Narrative, Inszenierung und Rhetorik: Begriffe mit konstruktivistischem Überschuss

Für die heute startende Online-Tagung »Narratives in Times of Radical Transformation« werden Narrative als sinnstiftende Erzählungen eingeführt. Das Narrativ

»hat Einfluss auf die Art, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen und transportiert Werte und Emotionen. In der Regel bezieht sich das Narrativ auf einen Staat oder einen kulturellen Raum und unterliegt einem zeitlichen Wandel. In diesem Sinne sind Narrative keine beliebigen Geschichten, sondern etablierte Erzählungen, die mit einer Legitimität versehen sind.«

Dann folgt das übliche Antragsnarrativ: Immer mehr Wissenschaftler und immer mehr Disziplinen beschäftigen sich damit. Und deshalb müssen wir jetzt diese Tagung abhalten. Die Tagung mag ja durchaus ihre Berechtigung haben.

Meine Skepsis hinsichtlich der Relevanz der Narratologie für Rechtssoziologie und Rechtstheorie habe ich vor Jahr und Tag in fünf Einträgen zum Ausdruck gebracht.[1]

In meinen Notizen zu »Recht und Literatur« finde ich: James Boyd White hat wohl als erster deutlich den Unterschied zwischen Narration und Argumentation formuliert:

»I think a fundamental distinction can be drawn between the mind that tells a story and the mind that gives reasons: one finds its meaning in representations of events as they occur in time, in imagined experience; the other in systematic or theoretical explanations, in the exposition of conceptual order or structure. One is given to narrative, the other to analysis.«

Ich kann das Zitat im Moment nicht mehr verifizieren. Es wird wohl richtig sein. Vor allem ist es in der Sache zutreffend. Geschichten zu erzählen, ist nicht Sache der Jurisprudenz. Davon hat mich auch Bernhard Lomfeld nicht überzeugt, indem er den Narrationsansatz auf »Recht und Literatur« gebürstet hat.[2] Rechtskritik kann man nicht mit Gegennarrationen begegnen, sondern nur mit Argumenten.

Heute will ich eine Anmerkung über den konstruktivistischen Überschuss des Narrativ-Begriffs hinzufügen. Er wird deutlich, wenn man den Begriff in eine Reihe mit Inszenierung und Rhetorik stellt. Die drei Begriffe werden verwendet, um eine Position zu dekonstruieren und so zu delegitimieren. Das Verfahren ist immer dasselbe. Die Position, die man kritisieren will, wird nicht als solche auf ihren Wahrheits- oder Richtigkeitsanspruch geprüft. Vielmehr wird eine Zwischenebene der Herstellung und Darstellung eingezogen, die die kritisierte Position von ihrer Begründung trennt, indem sie eben zu einer kleinen oder großen Erzählung, als Inszenierung oder als rhetorisch stilisiert wird. Damit wird mehr oder weniger deutlich unterstellt, dass es um Geschichten an Stelle von Argumenten, um den bloßen Schein der Inszenierung (von Recht) oder um Rhetorik statt Inhalt gehe.


[1]Legal Narratives vom 3. 11. 2009; Legal Narratives II vom 13. 12. 2009; Legal Narratives III: »Von den Fällen, die fallweise im Einzelfall anfallen.« vom 6. 6. 2010; Legal Narratives IV 16. 7. 2010; Legal Narratives V: Peter Stegmaiers ethnographischer Blick vom 10. 12. 2010.  Weitere Einträge, die das Stichwort aufgreifen: Ästhetische und narrative Geltung und Robert M. Cover und seine Jurisprudenz der Leidenschaft und des Widerstands.

[2] Bertram Lomfeld, Narrative Jurisprudenz, JZ 2019, 369-373.

