champ juridique, Actes de la recherche en sciences sociales, 64, 1986, 3-19. spricht. Als Metapher trägt er wenig zur Sache, aber viel zur Komplikation der Darstellung bei. Von den Herausgebern des Legal Geographies Reader ( S. XII f.) erfahren wir:

»First, by reading the legal in terms of the spatial and the spatial in terms of the legal, our understandings of both, ›space‹ and ›law‹ may be changed. Old stabilities begin to reveal gaps and tensions. … Second, … the spaces of experience and imagination are profoundly molded by inherited legal notions such as ›rights‹, ›ownership‹ and ›sovereignty‹ … Social space is saturated with legal meanings, but these meanings are always multiple and usually open to a range of divergent interpretations. … Third … the legal and the spatial are, in significant ways, aspects of each other and as such, they are fundamental and irreducible aspects of a more holistically conceived social-material reality.«

Es ist sicher richtig, dass man bei Untersuchungen über die Wirklichkeit des Rechts auch über Immigration und Globalisierung hinaus vielfach an räumlichen Grenzen anknüpfen kann, etwa bei der Verteilung von Grundeigentum oder bei der Durchsetzung von Ordnung in öffentlichen Plätzen. Dass räumliche Grenzen, etwa die zwischen Slums und guten Wohnvierteln oder gar fenced communities auch Grenzen zwischen Arm und Reich, Stark und Schwach darstellen, ist bekannt. Für all das braucht man weder eine Rechtsgeographie noch die Kulturwissenschaften.
f) Technik: Das Verhältnis von Recht und Technik wird seit jeher unter der Überschrift »Recht und sozialer Wandel« thematisiert.
g) Gewalt fasziniert die Kulturwissenschaften im Zusammenhang mit dem Recht wegen ihrer Doppelrolle. Das Recht versteht sich als Friedensordnung. Historisch ist es aber nicht selten durch einen gewaltsamen Akt, durch Krieg oder Revolution, entstanden. Einerseits bekämpft das Recht die Gewalt, wenn sie als Selbsthilfe, gewöhnliche Kriminalität oder gar Terrorismus auftritt. Andererseits droht das Recht seinerseits mit Gewalt und wendet sie bei Bedarf auch an. Der Beitrag der Kulturwissenschaften besteht darin, dass sie diese Doppelrolle zur Paradoxie hochstilisiert.
h) Körperlichkeit: Wenn Kulturwissenschaftler der Rechtsforschung den Körper als Thema nahelegen, so meinen sie verschiedene Dinge. [9]Die Kulturwissenschaften teilen die postmoderne Neigung zu Wortspielereien und zur Ausschöpfung von Mehrdeutigkeiten. In diesem Zusammenhang etwa ist regelmäßig von embodiment die Rede. Offen … Continue reading Erstens geht es um die physische Gewalt. Die ist immer schon ein Thema von Psychologie und Soziologie gewesen. Zweitens geht es um die materielle (körperliche) Basis der Rechtskommunikation: »Das Recht wird als Zeichenkörper konstituiert.« [10]Ludger Schwarte/Christoph Wulf (Hg.), Körper und Recht. Anthropologische Dimensionen der Rechtsphilosophie, 2003, Einleitung, S. 7. Solche aufgeblasenen Formulierungen sind für die Kulturwissenschaften typisch. Drittens: Manchmal geht es aber auch nur um metaphorischen Sprachgebrauch, so wenn wir erfahren, in Hobbes’ Leviathan erscheine der Staat als Verkörperung des Rechts. Viertens geht es um die Einwirkung des Rechts auf den Körper. Immer wieder fasziniert die Geschichte der Leibes- und Lebensstrafen. Aber es ist wohl richtig, dass heute über der Technik und den sozialen Strukturen die Leiblichkeit vernachlässigt oder gar vergessen wird. Es scheint, als ob das moderne Recht direkte Zugriffe auf den menschlichen Körper möglichst ausspart. Folter und Todesstrafe sind indiskutabel, körperliche Züchtigung jeder Art verboten. Fünftens: Gegenüber dem Zugriff von Medizin und Neurowissenschaft auf den Körper ist das Recht weitgehend ratlos. Sechstens: Ein interessanter Aspekt von Körperlichkeit wird in der Soziologie als »tacit knowledge« (M. Polanyi) oder (von Bourdieu) als Habitus thematisiert. Es geht darum, dass es zur Erklärung von Handlungen nicht genügt, bloß das Bewusstsein der Handelnden zu analysieren, weil es von einer unbewussten Handlungsbereitschaft getragen wird, die zu situationsadäquaten Improvisationen befähigt. So können Jazzmusiker zusammen spielen, ohne bewusst bestimmten Regeln zu folgen, weil sie die Fähigkeit entwickelt haben, auf das zu hören, was die anderen spielen, und darauf passend zu reagieren. Autofahrer entwickeln einen »sens pratique«, der sie Gas geben, lenken und bremsen lässt, ohne dass sie überlegen oder sich auch nur bewusst machen, was sie tun. Wenn ich an der Tastatur sitze und schreibe, geben meine Finger nicht ganz selten Zeichenketten ein, die dem gemeinten Wort ähnlich sind. Was daraus für das Recht folgen könnte, ist mir noch unklar.
h) Textbegriff: Für Recht und Rechtssoziologie nicht ganz unwichtig ist eine Erweiterung des Textbegriffs, manche sprechen sogar von einem textual turn: Zunächst muss ein neuer Ausdruck her: Textualität. Textualität ist eine Eigenschaft der Kultur, die nicht von Texten im technischen Sinne des gesprochenen oder geschriebenen Wortes abhängt. Die ganze Welt wird zum Text. Damit ist der Text nicht mehr selbstgenügsam und verliert seine Funktion als Bedeutungsträger. Danach geht es an die Dekonstruktion. Dabei hilft der Begriff der Kontingenz: Kultur ist alles, was anders hätte ausfallen können, also ein Konstrukt. Jedes Konstrukt kann auf alternative Konstruktionsmöglichkeiten befragt werden; es kann dekonstruiert werden. Das gilt sowohl für den vorgefundenen Text wie für dessen Lektüre. Der Beobachter zweiten Grades findet auf beiden Seiten, auf der des Textes und der der Lektüre, eine Wahl, die so oder anders hätte getroffen werden können. Der Text müsste nicht so da stehen, wie er steht, und der Leser hätte ihn anders verstehen können als er tat. Einige Varianten mögen manifest erscheinen. Andere werden nur als Negationshorizont mitgeführt und könnten bei Anlass oder Bedarf belebt werden. Text und Lektüre demontieren sich auf diese Weise selbst. Doch es ist nicht nur der Leser, der so bei der Lektüre beobachtet wird. Textualität der Kultur soll vielmehr besagen, dass jeder Text in vielfältiger Weise mit anderen verflochten ist und darüber hinaus einem sich ständig verändernden Kontext angehört.
Die Rechtssoziologie hat auf dieses Themenangebot längst reagiert, unter anderem durch das Konzept des Legal Pluralism und durch die Rezeption qualitativer Methoden der Sozialforschung.
(Fortsetzung folgt.)

