Das Nudging-Konzept von Thaler und Sunstein ist so erfolgreich, dass nicht einmal mehr eine Quellenangabe notwendig erscheint. Mich reizt es nur noch zu einer Begriffsklauberei.[1]
Im deutschen Sprachraum läuft das Konzept unter dem Titel »Libertärer Paternalismus«. Dabei handelt es sich wohl nur um eine Übernahme der Ausdrucksweise von Thaler und Sunstein[2], die sich für diese Wortwahl in »Nudge« grob auf Milton Friedman beziehen.[3] Allerdings haben sie schon 2003 ihre Form des Paternalismus als libertär verteidigt[4] und sich dabei auf ein Buch von David Boaz[5] bezogen. Ich habe dieses Buch durchgeblättert, soweit es Google Books zuließ, und bin aus dem Unterschied zwischen liberal und libertär nicht wirklich schlau geworden. Klar ist nur, dass bei Libertären die Distanz zum Staat größer ist als bei Liberalen.[6]
Choice architecture ist wohl eine eigene Begriffsschöpfung von Thaler und Sunstein.[7] Sie verstehen darunter die Gestaltung des Kontextes, in dem Menschen Entscheidungen treffen.[8] Ein nudge ist nur eines unter vielen Bauelementen, die dem Entscheidungsarchitekten zur Verfügung stehen.
Vorläufer von choice architecture waren information architecture und decision architecture. Information architecture ist seit Mitte der 1970er Jahre in der Informatik geläufig.[9] Eine Firma Decision Architects wirbt seit 2006 mit ihrem Namen. Ein Vorgänger war auch Bryan D. Jones mit dem Titel »Politics and the Architecture of Choice« von 2001. Freilich verwendet Jones architecture nicht im Hinblick auf die Gestaltung der für den Entscheider externen Situation, sondern für die interne kognitive Struktur (human cognitive architecture), welche die bounded rationality ausmacht, beschreibt dann aber, wie durch Gestaltung des Vorfelds der Entscheidung deren Rationalität verbessert werden kann. Erst bei Thaler und Sunstein wird architecture zu der gestaltbaren Umgebung des in seiner Rationalität begrenzten Individuums. Die deutsche Übersetzung mit Entscheidungsarchitektur ist nicht voll befriedigend, denn sie lässt nicht erkennen, ob hier über Architektur entschieden wird oder ob ein Architekt Entscheidungen gestaltet.
Die entscheidungslenkende Gestaltung kann zwei Richtungen annehmen. Erstens kann sie versuchen, die Entscheidung so zu lenken, dass moglichst viele der Heuristiken, kognitiven Täuschungen und Prägungen, die eine rationale Entscheidung verhindern, nicht zum Zuge kommen. Und zweitens kann sie genau diese Fesseln der Rationalität nutzen, um Menschen zu einer vollends irrationalen Entscheidung zu drängen. In diesem zweiten Sinne sind Konzept und Begriff der choice architecture von Ökonomie, Marketing und Industrie gierig aufgegriffen worden, so dass man darunter heute in erster Linie die Lenkung des Konsumentenverhaltens im Sinne der Anbieter versteht. Deshalb steht das Konzept unter besonderem Manipulationsverdacht.
Bei Thaler und Sunstein benennt choice architecture das theoretisches Konzept und ist damit eher noch wichtiger als nudge, bezeichnet letzteres doch nur dessen in den Augen der Autoren freilich wichtigste Konkretisierung. In Juristenkreisen ist die Rede über choice architecture erst durch Einträge im Verfassungsblog und den daran anschließenden Tagungsband[10] geläufig geworden. Kein Wunder, dass die Nudge-Debatte fast nur als Paternalismus-Debatte unter dem Gesichtspunkt des Ob geführt wird, obwohl choice architecture im Recht der Sache nach seit eh und je stattfindet. Jede Formvorschrift, jede Frist, jede Belehrung, jedes Formular, das es auszufüllen gilt, wird zum Kontext einer Entscheidung. Interessanter scheint mir jetzt eine Debatte um das Wie zu sein, die im Rahmen von Gesetzgebungslehre und Rechtswirkungsforschung die bereits verwirklichten[11] und weiter denkbaren Gestaltungsmöglichkeiten für eine nicht unmittelbar imperative Steuerung durch Recht aufzeigt, welche zugleich auf direkte materielle Anreize verzichtet.