 

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Robert M. Cover und seine Jurisprudenz der Leidenschaft und des Widerstands Teil II

Soweit ging es um den Rechtsschöpfungsprozess (jurisgenerative process) in einer, wie Cover sagt, imaginären Welt, in der sich das Recht allein aus dem »hermeneutischen Impuls« – the human need to create and interpret texts –, entwickeln würde. Das ergibt ein idyllisches Bild:

»Law would develop within small communities of mutually committed individuals who cared about the text, about what each made of the text, and about one another and the common life they shared. Such communities might split over major issues of interpretation, but the bonds of social life and mutual concern would permit some interpretive divergence.« (S. 40)

Aber:

»the jurisgenerative principle by which legal meaning proliferates in all communities never exists in isolation from violence. Interpretation always takes place in the shadow of coercion. And from this fact we may come to recognize a special role for courts. Courts, at least the courts of the state, are characteristically ›jurispathic‹.« (S. 40)

Es gibt zu viel Recht, und dem begegnen die Gerichte, indem sie gewaltsam ein Recht anerkennen und die anderen Rechte vernichten.

»Modern apologists for the jurispathic function of courts usually state the problem not as one of too much law, but as one of unclear law. The supreme tribunal removes uncertainty, lack of clarity, and difference of opinion about what the law is. This statist formulation is either question begging or misleading.« (S. 42)

Kommentatoren[1] verstehen diese Stelle als implizite Ausein-andersetzung mit gängigen Theorien über die richterliche Rechtsfindung. Doch Cover begnügt sich damit, die richterliche Tätigkeit in Zweifelsfällen als eine negative zu behaupten: law-killing statt law making[2]. Das klingt nach Super-Hobbes.

Auf jeden Fall handelt es sich um eine Schlüsselstelle in Covers Text. Sie erweckt den Eindruck, als ob Gewalt erst mit den Gerichten in die Welt kommt. Diesem Eindruck tritt Cover zwar im nächsten Abschnitt entgegen. Doch Beweislast und Gewichte sind jetzt verteilt. Cover spielt mit dieser Ambivalenz, um das plurale Recht aufzuwerten. Das plurale Recht ist das eigentliche Recht. Richter sind nicht Pathologen des Rechts, sondern selbst pathologisch.

Immerhin bleibt ein Argument für die Aufwertung pluralen Rechts. Seine Bildung geht mit Engagement (commitment) einher (S. 45).[3] Einige Interpretationen sind gar mit Blut geschrieben (S. 46). Und es ist gelebtes Recht. (Dagegen müssen Richter ihr Recht nicht selbst »leben«.) Damit ändert sich für Cover die Wertung des zivilen Ungehorsams, stammt er doch aus einer jurisgenerative community out of which legal meaning arises the integrity of a law of its own (S. 47). Und daraus folgen unvermeidbar Konflikte mit dem staatlichen Recht.

»Commitment, as a constitutive element of legal meaning, creates inevitable conflict between the state and the processes of jurisgenesis.« (S. 46)

Die Richter machen sich die Sache nicht leicht, dennoch,

»all judges are in some way people of violence« (S. 47).

Dramatischer noch kommt dieser Aspekt zwei Jahre später in »Violence and the Word« zur Sprache.

»Legal interpretation takes place in a field of pain and death. … A judge articulates her understanding of a text, and as a result, somebody loses his freedom, his property, his children, even his life. Interpretations in law also constitute justifications for violence which has already occurred or which is about to occur.«

Gewalt ist nicht genug. Folter kommt hinzu, und die beginnt schon mit der Befragung im Verfahren.[4] Es ist ja richtig, dass wir die Justizverlierer gerne vergessen. Doch selbst unter dem Eindruck der in den USA noch immer aktuellen Todesstrafe, angesichts der Tatsache, dass in Gefängnissen Gewalt an der Tagesordnung zu sein scheint (und auch noch in der Zeit nach Guantanamo) sind das starke Worte; sie werden mehr durch historische als durch aktuelle Beispiele unterfüttert. Für Cover sind die Verlierer auch der modernen Justiz alle kleine Märtyrer.[5] Er fügt allerdings hinzu:

