Crude Witchcraft

Noch einmal komme ich auf den Sammelband »Crude Domination« zurück, den ich im Eintrag vom 4. 11. 2012 vorgestellt hatte [1]Andrea Behrends/Stephen P. Reyna/Günther Schlee (Hg.), Crude Domination, An Anthropology of Oil, Berghahn Books, New York 2011., nunmehr nach der Lektüre des Beitrags der schwedischen Sozialanthropologin Kajsa Ekholm Friedman (S. 107-131). Er trägt die Überschrift »Elves and Witches: Oil Kleptocrats and the Destruction of Social Order in Congo-Brazzaville«. In dem Beitrag Reynas [2]Ste­phen P. Reyna, Con­sti­tu­ting Domination/Constructing Mons­ters, 132–162. ging es um Gerüchte über Zauberei, bei Ekholm Friedman jetzt um Hexenglauben. Der deutsche Leser fragt sich unwillkürlich, ob die Übersetzung von witchcraft mit Hexerei angesichts der mit dem Ausdruck verbundenen Konnotationen angemessen ist. Aber solche Skrupel wären auch schon gegenüber dem englischen Begriff angezeigt, und man darf sich wohl damit beruhigen, dass auch Anthropologen im Deutschen von Hexerei reden [3]Vgl. Erdmute Alber, Hexerei, Selbstjustiz und Rechtspluralismus in Benin, in: Rolf Kappel u. a. (Hg.), Rechtsstaatlichkeit im Zeitalter der Globalisierung, Freiburg im Breisgau 2005, S. 375-402., zumal eine handliche Alternative nicht verfügbar ist. Von Aberglauben zu reden wäre politisch unkorrekt.

Schon von Reyna konnte man lernen, wie Anthropologen nach dem Vorbild von Evans-Pritchard zwischen Hexerei und Zauberei unterscheiden. Ein Zauberer verwendet Utensilien oder greift selbst handelnd ein wie die menschenfressenden Löwenmänner. Der Hexer dagegen kann durch seine bloße Existenz Kausalverläufe zum Bösen wenden. Aber wichtiger als der Unterschied ist das Gemeinsame in den Beiträgen von Reyna und Ekholm Friedman. Beide zeigen, wie die Menschen angesichts der Verletzungen, die ihnen die ölgetriebene Modernisierung in ihrer Heimat zufügt, mit magischen Vorstellungen reagieren.

Ekholm Friedman will erklären, warum in Afrika, und speziell in Kongo-Brazzaville, häufig Jugendliche der Hexerei beschuldigt werden. Das Phänomen scheint nicht unbedeutend zu sein. Entgegen der Erwartung, dass nach der Berührung mit der Moderne okkulte Vorstellungen und Praktiken an Bedeutung verlieren, scheinen sie im Gegenteil jedenfalls in Afrika, und zwar besonders dort, wo die Menschen unter Bürgerkriegen und anderen humanitären Katastrophen zu leiden haben, eher zuzunehmen. [4]Michel Adam, Magic, Witchcraft and Sorcery in Contemporary Africa, Les Cahiers d’Afrique de l’Est IFRA Nr. 31, 2006; Aleksandra Cimpric, Children Accused of Witchcraft. An Anthropological … Continue reading Auf der Internetseite Modern Ghana wird unter dem 18. Juni 2012 ausführlich und mit Bildern von einer Hexenjagd im nigerianischen Bundesstaat Akwa Ibom berichtet. [5]Dave Emma, Witch Hunting Continues In Akwa Ibom State, As Government Official Backs Witch-Hunters. Ein (wohl schon etwas älteres) Video mit grausamen Bildern von einer Hexenverbrennung findet man … Continue reading ALJAZEERA meldet im November 2012, sei es in Akwa Ibom gesetzlich verboten habe, Kinder der Hexerei zu beschuldigen. Daher ist jeder Versuch, das Phänomen wissenschaftlich zu erklären, willkommen.