Choice architecture als Begriff lässt noch keine Beziehung zum Recht erkennen. Hier kommt nun legal design als neuer Ausdruck ins Spiel. Der Begriff ist eigentlich besetzt mit der Bedeutung als legal information design.[12] Aber nicht bloß Information[13] als solche, sondern ihre adressatengerechte Gestaltung = information design ist wesentlicher Bestandteil jeder Entscheidungsarchitektur. Daher wäre der frühere Gebrauch kein Hindernis, dem Ausdruck nunmehr den umfassenderen Sinn von choice architecture zu geben.
In diesem Zusammenhang sind mir zwei weitere Begriffe aufgefallen, die ich jedenfalls erwähnen will, cloverleaf design und gamification[14] In beiden Fällen geht es nicht abstrakt um das Konzept der Kontextgestaltung, sondern um architektonische Stilmittel zu seiner Ausfüllung, um Stücke aus dem Werkzeugkasten der Entscheidungsarchitektur. Ich behaupte nicht, dass die beiden Ausdrücke in der Nudge-Debatte gebraucht werden sollten. Aber ich will sie jedenfalls vorstellen, weil sie insofern einen Kontrast zum Ausdruck bringen, als das eine Werkzeug die Kosten erwünschten Verhaltens erhöht, während das andere das erwünschte Verhalten versüsst.
Auf den Kleeblatt-Effekt (cloverleaf effect) bin ich bei der Lektüre von Lawrence M. Friedmans »Impact« gestoßen.[15] Friedman gibt dem Begriff Gewicht, indem er ihn auf Karl Llewellyn zurückführt, nennt freilich nur Marc Galanter als nicht weniger gewichtige Quelle vom Hörensagen. Hier die komplette Beschreibung durch Friedman:
»A cloverleaf, then, is a device that forces behavior into a certain, desirable groove. You could, theoretically, make drivers slow down when they leave the highway by imposing fines, or even (theoretically) by handing out free candy and cookies to drivers. You could mount an educational campaign. The cloverleaf takes a different tack: it more or less compels the driver to obey. The cloverleaf, in short, makes compliance easier than noncompliance. A fairly reckless but skillful driver can, of course, ignore the cloverleaf and zoom at full speed off the highway, but this is quite dangerous. Most drivers will react to the cloverleaf as expected; that is, by slowing down.« (S. 147)
Das Kleeblatt dient als Metapher für Gestaltungen, die erwünschtes Verhalten erzwingen oder unerwünschtes jedenfalls stark erschweren. Friedman meint, das Recht sei voll von solchen Arrangements, und nennt als Beispiel den Lohnsteuerabzug vom Arbeitslohn. Andere Beispiele, an die man denken könnte, wären die Verschreibungspflicht für Arzneimittel oder der für einen Schwangerschaftsabbruch notwendige Beratungsschein.
Gamification ist auch im Englischen ein Neologismus. Dafür gibt es keine ansprechende Eindeutschung, aber immerhin einen Wikipedia-Artikel. Gamifikation klingt nicht besser als Verspielung. Gemeint ist die Anwendung spielerischer Elemente, um auf ein erwünschtes Verhalten hinzuführen. Beispiele aus dem Rechtsbereich habe ich nicht gefunden.
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[1] Anlass zu diesem Eintrag gibt mir ein Vortrag, den Johanna Wolff am 25. 1. im Bochumer Habilitandenforum über »Nudging und die Energiewende« gehalten hat. Für mich war der Vortrag wichtig, weil er mir die Augen dafür geöffnet hat, dass die Verwaltung viele Möglichkeiten hat, auch ohne gesetzliche Grundlage von den Möglichkeiten der entscheidungssteuernden Kontextgestaltung Gebrauch zu machen.