»If I have exhibited some sense of sympathy for the victims of this violence it is misleading. Very often the balance of terror in this regard is just as I would want it.«

So differenziert Covers weitere Ausführungen auch sein mögen: der Ton macht die Musik, und der Ton ist sehr laut.[6]

Zurück zu »Nomos and Narrative«. Die injustice of official law gilt für Cover als ausgemacht, wenn die community sich in Law-Review-Artikeln eine Gegenmeinung gebildet hat (S. 47). Es ist die committed action, die (echtes) Recht von bloßer (Rechts)-Literatur unterscheidet (S. 49). Wer sich für sein Recht engagiert, für den ist die Gewalt des Staates ein bloßes Faktum:

»If there is a state and if it backs the interpretations of its courts with violence, those of us who participate in extrastate jurisgenesis must consider the question of resistance and must count the state’s violence as part of our reality.« (S. 53)

Bemerkenswert, dass Cover hier in die Wir-Aussage überwechselt. Und noch einmal:

»Judges are people of violence. Because of the violence they command, judges characteristically do not create law, but kill it. Theirs is the jurispathic office.« (S. 53)

Versöhnlich heißt es aber weiter »judges are also people of peace«. Sie kleiden ihr Tun, damit es nicht als nackte Gewalt erscheint, ihrerseits in Narrative wie das vom Gesellschaftsvertrag oder vom Wohlfahrtstaat (S. 54). Bei der Ausübung ihrer Tätigkeit distan-zieren sie sich mit Narrativen über richterliche Unabhängigkeit mehr oder meist weniger von der Exekutive, die unmittelbar über die Gewalt verfügt. Hier leuchtet eine kleine, versöhnende Vision auf:

»It is possible to conceive of a natural law of jurisdiction. In elaborating such a law … a judge might appeal to narratives of judicial resistance …. He might thus defend his own authority to sit in judgment over those who exercise extralegal violence in the name of the state. In a truly violent, authoritarian situation, nothing is more revolutionary than the insistence of a judge that he exercises such a ›jurisdiction‹ – but only if that jurisdiction implies the articulation of legal principle according to an independent hermeneutic … «

In den Folktales of Justice knüpft Cover daran wieder an, um in der jüdischen Tradition nach Narrativen vom mutig unabhängigen Richter zu suchen. Ein modernes Beispiel eines solchen Narrativs mit der »gesture of speaking truth to power« findet er dort am Ende im Russell-Tribunal zum Vietnam-Krieg.

Nomos and Narratives beschließt ein Abschnitt, der doch noch die Verdienste des imperial law, für das Staat und Richter stehen, würdigt (S. 60ff).

»But the Temple has been destroyed – meaning is no longer unitary; any hermeneutic implies another.«

Deshalb muss eine übergreifende Rechtsordnung für Frieden sorgen. Aber einen neutralen Standpunkt gibt es dafür nicht.

»Judges are like the rest of us. They interpret and they make law.« (S. 67).

Die Wortgewalt Covers hat mich nicht davon überzeugt, dass Gewalttätigkeit das hervorstechende Merkmal staatlichen Rechts sei. Ohnehin hätte dieses Attribut keine direkten Konsequenzen. Ebenso wenig überzeugt sie mich von der Qualität gesellschaft-lichen Rechts. Seine Aufwertung gesellschaftlichen Rechts macht vor Kelsens Räuberbanden keinen Halt. Auch fundamentalistische Religionen, rassistische oder mafiöse Zirkel haben ihren Nomos, und Cover bietet keinen Maßstab, um diesen den Respekt zu verweigern.[7] Wenn eine Stellungnahme zu zivilem Ungehorsam gefordert ist, ziehe ich Martin Krieles nüchterne Stellungnahme[8] vor.