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Ernst Cassirer sprach vom animal symbolicum (An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture New Haven 1944, 26; dt. Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, 1990, 51.
2 Die Aufzählung – nicht dagegen die Bewertung – folgt weitgehend dem meines Wissens unveröffentlichten Förderungsantrag von Ulrich Haltern und Christoph Möllers für eine Tagung »Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft«, die 2006 im ZIF in Bielefeld stattgefunden hat. Das Themenangebot lässt sich auch an den vielen »turns« ablesen, die als Epigonen des Cultural Turn ausgerufen wurden; zu diesen Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29. 3.2010. Vgl. auch meinen Eintrag vom 15. 10. 2010 zum Temporal Turn.
3 David M. Engel, Law, Time, and Community, Law and Society Review 1987, 605-638; Carol J. Greenhouse, Just in Time: Temporality and the Cultural Legitimation of Law, Yale Law Journal 98, 1631-1651; Ali Khan, Temporality of Law, McGeorge Law Review 40, 2008; Bruce C. Peabody, Reversing Time’s Arrow: Law’s Reordering of Chronology, Causality, and History, Akron Law Review 40, 2007, 587-622; Charles F. Wilkinson, American Indians, Time and the Law, Yale University Press 1987.
4 Angelika Nußberger, Die Vermessung der Geschichte durch die Gerichte, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 7. 2010; ferner Lukas H. Meyer (Hg.), Justice in Time, Responding to Historical Injustice, 2004.
5 Boaventura de Sousa Santos, The Law of the Oppressed: The Construction and Reproduction of Legality in Pasargada, Law and Society Review 12, 1977, 5-126.
6 Nicholas K. Blomley/David Delaney, Richard T. Ford, (Hg.), The Legal Geographies Reader, Law, Power, and Space, Oxford 2001; Kim Economides/Mark Blacksell/Charles Watkins, The Spatial Analysis of Legal Systems: Towards a Geography of Law? , Journal of Law and Society 13, 1986, 161-181.
7 Nova ist Direktor des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, das als Max-Planck-Institut firmiert.
8 Pierre Bourdieus, La force du droit. Éléments pour une sociologie du champ juridique, Actes de la recherche en sciences sociales, 64, 1986, 3-19.
9 Die Kulturwissenschaften teilen die postmoderne Neigung zu Wortspielereien und zur Ausschöpfung von Mehrdeutigkeiten. In diesem Zusammenhang etwa ist regelmäßig von embodiment die Rede. Offen bleibt dabei, ob es sich um die Verkörperung von Sinn in Bildern oder anderen Zeichen handelt oder um den Niederschlag von irgendetwas im menschlichen Körper.
10 Ludger Schwarte/Christoph Wulf (Hg.), Körper und Recht. Anthropologische Dimensionen der Rechtsphilosophie, 2003, Einleitung, S. 7.

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