Nachtrag: Von Wolff jetzt die Habilitationsschrift: Anreize im Recht. Ein Beitrag zur Systembildung und Dogmatik im Öffentlichen Recht und darüber hinaus, 2020.
[2] Diskussionshinweis von Karl Riesenhuber.
[3] Richard H. Thaler/Cass R. Sunstein. Nudge, Improving Decisions About Health, Wealth and Happiness, 2009, dort S. 5 bei Fn. 2. Im Text wird Milton Friedman genannt. Verwiesen wird auf ein Buch von Milton Friedman und Rose Friedman (Free to Choose, 1980). Die Suche nach libertarian und paternalism in Google Books ergibt nur für paternalism zwei Treffer. Im Index kommt libertarian nicht vor. Für paternalism werden im Index vier weitere Fundstellen angezeigt. Die zugehörigen Seiten sind bei Google Boks aber nicht sichtbar.
[4] Cass R. Sunstein/Richard H. Thaler, Libertarian Paternalism Is Not an Oxymoron, The University of Chicago Law Review 70, 2003, 1159-1202.
[5] David Boaz, Libertarianism, A Primer, New York 1998.
[6] Robert Nef erklärt den Unterschied so: »Libertäre und Liberale, oder ›Wirtschaftsliberale‹ und ›Sozialliberale‹ unterscheiden sich punkto Staatsskepsis und Staatsakzeptanz auf jeden Fall graduell, möglicherweise aber auch prinzipiell. Sie finden ihren Zusammenhalt nur in der gemeinsamen Ablehnung des Anarchismus einerseits und des totalitären Etatismus anderseits.« (Und alle wollen Liberale sein, Schweizer Monatshefte Nr. 3/4, 2006, S. 7).
[7] Der Index von Nudge verzeichnet 30 Verwendungen. Vgl. ferner das SSRN-Paper von Richard H. Thaler/Cass R. Sunstein/John P. Balz, Choice Architecture, 2010. Als Vorläufer gab es noch ein SSRN-Paper von 2007: Shlomo Benartzi/Ehud Peleg/Richard H. Thaler, Choice Architecture and Retirement Saving Plans, 2007.
[8] Nudge S. 3.
[9] Vgl. etwa Louis Rosenfeld/Peter Morville, Information Architecture for the World Wide Web, 2. Aufl., Cambridge, Mass 2002.
[10] Alexandra Kemmerer/Christoph Möllers/Maximilian Steinbeis/Gerhard Wagner (Hg.), Choice Architecture in Democracies, Exploring the Legitimacy of Nudging, 2016.
[11] Johanna Wolff interpretiert das Erfordernis der Partnermonate für den längeren Bezug von Elterngeld wegen des finanziellen als eine nugde-ähnliche (hybride) Methode der Verhaltenslenkung (›Partner Months‹ and the Fundamental Rights of Parents – Considerations on the Legitimacy of Nudges and ›Nudgy Legislation‹, in: Alexandra Kemmerer u. a. (Hg.), Choice Architecture in Democracies, Exploring the Legitimacy of Nudging, 2016, 225-265.
[12] Colette R. Brunschwig, Visualisierung von Rechtsnormen. Legal Design, 2001; vgl. ferner mehrere Einträge im Blogbuch »Recht anschaulich«.
[13] In dem vorgenannten Tagungsband befasst sich Oren Bar-Gill mit »Information and Paternalism« (S. 267-269) und bedenkt die Information von Verbrauchern durch Offenlegungs- und Aufklärungspflichten als zulässige und wirksames nudging. Er verliert jedoch kein Wort darüber, dass die sanfte Verhaltenslenkung mit Informationen durch harte Gebote an Dritte erzielt wird, die ihrerseits der Rechtfertigung bedürfen.
[14] Den Hinweis auf diesen Begriff verdanke ich Johanna Wolff.
[15] Lawrence M. Friedman, Impact. How Law Affects Behavior, Cambridge, Massachusetts 2016, S. 147ff.