Richtig und wichtig bleibt freilich, dass es keine hermeneutisch überlegene Position für staatliche Rechtsanwender gibt (S. 42). »The judge [is] armed with no inherently superior interpretive insight« (S. 54). Richter sind nicht per se klüger als alle anderen. Insofern ist es sicher richtig zu sagen, dass staatliches Recht dem »gesellschaftlichen« nicht a priori überlegen ist. Aber diese Einsicht ist eher trivial. Wem Gott ein Amt gibt, dem mag er auch Verstand geben. Richterämter werden nicht von Gott vergeben. Richtig und wichtig ist ferner, dass Gerichte selten oder nie normative Ideen neu erfinden, sondern stets nur eine Auswahl unter dem Normmaterial treffen, dass an sie herangetragen wird. Aber die Kür ist keine gewaltsam-willkürliche Vernichtung der Alternativen, sondern eine bedachte Wahl. Nur ein imperial law, das an die Stelle einer Interpretation aus Leiden und Leidenschaft eine Interpretation aus distanzierter Vernunft jedenfalls versucht, hat die Chance, die positive Pluralität zu gewährleisten, die Cover in eine Fußnote verbannt hat.

Richard K. Sherwin, der Cover als einen in der Wolle gefärbten Illiberalen kritisiert, der romantischem Märtyrertum das Wort rede, will dann doch noch eine Lehre ziehen:

»In light of the foregoing critique, perhaps Cover’s most valuable contribution may be put as follows: Only after reencountering (or, if we are fortunate, by anticipating) the chaotic violence spawned by radically opposing beliefs do we come to appreciate (perhaps even strongly enough to practice) the wisdom of liberal constraint. Repulsing the chaos of polynomial fecundity on the one side and totalitarian belief on the other, liberalism finds the bounds within which untrammeled discourse may safely flourish.«[9]

Covers Rückgriff auf jüdische Rechtstradition ist in meinem Refereat zu kurz gekommen. Mit Absicht. Vorläufig sei dazu auf die kundige und ausgewogene Würdigung von Suzanne Last Stone verwiesen.[10]

 

[1] Wie Franklin G. Snyder, Nomos, Narrative, and Adjudication: Toward a Jurisgenetic Theory of Law, William and Mary Law Review 40, 1998, 1623-1729, S. 1629, 1634.

[2] Snyder S. 1624.

[3] In einer Fußnote bezieht Cover sich dazu auf Heidegger, Sein und Zeit. Wenn man allerdings so verallgemeinernd Interpretation und Engagement zusammenbindet, entsteht die Frage, was plurale Interpretation von richterlicher unterscheidet.

[4] Violence and the Word, S. 1603.

[5] Violence and the Word, S. 1604.

[6] Auf die m. E. missglückte Argumentation mit dem Milgram-Experiement (S. 1613ff) hatte ich schon hingewiesen.

[7] Snyder, Nomos, Narrative, and Adjudication, 1627; Richard K. Sherwin, Law, Violence and Illiberal Belief, The Georgetown Law Journal 78, 1999, 1785-1835, S. 1831.

[8] Recht und Ordnung, ZRP 1972, 213-218. Schon zuvor hatte Kriele einen Weg über Anthroposophie und Katholizismus zum Mystiker eingeschlagen. Darüber berichtet er auf seiner Webseite http://www.martinkriele.info/. Literarisch und als Rechtswanwalt hat er sich für kleinere Religionsgemeinschaften und Sekten eingesetzt. Er würde jetzt wohl auch Gefallen an den Texten Covers finden.

[9]A. a. o. S. 1835.

[10] In Pursuit of the Counter-Text: The Turn to the Jewish Legal Model in Contemporary American Legal Theory, Harvard Law Review 106, 1993, 813-894.

