»Transformation durch Recht. Geschichte und Jurisprudenz Europäischer Integration 1985–1992«, das ist der Titel eines Bandes, der soeben bei Mohr Siebeck in Tübingen erschienen ist. Autoren sind der Historiker Kiran Klaus Patel und der Jurist Hans Christian Röhl. Der Historiker Andreas Wirsching hat einen Kommentar beigesteuert. Entstanden ist der Band im Arbeitskreis für Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte an der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur.
Aus dem Vorwort:
»In diesem kleinen Buch vertreten wir die These, dass die kurze Phase von 1985 bis 1992 ganz entscheidend dafür war, jenes institutionelle Europa zu bauen, in dem wir in den Mitgliedstaaten heute leben. Diesen Ausschnitt aus der längeren Geschichte europäischer Integration stellen wir deswegen in den Mittelpunkt und versuchen, ihn im interdisziplinären Dialog zwischen Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte zu beleuchten.«
Ein Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf dem Binnenmarktprojekt der Delors-Kommission. Es wird gezeigt, dass Vieles, was zwischen 1985 und 1992 angelegt und beschlossen wurde, erst mit Verzögerung seine volle Wirkung entfaltete, nämlich die »Europäisierung durch Sekundärrecht«. Hier vollzog sich der Souveränitätstransfer »inkrementell, gewissermaßen schleichend, ohne dass sich die Akteure der Tragweite dieses Prozesses bewusst gewesen wären« (Wirsching S. 238). Der Europaskepsis, ganz gleich aus welcher Richtung sie kommt, hält die historische Betrachtung entgegen, dass das Vereinigte Europa nicht nach einer Blaupause konstruiert worden ist, sondern sich entwickelt hat und weiter entwickeln kann und dabei – wie der Vertrag von Lissabon zeigt – auch auf Kritik reagiert.
Gleichzeitig ist aus demselben Arbeitskreis bei Mohr Siebeck der Sammelband »Autonomie des Rechts nach 1945« erschienen, herausgegeben von Joachim Rückert und Lutz Raphael. Dieser Band leidet drunter, dass er sich nicht auf einen Autonomiebegriff festlegt. Jestaedt ersetzt in seinem Einleitungsbeitrag Autonomie durch Eigengesetzlichkeit, um in einem »vorläufigen Fazit« zu sagen: »Die Eigengesetzlichkeit des Rechts besteht darin, dass – neues – Recht allein nach Maßgabe von – geltendem – Recht entstehen kann, dass das geltende Recht, mit anderen Worten, seine Veränderung selbst reguliert.« (S. 20) Das ist eine Paraphrase auf den Kelsen-Merkelschen Stufenbau. Ich hätte intuitiv geradezu umgekehrt erwartet, dass eine historische Betrachtung unter dem Stichwort Autonomie oder Eigengesetzlichkeit des Rechts aus dem Stufenbau ausbricht. Diese Erwartung erfüllt nur der Beitrag von Patel zur Rechtsautonomie in der Geschichte der Europäischen Union« (S. 209-224 mit einem »Kommentar« von Hans Christian Röhl S. 225-233). Er hätte auch in einem der Rechtssoziologie gewidmeten Band veröffentlicht werden können. Autonomie des Rechts ist ja ein genuin rechtsoziologisches Thema. Patel und Röhl gehen von der rechtstechnischen Autonomie des Europarechts aus, wie sie in den EUGH-Entscheidungen van Gend & Loos und Costa ./. E.N.E.L zum Ausdruck kommt. Sie betrachten die so gewonnene Unabhängigkeit des Unionsrechts von den nationalen Rechtsordnungen als juristische Erfindung und fragen nach dem institutionellen Setting, dass diese Erfindung möglich gemacht hat und nach der Reaktion mit der Gerichte und Politik der Mitgliedsstaaten geantwortet haben. Es ist keine Überraschung, dass dabei eine Art Diskursgemeinschaft zwischen der Kommission, ihrem juristischen Dienst und nationalen Europa(rechts)experten in Ministerien und Verbänden im Mittelpunkt steht. Was diese Fragestellung betrifft, drängt sich eine gewisse Parallele zu Britta Rehders »Rechtsprechung als Politik« (2011) auf. Auch der interessante Aufsatz von Angela Huyue Zhang, The Faceless Court, University of Pennsylvania Journal of International Law 38, 2016, 71-135, auf den kürzlich der Verfassungsblog aufmerksam gemacht hat, ließe sich hier anlagern.
Nachtrag vom 27. 11. 2020: Zu dem Band von Patel und H. C. Röhl gestern eine ausführliche Rezension von Philip Bajon auf Hsozkult.