Ekholm Friedman stellt in einem ersten Schritt fest, dass Hexerei seit jeher einen zentralen Aspekt afrikanischer Kultur bilde (S. 108). Sie distanziert sich insoweit von der Ansicht, der Okkultismus sei eine neu oder wieder erfundene Tradition [6]So etwa Cimbric S. 1, 5., und damit auch von der These von Peter Geschiere [7]Peter Geschiere, The Modernity of Witchcraft, Politics and the Occult in Postcolonial Africa, Charlottesville [Va.] 1997. Ich hatte nur die »Leseprobe»« bei Google-Books zur Verfügung., Hexenglaube und Zaubereigerüchte seien selbst (nur) ein modernes Phänomen, weil sie als Hilfe zum Umgang mit der Angst bemüht werden, die aus der Begegnung mit der Moderne resultiert. Die aktuellen Ausprägungen im Kongo erklärt Ekholm Friedman jedoch sehr wohl als Reaktion auf die Wunden, die die missglückten Modernisierungsversuche aus der Zeit vor und vor allem nach der Unabhängigkeit gerissen haben. Der Glaube an magische Kräfte habe seine Wurzeln schon in vorkolonialer Religion, nämlich in der Idee, dass Lebenskraft von Gott über die Vorfahren und die politische Hierarchie der Könige und Häuptlinge bis hinunter zum Familienvater fließe. Die Vorstellung, dass bestimmte Menschen, über magische Kräfte verfügten, verbinde sich mit dem Glauben, dass nächtliche Träume nicht weniger real seien als die Tagwelt. Traditionell wurden übernatürliche Fähigkeiten aus der Traumwelt jedoch nur auf ältere Menschen transponiert, denen dann auch im Alltag die Fähigkeit beigelegt wurde, Böses zu tun, durchaus auch mit der Folge, dass sie als Hexer oder Hexen zu Tode gebracht wurden. Neu in den letzten 20 Jahren sei aber, dass jetzt vor allem Jugendliche der Hexerei beschuldigt und entsprechend verfolgt würden. Ekholm Friedman erklärt diese Verschiebung als Folge der Zerstörung der sozialen Ordnung und der allgemeinen Verarmung im nachkolonialen Kongo. Die Familienväter seien nicht länger in der Lage, den life spirit an die jüngere Generation weiter zu geben.

Ähnlich, aber viel ausführlicher hatte Ekholm Friedmann schon den ausufernden Fetischismus um die Wende zum 19. Jahrhundert zwar als konkrete als Reaktion auf die Zerstörung der politischen und damit der gesellschaftlichen Ordnung im Kongo erklärt, zugleich aber die unter Anthropologen anscheinend verbreitete Ansicht zurückgewiesen, Afrika habe vor der Kolonialisierung eigentlich keine eigene Religion gehabt. [8]in: Kajsa Ekholm Friedman/Jonathan Friedman, Modernities, Class, and the Contradictions of Globalization, The Anthropology of Global Systems, Lanham, MD 2008, S. 29-88.

Der mittlere Teil des Artikels (S. 110-121) bildet eine selbständige Abhandlung, die den Niedergang von Kongo-Brazaville seit der Unabhängigkeit im Jahre 1960 schildert. Es ist eine ähnlich traurige Geschichte, wie sie Reyna für den Tschad erzählt hat. Anfangs, also 1960, war Kongo-Brazzaville ein für afrikanische Verhältnisse relativ wohlhabendes und entwickeltes Land, das sogar über eine Exportindustrie verfügte. Der unabhängige Staat war jedoch von Beginn an mehr oder weniger identisch mit einer Klasse von Machthabern, bestehend aus einem hierarchischen Zentrum und umgeben von einer Peripherie schlecht bezahlter Klienten. Die politische Klasse ist (heute) selbst im Weltmaßstab reich, denn sie kontrolliert alle von außerhalb einfließenden Gelder, Einnahmen aus der Erdölförderung ebenso wie Auslandsdarlehen und Entwicklungshilfe. Die enge Kooperation mit den Ölmultis macht sie unabhängig von einer Basis in der Bevölkerung, die weder als Steuerzahler noch als Arbeitskraft gebraucht werden. Das ist der Fluch des Ölreichtums (the resource curse). Von den Öleinnahmen kassiern der Ölminister 5 %, der Präsident 10 % und der Rest dient zur Finanzierung des Staatsapparats, vor allem aber des Militärs. Die weiteren Zutaten sind schnell aufgezählt: Wiederholte, teilweise gewaltsame Umstürze, über zwei Jahrzehnte ein sozialistisches Zwischenspiel, das die Exportorientierung zugunsten einer auf Autarkie gerichteten Abkopplung vom Weltmarkt favorisierte; ein Einparteiensystems, das die mögliche Opposition vereinnahmt. Nach Einführung der Mehrparteiendemokratie auf Drängen vor allem des IMF 1990 wurde alles nur noch schlimmer. Zwar wurde der unersättlich geldgierige Präsident Denis Sassou-Nguesso 1992 abgewählt. Doch durch die Stimmabgabe entlang den ethnischen Zugehörigkeiten verschoben sich die Machtverhältnisse und das Land zerfiel in drei ethnisch geprägte Regionen. Ein neuer Politikertyp tauchte auf, der junge Männer aus der eigenen ethnischen Gruppe als Bodygards und Miliz rekrutierte. 1997 kehrte der vom Ölkonzern Elf (jetzt Total) favorisierte Sassou aus dem Exil zurück. Es folgte ein schrecklicher Bürgerkrieg, indem sich Sassou mit Söldnertruppen und ausländischer Hilfe durchsetzte. Und immer spielten der Ölkonzern und Frankreich irgendwie mit. Das Ergebnis waren die Zerstörung aller sozialen Ordnung, generelle Verarmung, Unsicherheit und Gewalt überall. Das Öl geht langsam zur Neige und Sassou ist (nach einer Wiederwahl für sieben Jahre 2009) immer noch im Amt.