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Ästhetische und narrative Geltung

Besonders in kulturwissenschaftlichem Zusammenhang ist von ästhetischer oder narrativer Geltung die Rede. Solche »Geltung« muss in Anführungszeichen gedacht werden, denn sie liegt auf einer anderen Ebene als die von der Rechtstheorie behandelten Geltungsbegriffe.
Die Ästhetik des Rechts ist noch immer unterbelichtet. Es lässt sich nicht leugnen, dass das Recht auch ästhetische Qualitäten hat. Helge Dedek spricht von der »Schönheit der Vernunft« [1]Helge Dedek, Die Schönheit der Vernunft – (Ir-)Rationalität von Rechtswissenschaft in Mittelalter und Moderne, Rechtswissenschaft 1, 2010, 58-85. Dedek gibt auch Literaturhinweise zur bisherigen … Continue reading und macht diese an der scholastischen Behandlung des Rechts im Mittelalter fest, Cornelia Vismann vom »Schönen am Recht« [2]Cornelia Vismann, Das Schöne am Recht, Berlin 2012. und sucht ihre Belege in der Gesetzgebung Lykurgs und Solons im antiken Griechenland. Die Ästhetik des Rechts zeigt sich in der Form seiner Darbietung, in sprachlicher Harmonie und sachlicher Ordnung, die sich dem kognitiven Apparat zur freudigen Aufnahme anbietet. Dazu gehörten schon im Mittelalter und heute wieder visuelle Elemente. Auch wenn das Ästhetische zunächst wohl als Form erscheint, transportiert es doch den Inhalt. Deshalb ist die Ästhetik des Rechts ein Legitimationsfaktor. Analog liegt es mit der narrativen Geltung. »Wahr ist das gut Erzählte«, so titelte heute die Heimliche Juristenzeitung. Geschichten aller Art, wenn sie denn gut sind, tragen zur Legitimation (oder Delegitimation) des Rechts bei. [3]Vgl. dazu die Einträge Legal Narratives Legal Narratives II Legal Narratives III: »Von den Fällen, die fallweise im Einzelfall anfallen.« Legal Narratives IV Legal Narratives V: Peter Stegmaiers … Continue reading

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Helge Dedek, Die Schönheit der Vernunft – (Ir-)Rationalität von Rechtswissenschaft in Mittelalter und Moderne, Rechtswissenschaft 1, 2010, 58-85. Dedek gibt auch Literaturhinweise zur bisherigen Behandlung des Themas. Vgl. ferner Michael Kilian, Vorschule einer Staatsästhetik, Zur Frage von Schönheit, Stil und Form als – unbewältigter – Teil deutscher Verfassungskultur im Lichte der Kulturverfassungslehre Peter Häberles, in: Alexander Blankenagel u. a. (Hg.), Verfassung im Diskurs der Welt, Liber Amicorum für Peter Häberle, Tübingen 2004, S. 31-70.
2 Cornelia Vismann, Das Schöne am Recht, Berlin 2012.
3 Vgl. dazu die Einträge

Legal Narratives
Legal Narratives II
Legal Narratives III: »Von den Fällen, die fallweise im Einzelfall anfallen.«
Legal Narratives IV
Legal Narratives V: Peter Stegmaiers ethnographischer Blick.

