Jerome Frank (1889-1957), einem prominenten Legal Realist, wird – wohl zu Unrecht [1]Frederick F. Schauer, Thinking Like a Lawyer, 2009, 129, Fn. 15. – das Bonmot nachgesagt, richterliche Urteile seien davon abhängig, wie der Richter gefrühstückt habe. Daran erinnert eine Meldung, die man vor einer Woche in den Zeitungen lesen konnte. [2]Richter mit Bauchgefühl, Süddeutsche.de. Es geht um eine Untersuchung von Shai Danziger, Jonathan Levav und Liora Avnaim-Pesso, die in einer von keinem geringeren als Daniel Kahnemann editierten Ausgabe der Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) erschienen ist. [3]Der Artikel wurde wohl am 11. April vorab veröffentlicht. Dies ist die gewünschte Zitierweise: Shai Danziger, Jonathan Levav, and Liora Avnaim-Pesso, Extraneous factors in judicial decisions. PNAS … Continue reading Hier ist das Abstract:
»Are judicial rulings based solely on laws and facts? Legal formalism holds that judges apply legal reasons to the facts of a case in a rational, mechanical, and deliberative manner. In contrast, legal realists argue that the rational application of legal reasons does not sufficiently explain the decisions of judges and that psychological, political, and social factors influence judicial rulings. We test the common caricature of realism that justice is “what the judge ate for breakfast” in sequential parole decisions made by experienced judges. We record the judges’ two daily food breaks, which result in segmenting the deliberations of the day into three distinct “decision sessions.” We find that the percentage of favorable rulings drops gradually from ≈65% to nearly zero within each decision session and returns abruptly to ≈65% after a break. Our findings suggest that judicial rulings can be swayed by extraneous variables that should have no bearing on legal decisions.«
An 50 Sitzungstagen hatten die Psychologen Daten aus 1.112 Fällen gesammelt, die von acht verschiedenen Richtern behandelt wurden. Zu entscheiden war über die Entlassung von Strafgefangenen auf Bewährung oder über eine Änderung der Bewährungsauflagen. An einem Sitzungstag behandelten die Richter zwischen 14 und 35 Fällen. Etwa um zehn Uhr, nachdem sie sieben bis acht Fälle erledigt hatte, machten die Richter die erste Frühstückspause von etwa einer halben Stunde Dauer. Nach weiteren elf bis zwölf Fällen folgte gegen 13 Uhr die Mittagspause, die etwa eine Stunde dauerte. Festgehalten wurde, ob den Anträgen der Gefangenen stattgegeben oder ob sie zurückgewiesen wurden, was in 64,2 % der Fälle geschah. Das Ergebnis ist frappierend. Günstige Entscheidungen erhalten die Antragsteller fast nur unmittelbar nach Sitzungsbeginn und im Anschluss an die Unterbrechung der Sitzung durch die Frühstücks- oder Mittagspause. Wie dramatisch die Abhängigkeit der Entscheidung von dem Platz auf der Terminsrolle ist, zeigt die Abbildung 1 der Autoren:
Die Skala zeigt den Anteil der dem Antragsteller günstigen Entscheidungen. Die kleinen Kreise markieren jeweils die erste Entscheidung zu Beginn der Sitzung, die punktierten Linien die Frühstücks- bzw. die Mittagspause. Die Suche nach anderen Variablen, die dieses Entscheidungsmuster erklären könnten, blieb ziemlich erfolglos. Insbesondere eine Erschöpfungshypothese, nach der allein die Dauer der Sitzung den Effekt verursacht, ließ sich nicht bestätigen. Getestet wurde auch die Vermutung, Richter könnten eine Vorstellung darüber haben, wie hoch der Anteil positiver Entscheidungen sein solle; die Ablehnungen häuften sich, wenn diese »Quote« erfüllt sei. Aber auch diese Vermutung erwies sich nicht als haltbar, denn es zeigte sich, dass ein Richter, der bis zu einem bestimmten Zeitpunkt viele günstige Entscheidungen getroffen hatte, auch bei nachfolgenden Entscheidungen auf der positiven Spur blieb.