Die Zerstörung der Familien und der (erst in der Kolonialzeit neu gebildeten) Clanstrukturen ließ viele Jugendliche verwahrlosen, so dass sie in Straßengangs eine neue Heimat fanden oder sich leicht von Milizen anwerben ließen. Während früher gelegentlich Kinder ihre Eltern der Hexerei anklagten, waren es nach der Bürgerkriegszeit 1992/93 umgekehrt Kinder, die derart beschuldigt wurden, meistens allerdings nicht die leiblichen Kinder, sondern verwaiste Kinder aus dem Clan, die aus traditioneller Solidarität in die Familie aufgenommen worden waren. Wenn die Fähigkeit der Familie, Lebenskraft zu spenden, versage, würden umgekehrt den Jugendlichen magische Fähigkeiten zur Zerstörung zugesprochen. Und die Betroffenen wehrten sich oft gar nicht dagegen, erlebten sie doch im Traum ihre außerordentlichen Fähigkeiten selbst. Die magischen Kräfte würden als Gegengewicht zu den aus dem Westen importierten Wundern der Technik verstanden. Und so bilde der in vorkolonialer Religion verankerte Glaube an magische Kräfte verbunden mit dem Glauben an die Realität der Traumwelten eine Art kulturellen Widerstandes gegen die westliche Zivilisation und gegen die eigene politische Klasse.

Eigentlich müsste man parallel Rainer Becks Buch über einen letzten Hexenprozesse in Deutschland lesen [9]Rainer Beck, Mäuselmacher, C. H. Beck, München, 2001., der 1717 mit der Exekution von drei »Bettelbuben« endete. Das scheitert bei mir schon daran, dass das Buch 1008 Seiten hat. Aber beim Durchblättern fällt eine Parallele auf: Während im 16. und 17. Jahrhundert der typische Hexenprozess gegen ältere Frauen gerichtet war, wurden zu Beginn des 18. Jahrhundert in Freising und anderswo vagierende Jugendliche zu Opfern. Noch stärker ist allerdings die Diskrepanz zu afrikanischen Verhältnissen. In Europa war die Hexenverfolgung eine von kirchlichen und lokalen Autoritäten minutiös bürokratisch organisierte Angelegenheit. In Afrika bleibt sie eher kollektiver Gewalt überlassen.  Und dennoch drängt sich die Frage nach Vergleichsmöglichkeiten auf. Von den Anthropologen wird sie nicht aufgenommen. Hätten nicht Kajsa Ekholm-Friedman und Jonathan Friedman in der Einleitung zu ihrem Buch von 2008 die soziologische Modernisierungstheorie so rigoros zurückgewiesen, käme man vielleicht auf die Idee, für Afrika von einer unvollendeten Modernisierung zu sprechen. So bleibt der Eindruck, die Gerüchte von Zauber und Gegenzauber und die Suche nach Hexen seien ohnmächtige Reaktionen auf die erzwungene Berührung mit einer dauerhaft fremden Moderne.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Andrea Behrends/Stephen P. Reyna/Günther Schlee (Hg.), Crude Domination, An Anthropology of Oil, Berghahn Books, New York 2011.