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Wissen in (Inter-)aktion

Vor mir liegt der von Ulrich Dausendschön-Gay, Christine Domke und Sören Ohlhus herausgegebene Sammelband »Wissen in (Inter-)Aktion, Verfahren der Wissensgenerierung in unterschiedlichen Praxisfeldern«, Berlin 2010. Da läge er nicht, wenn ich nicht selbst einen Beitrag beigesteuert hätte. [1](Juristisches) Wissen über Bilder vermitteln, S. 281-311. Darin habe ich noch einmal meine Sicht als Legal McLuhanite zusammengefasst und die Gelegenheit wahrgenommen über die – nicht so recht … Continue reading Der Band ist aus einer Tagung im Zentrum für Interdisziplinäre Forschung in Bielefeld (ZiF) im November 2006 hervorgegangen und teilt die Probleme aller Tagungsbände. Die Tagung war für die Teilnehmer interessant. Aber lesen wird ihre Beiträge wohl kaum jemand. Wer würde dort gar rechtssoziologisch einschlägige Beiträge suchen? Bevor ich den Band im Regal zur letzten Ruhe bringe, will ich drei solcher Beiträge erwähnen mit dem Hinweis, dass nicht viel versäumt, wer sie nicht liest.
Die »Fälle« der Juristen haben es Soziologen, Ethnologen und Linguisten angetan. Die Konstitution des Sachverhalts (oder Konstruktion des Rechtsfalls) ist auch Gegenstand empirischer Forschung gewesen. Insbesondere eine Projektgruppe des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte hat sich auf diesem Gebiet betätigt. (Der arme Universitätsjurist fragt sich, ob den Historikern die Geschichte ausgegangen ist.) Daraus sind verschiedene Veröffentlichungen hervorgegangen, insbesondere ein Sammelband herausgegeben von Jeannette Schmid/Thomas Drosdeck/Detlef Koch: Der Rechtsfall – ein richterliches Konstrukt, Baden-Baden 1997. Der Beitrag von Kent D. Lerch zu dem eingangs genannten Sammelband (S. 225-247) fasst die Ergebnisse der Studie noch einmal zusammen: Wissen oder Willkür? Zur Konstruktion des Rechtsfalls durch den Richter. Eigentlich ging es um ein interessantes und witziges Experiment, das mit einem fiktiven Arzthaftungsfall die vermutlich unterschiedliche Reaktion von 52 Richtern überprüfen sollte. Dazu wurde eine Prozess-Situation hergestellt, in der die Probanden den Fall von Anfang bis Ende durchspielen konnten. Sie konnten einen Verhandlungstermin bestimmen, Parteien, Zeugen und Sachverständige laden, Fragen stellen und Beweis erheben und sollten am Ende ihr Urteil fällen. Das Vorgehen der Richter war durchaus nicht einheitlich und auch ihr Urteil fiel nicht einheitlich aus, die Differenzen waren aber nicht dramatisch. Doch irgendwelche Determinanten, die das Verfahren in eine bestimmte Richtung gelenkt hätten, konnten nicht ausgemacht werden. Auffallend war nur eine Bevorzugung der Anspruchsgrundlage, die die arbeitsökonomisch den geringsten Aufwand verursachte. Da Verfahrens- und Urteilsvarianzen nicht auf systematische Einflüsse zurückgeführt werden konnten, konnte »nur noch der bloße Zufall als Erklärung herangezogen werden«. Im Grund eine schöne Bestätigung der richterlichen Arbeitsweise, insbesondere der sogenannten Relationstechnik.
S. 259-279 folgt ein zweiter Beitrag, der sich mit der Sachverhaltsrekonstruktion im Strafverfahren befasst: Ludger Hoffmann, Wissensgenerierung: der Fall der Strafverhandlung. Er bildet ein Beispiel dafür, wie Soziologen und Linguisten für ihre Mikroanalysen zunächst einen eindrucksvollen Begriffsapparat aufbauen und dann bei der Fallbearbeitung in erster Linie Trivialitäten anhäufen (müssen), um den Beobachtungsgegenstand in den Griff zu bekommen. Man lernt, wenn man es nicht schon weiß, dass es im Strafverfahren nicht um schlichte Tatsachenfeststellung und glatte Subsumtion geht. Aber verallgemeinerungsfähige Aussagen habe ich der Arbeit von Hoffmann nicht entnehmen können.
Der genannte Sammelband enthält – merkwürdigerweise an ganz anderer Stelle – noch einen weiteren Beitrag, der sich ethnographisch mit den Vorgängen im Strafverfahren befasst, und zwar mit »Konstruktion von Glaubwürdigkeit«: Stefan Wolff, Defensives Wissensmanagement im Strafverfahren (S. 71-90). Wir erfahren, dass die Glaubwürdigkeit eines Zeugen keine allgemeine Eigenschaft einer Person oder einer Aussage ist, sondern das Ergebnis voraussetzungsvoller Leistungen der Beteiligten, dass sich im Vollzug der Situation vor Ort ergibt. Auch hier erfährt man nichts aufregend Neues. Die als Frage formulierte These lautet: »Das deutsche Strafverfahren ist einerseits programmatisch auf die Ermittlung von Wahrheit ausgerichtet. Im Hinblick darauf könnte man erwarten, dass dem Gericht an einer möglichst breiten Wissensbasis für seine Entscheidungen gelegen ist. Andererseits fällt auf, dass die Beteiligten keineswegs jedes mögliche wissen in foro zur Kenntnis nehmen, dokumentieren oder berücksichtigen. Dem außen stehenden Beobachter drängt sich sogar gelegentlich der Eindruck auf, hier eine Form von strategischer Ignoranz beobachten zu können.« (S. 72) Was da konkret an Wissen ausgespart bleibt, sind Glaubwürdigkeitsgutachten, die von den Gerichten praktisch nur eingeholt werden, wenn es um Kinder oder Opferzeugen insbesondre bei Sexualdelikten geht. Dass solcher Verzicht kritisch sei, wird aber gar nicht behauptet. Zu unserer Überraschung erfahren wir nur dass »Gerichte die Vergangenheit grundsätzlich nur im Format des vorliegenden Falles [rekonstruieren]. Nur das, was zur Fallkonstruktion und Fallentscheidung nötig ist, wird in Betracht gezogen – mehr nicht.« Deshalb muss niemand diesen Beitrag lesen.
Der kritische Stachel, mit dem die Sozialwissenschaften einmal in der Rechtspraxis herumstocherten, ist anscheinend abgebrochen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 (Juristisches) Wissen über Bilder vermitteln, S. 281-311. Darin habe ich noch einmal meine Sicht als Legal McLuhanite zusammengefasst und die Gelegenheit wahrgenommen über die – nicht so recht geglückten – Klausurenexperimente im Projekt »Visuelle Rechtskommunikation« zu berichten.