Bei der Diskussion ihrer Ergebnisse meinen die Autoren, sie hätten einen Beleg dafür erbracht, dass Richter, die nacheinander mehrere gleichartige Fälle zu entscheiden hätten, eine Tendenz zur Bestätigung des status quo entwickelten, eine Tendenz, die durch eine Erfrischungspause unterbrochen wird. Im Übrigen ordnen sie ihre Untersuchung in die psychologische Literatur über den Einfluss externer Faktoren, insbesondere des so genannten anchoring, auf Expertenentscheidungen ein. Auf einschlägige Arbeiten habe ich in einem früheren Artikel über »Rechtsrelevante Sozialpsychologie« schon einmal hingewiesen.
Ich kann diese Untersuchung nicht fundiert diskutieren. Ich meine jedoch, dass man eine Erklärung des Phänomens mit Hilfe der Equity-Theorie [4]Röhl, Rechtssoziologie, § 19. noch nicht von der Hand weisen kann. Vielleicht war die Quotenhypothese dazu zu grob.
Es trifft sich, dass gestern in der heimlichen Juristenzeitung [5]Strafausgleich, FAZ vom 20. 4. 2011, S. N3. eine Notiz über eine Untersuchung des Potsdamer Psychologen Wolf Schwarz über Elfmeterentscheidungen von Schiedsrichtern [6]Compensating Tendencies in Penalty Kick Decisions of Referees in Professional Football: Evidence From the German Bundesliga 1963-2006, Journal of Sports Sciences 29, 2011, 441 – 447. Auch … Continue reading zu finden war, die den Eindruck erweckt, dass die Schiris nach dem Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit verfahren, denn die Wahrscheinlichkeit, einen Elfmeter zugesprochen zu bekommen, steigt, wenn die Mannschaft zuvor selbst einen Strafstoß hinnehmen musste. Hier das
Abstract:
»Using a large representative database (12,902 matches from the top professional football league in Germany), I show that the number (441) of two-penalty matches is larger than expected by chance, and that among these 441 matches there are considerably more matches in which each team is awarded one penalty than would be expected on the basis of independent penalty kick decisions (odds ratio = 11.2, relative risk = 6.34). Additional analyses based on the score in the match before a penalty is awarded and on the timing of penalties, suggest that awarding a first penalty to one team raises the referee’s penalty evidence criterion for the same team, and lowers the corresponding criterion for the other team.«
Nachtrag vom 3. Mai 2011: Ein freundlicher Leser fragt: … haben die Leute auch die Hypothese getestet, dass die Richter die Fälle abhängig von dem erwarteten Ausgang terminieren: Die einfachen, schnell zu entscheidenden zunächst, die schwierigeren vor der Pause, um ggfs. genug Zeit zu haben? Das haben sie nicht.
Anmerkungen
↑1 | Frederick F. Schauer, Thinking Like a Lawyer, 2009, 129, Fn. 15. |
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↑2 | Richter mit Bauchgefühl, Süddeutsche.de. |
↑3 | Der Artikel wurde wohl am 11. April vorab veröffentlicht. Dies ist die gewünschte Zitierweise: Shai Danziger, Jonathan Levav, and Liora Avnaim-Pesso, Extraneous factors in judicial decisions. PNAS 2011 : 1018033108v1-201018033. (Der Artikel ist online nur gegen Bezahlung zugänglich.) |
↑4 | Röhl, Rechtssoziologie, § 19. |
↑5 | Strafausgleich, FAZ vom 20. 4. 2011, S. N3. |
↑6 | Compensating Tendencies in Penalty Kick Decisions of Referees in Professional Football: Evidence From the German Bundesliga 1963-2006, Journal of Sports Sciences 29, 2011, 441 – 447. Auch dieser Artikel ist nicht frei zugänglich. Ich habe ihn nicht gelesen. |