2 Ste­phen P. Reyna, Con­sti­tu­ting Domination/Constructing Mons­ters, 132–162.
3 Vgl. Erdmute Alber, Hexerei, Selbstjustiz und Rechtspluralismus in Benin, in: Rolf Kappel u. a. (Hg.), Rechtsstaatlichkeit im Zeitalter der Globalisierung, Freiburg im Breisgau 2005, S. 375-402.
4 Michel Adam, Magic, Witchcraft and Sorcery in Contemporary Africa, Les Cahiers d’Afrique de l’Est IFRA Nr. 31, 2006; Aleksandra Cimpric, Children Accused of Witchcraft. An Anthropological Study of Contemporary Practices in Africa, Unicef Dakar April 2010.
5 Dave Emma, Witch Hunting Continues In Akwa Ibom State, As Government Official Backs Witch-Hunters. Ein (wohl schon etwas älteres) Video mit grausamen Bildern von einer Hexenverbrennung findet man auf der Seite LiveLeak.
6 So etwa Cimbric S. 1, 5.
7 Peter Geschiere, The Modernity of Witchcraft, Politics and the Occult in Postcolonial Africa, Charlottesville [Va.] 1997. Ich hatte nur die »Leseprobe»« bei Google-Books zur Verfügung.
8 in: Kajsa Ekholm Friedman/Jonathan Friedman, Modernities, Class, and the Contradictions of Globalization, The Anthropology of Global Systems, Lanham, MD 2008, S. 29-88.
9 Rainer Beck, Mäuselmacher, C. H. Beck, München, 2001.

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Ethnologen, Sozialanthropologen und die zahlreichen auf Entwicklung und Entwicklungsländer spezialisierten Forschungseinrichtungen [1]Eine ganz unvollständige Aufzählung im Posting vom 14. 7. 2012: Die Rolle des Rechts im Prozess der nachholenden Modernisierung. bieten Informationen beinahe im Überfluss. Man kann nicht alles lesen und als Fachfremder nur schwer verallgemeinern. Vor diesem Problem stehe ich bei der weiteren Lektüre des Sammelbandes »Crude Domination«, den ich in einem Eintrag vom 4. 11. 2012 vorgestellt hatte. Heute habe ich mir die Beiträge der Herausgeber Behrends und Reyna vorgenommen. [2]Reyna und Behrends gehören zu den Gründern des Centre for Research in Anthropology and Human Sciences (CRASH) in N‘Djaména (Tschad).
Der Beitrag der englischen Anthropologen Stephen P. Reyna ist überschrieben »Constituting Domination/Constructing Monsters« (S. 132-162). Er trägt den Untertitel »Imperialism, Cultural Desire and Anti-Beowulfs in the Chadian Petro-state« und ist vollständig bei Google-Books nachzulesen. Reyna will erklären, warum sich in der Ölregion des Tschad Gerüchte verbreitet haben, in der Nacht seien menschenfressende lionmen (Löwenmänner, Menschenlöwen?) unterwegs. Er hat seine Erklärung doppelt verpackt und mit einem bunten Aufkleber versehen.
Als Aufkleber dient die Geschichte von Beowulf, der dem dänischen König Hrothgar im Kampf gegen das Trollmonster Grendel zur Hilfe eilte. Den Grendel spielt in Reynas Geschichte das Konsortium aus Esso, Petronas und Chevron, das in der Doba-Region des Tschad die Ölförderung betreibt. Hrothgar ist wohl die einheimische Bevölkerung, die unter der Kollusion von Ölindustrie und der Staatselite des Tschad zu leiden hat. Die Analogie zum Beowulf besteht darin, dass in der Bevölkerung das Ölkonsortium als Monster wahrgenommen wird, dass über Zauberkräfte verfügt. So entstehen in den Köpfen die lionmen als Beowulfs, die das Ölmonster bekämpfen. Wie so oft, wenn Wissenschaftler Mythologie oder Literatur bemühen, entsteht auch hier nur Schaum.
Die äußere Hülle der Geschichte findet ihren Platz in der der Rubrik »Mogelpackung« der Stiftung Warentest. Als ozeangängiger Container für ein mittelgroßes Postpaket dient der »informale« Imperialismus der USA. Der Container scheint aus »Plunder« von Ugo Mattei und Laura Nader zu stammen. Die innere Hülle, die den Inhalt stoßfest halten soll, ist der Entwurf einer kompletten Gesellschaftstheorie, die als »Struktureller Realismus« daher kommt, als gäbe es keine Soziologie. Die einzige explizite Anleihe ist das Konzept der performativity logic von Judith Butler, ein Konzept, das seinerseits durch seine Soziologievergessenheit auffällt. Im konkreten Fall wäre das Erzählmuster von der Spinne in der Yucca-Palme kaum weniger erklärungskräftig. Man kann die Verpackung getrost entsorgen. Der Inhalt steht für sich.