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Legal Narratives V: Peter Stegmaiers ethnographischer Blick

Der Call for Abstracts der Sektion für Rechtssoziologie, auf den ich kurz hingewiesen hatte, verweist zur Erläuterung des Themenvorschlags » Wie weiß Recht? Juristische Methoden der Wissenskonstruktion« u. a. auf den Autor Peter Stegmaier. Dessen Buch »Wissen, was Recht ist. Richterliche Rechtspraxis aus wissenssoziologisch-ethnografischer Sicht« (2009) habe ich mir daraufhin angesehen. Ich bin voller Bewunderung über die Mühe, Sorgfalt, Detailversessenheit und Interpretationsfähigkeit des Autors. Von 70 Informanten an 21 verschiedenen Zivil- und Verwaltungsgerichten hat Stegmaier in Interviews und Arbeitsbeobachtungen umfangreiches Material gewonnen, das er mit Hilfe einer zuvor ausführlich und plausibel dargestellten Grounded Theory interpretiert. Eingangs liefert er auf über 100 Seiten eine gelungene Einführung in die wissenssoziologische Perspektive auf die Rechtspraxis (S. 25-118), die das Pflichtpensum einer Dissertation weit zurücklässt. In diesem Zusammenhang werden (S. 62-92) die einschlägigen Untersuchungen von Soeffner und Cremers (1988), Lautmann (1971) und Latour (2002) so ausführlich vorgestellt, dass man sie eigentlich gar nicht mehr selbst lesen muss. Der Bericht über die eigenen Erhebungen wird S. 138 -149 unter der Überschrift »Zur Forschungsstatistik« bescheiden heruntergespielt. Dann folgen drei große Kapitel, in denen das Material interpretiert wird, gespickt mit unzählbar vielen Zitaten aus den vertexteten Interviews und Gesprächen.