Die Erklärung für die Lionmen-Gerüchte entfaltet sich in drei Schritten. Im ersten stellt Reyna die Entwicklung des Tschad seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1960, das Eindringen der Erdölindustrie und ihre Komplizenschaft mit der Staatselite dar. Diese Entwicklung kam 2003 mit der Aufnahme der Erdölförderung durch »das Konsortium« zu einem gewissen Abschluss. Sie wird von Reyna als Konkurrenzkampf zwischen Frankreich und den USA um die Ausweitung und Festigung ihrer Interessensphären geschildert, in dem Frankreich sich am Ende mit seinem Favoriten Idriss Déby an der Staatspitze durchgesetzt hat, seine Beteiligung an der Ölförderung aber an das Konsortium mit der amerikanischen Esso verlor.
Im zweiten Schritt wird beschrieben, wie sich unter den Bürgerkriegswirren in der Bevölkerung ubiquitäre Angst um Hab und Gut, Leib und Leben aufgebaut hat. Für den sicherheitsbesessenen Westeuropäer, der sich nicht vorstellen kann, wie die Menschen unter den gegebenen Umständen dort leben, ist die Darstellung eindrucksvoll.
Im Anschluss daran will Reyna erklären, wie »das Konsortium« in den Augen der Bevölkerung zum unförmigen Monster wurde, dass für die Übel der Vergangenheit und Gegenwart verantwortlich gemacht wird, obwohl es sich selbst als Wohltäter der Region darstellt. Die Selbstdarstellung [3]Eine Selbstdarstellung des Konsortiums findet man unter http://www.essochad.com/. wird als cloaking abgetan. Irgendwie fehlt dem Leser aber doch eine Würdigung der anfangs hoch gepriesenen Einigung der Weltbank mit Ölindustrie und Regierung von 2001, die Beeinträchtigungen der indigenen Bevölkerung und der Umwelt durch die Ölförderung auszugleichen und einen erheblichen Teil der Öleinnahmen zur Entwicklung des Landes zu verwenden. Es ist bekannt, dass dieser Akkord von der Regierung beiseitegeschoben wurde mit der Folge, dass die Weltbank ausstieg [4]World Bank Statement on Chad-Cameroon Pipeline.. Doch selbst dann, wenn das Konsortium sich weiterhin bemüht haben sollte, Umwelt und Bevölkerung zu schonen und vielleicht sogar zu entwickeln, so hättees die Wunden der Vergangenheit nicht heilen können. Deshalb ist es einleuchtend, dass »das Konsortium« für die Bevölkerung zum Sündenbock wurde. Die Entwicklung des Sündenbocks zum Monster ist die afrikanische Zutat. Dazu deutet Reyna (S. 152) die besondere Weltsicht der Menschen im Tschad an, die neben der sichtbaren eine unsichtbare Welt kennt, in der sich Unerklärliches ereignet. In dieser Welt gibt es Hexen und Zauberer. Zu dem Bestand magischer Vorstellungen gehört auch, dass bestimmte Menschen sich in Löwen verwandeln und ihre Opfer fressen können. Dem Öl-Konsortium, das alle Wunder der Technik zum Einsatz bringt, unter anderem Radarpistolen, mit denen Wachleute die Geschwindigkeit von Autos messen, werden magische Kräfte zugeschrieben. Aus dem Sündenbock wird ein Monster mit Zauberkräften, dessen Mitarbeiter Menschen fressen. Als eine Form der Gegenwehr entsteht die Vorstellung, es seien Löwenmenschen unterwegs, die des Nachts die Zauberer vom Konsortium fräßen. »Those spreading the rumors were … not people who had directly seen the consortium sorcers or the lionmen, but they got the story from somebody who knew. So … Doba Basin people learned: Consortium employee sorcerers ate villagers; villager lionmen ate consortium employees.« (S. 157)
Der fachfremde Leser kann diese Erklärung nachvollziehen. Aber seine Fragen sind damit nicht beantwortet. Er möchte Genaueres über die Verbreitung und Relevanz der Zauber-Gerüchte wissen. In der Einleitung hatte Reyna mitgeteilt, dass er von dem Löwenmann-Gerücht 2003 in einem Gespräch mit seinem Fahrer erfahren habe. 2002/2003 und 2007 hat Reyna in Interviews von Menschen aus allen Bevölkerungsschichten, ausgenommen einige höhere Beamte, stark negative Urteile über das Konsortium gehört. Ob und wie häufig ihm dabei auch das Löwenmann-Gerücht begegnet ist, sagt er nicht. Der Leser wüsste auch gerne, ob das Löwenmann-Gerücht mehr ist als ein kleines Trostpflaster, insbesondere, ob es eine Basis für realen Widerstand bildet. Der Leser hätte aber auch gerne mehr über die afrikanischen Eliten erfahren. Anscheinend interessieren sich die Anthropologen wenig für diese Eliten oder sie finden keinen Zugang. Wie kann es angehen, dass nach über 50 Jahren Unabhängigkeit der Tschad immer noch und immer wieder als failed state erscheint? Die Erklärung aus der kolonialen Vergangenheit oder – bei Peyna – als Produkt eines ressourcengierigen US-Kapitalismus ist einfach zu simpel, um Gehör zu finden. Da argumentiert die Mitherausgeberin Andrea Behrends sehr viel differenzierter.
Ihr Beitrag ist überschrieben »Fighting for Oil When Tere is No Oil Yet. The Darfour Chad Border« (S. 81-106). Behrends präsentiert die ganze Vielfalt der lokalen nationalen und internationalen Akteure, die an den offenen und latenten Bürgerkriegszuständen beteiligt sind, und ihre mutmaßlichen Interessen und Beweggründe. Sie probiert verschiedene Thesen, die zur Erklärung des Geschehens angeboten werden, so diejenige von Collier und Höffler, dass die Bürgerkriege direkt durch Öleinnahmen geschürt werden [5]Paul Collier/Anke Hoeff­ler, Greed and Grie­vance in Civil War, Oxford Eco­no­mic Papers 56, 2004, 563–595 (hier zitiert nach einer im Inter­net ver­füg­ba­ren Fas­sung von 2002)., oder die Annahme von Michael Ross [6]Im Internet verfügbar »Natural Resources and Civil War: An Overview« (2003)., dass Ressourcen, die wie das Öl ortsfest sind und nur mit großen Investitionen mobilisiert werden können, separatistische Konflikte, oft entlang ethnischer Trennlinien, befördern. Und sie prüft natürlich die These vom Fluch des Öls, wie sie von Terry L. Karl [7]Sein Buch von 1997 (The Perils of Petroleum: Reflections on the Paradox of Plenty) habe ich nicht zur Verfügung. Im Internet zugänglich ist jedoch von Karl das Working Paper »Oil-led Development: … Continue reading formuliert wurde. Behrends findet keine der angebotenen Theorien für sich genommen ausreichend und differenziert zwischen den Verhältnissen im Tschad und in Darfour. Die Details sind so komplex, dass ein kurzes Referat sie verstümmeln müsste. Bei Google-Books kann man Behrends‘ Beitrag jedenfalls zum größeren Teil nachlesen, besser als gar nicht.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Eine ganz unvollständige Aufzählung im Posting vom 14. 7. 2012: Die Rolle des Rechts im Prozess der nachholenden Modernisierung.
2 Reyna und Behrends gehören zu den Gründern des Centre for Research in Anthropology and Human Sciences (CRASH) in N‘Djaména (Tschad).
3 Eine Selbstdarstellung des Konsortiums findet man unter http://www.essochad.com/.
4 World Bank Statement on Chad-Cameroon Pipeline.
5 Paul Collier/Anke Hoeff­ler, Greed and Grie­vance in Civil War, Oxford Eco­no­mic Papers 56, 2004, 563–595 (hier zitiert nach einer im Inter­net ver­füg­ba­ren Fas­sung von 2002).
6 Im Internet verfügbar »Natural Resources and Civil War: An Overview« (2003).
7 Sein Buch von 1997 (The Perils of Petroleum: Reflections on the Paradox of Plenty) habe ich nicht zur Verfügung. Im Internet zugänglich ist jedoch von Karl das Working Paper »Oil-led Development: Social, Political and Economic Consequences« (2009) sowie von Ian Gary und Terry L. Karl »Bottom of the Barrel: Africa’s Oil Boom and the Poor« 2003.

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