Das 2. Kapitel über »Die Fallbearbeitung als Arbeitsbogen« endet mit der Feststellung: »Der Fall wird in ausgewählte, unterscheidbare Elemente zerlegt, die Elemente werden in ihrer Wichtigkeit bewertet und neu sortiert mit Blick auf ein kohärentes Urteil neu zusammengesetzt.« (S. 233) Das folgende Kapitel über »Die pragmatische Strukturierung von Rechtsfällen« (S. 235-325) ist für den Juristenleser vielleicht das interessanteste, denn hier wird gezeigt, was von der juristischen Methodenlehre in der Praxis übrig bleibt, wie ich finde, erstaunlich viel. Das 4. Kapitel über »Richten in Interaktion – Ethnografische Beobachtungen richterlicher Beratungen« zeigt wunderbar, was es heißt, wenn man sagt, dass Kommunikation eigentlich immer mehr oder weniger auf ein Aushandeln hinausläuft. Die Summe zieht Stegmaier schließlich in Kapitel 5 mit der Überschrift »Die kontinuierliche Institutionalisierung von Recht«. Damit nimmt er den Institutionalisierungsbegriff von Berger und Luckmann auf, den er eingangs erläutert und eingeführt hatte.
Ich habe das Buch zwar nicht Satz für Satz, aber doch sehr weitgehend gelesen. Als Rechtssoziologe würde ich sagen: Eine ausgezeichnete Arbeit, viel zu aufwendig für eine Dissertation. Sie hat mir gezeigt, wie der der Ansatz der neuen (Konstanzer) Wissenssoziologie, den ich schon seit einiger Zeit kritisch beäuge, funktioniert. Überraschende Ergebnisse sehe ich jedoch nicht. Als Jurist finde ich, dass Stegmaier sich mit großer Empathie in die richterliche Arbeit eingefunden hat. Ich kann keine Fehldeutungen entdecken. Doch wenn ich an meine Juristen-Kollegen denke, so fürchte ich, dass sie sich in ihren (Vor-?)Urteilen über solche Sozialforschung eher bestätigt fühlen. Nach der Anlage der Untersuchung war es allerdings auch gar nicht möglich, den Punkt in den Griff zu bekommen hat, der Juristen gegenüber solchen Projekten skeptisch macht, nämlich den Umstand, dass die Profession es nicht mit einem und auch nicht mit einzelnen, sondern mit außerordentlich vielen Fällen zu tun hat und dass sie ihre im Umgang mit den Fällen gewonnene Erfahrung auch selbst reflektiert. Mit Mikroanalysen ihrer Fallbearbeitungen haben die Professionellen das Problem, dass die analysierenden Soziologen, Ethnologen, Linguisten usw. in erster Linie Trivialitäten anhäufen (müssen), um den Beobachtungsgegenstand in den Griff zu bekommen. Aber auch das Ergebnis ist dann oft wenig aufregend:

»Der Handlungstyp ›Normierung‹, wie er sich aus den vorstehenden empirischen Untersuchungen ergibt, bedeutet ein Handeln, durch welches ein normativ mehr oder weniger kompetenter Akteur, im vorliegenden Kontext ein professioneller Jurist, etwas normativ deutet. Normiert wird in diesem Sinne nicht unbedingt etwas normativ nicht näher Bestimmtes, also etwa ein Sachverhalt, sondern normiert wird jeglicher Gegenstand des richterlichen Handelns (und jedes anderen juristisch-professionellen Handelns). Gegenstand kann, wenn man sich die Fallbearbeitung ansieht, nachgerade alles sein: ein Akteur, ein Ding, ein Ereignis, eine Tat, ein Bebauungsplan, aber eben auch eine bereits normierte Sache, Handlung oder Person, ein Urteil, ein schriftlicher Verwaltungsakt oder ein anwaltlicher Schriftsatz. Selbst eine in der Akte bereits genannte und begründete Norm kann durch den erneuten Zugriff der Richterin normiert werden: verändernd oder bestätigend. … Normieren heißt normativ deuten; sei es nun im Sinne sophistizierten rechtlichen Auslegens oder eines eher allgemeinen moralischen Bewertens. Wertigkeiten und Regelhaftigkeiten werden so erkannt, zugeschrieben und bemessen, sowohl in solitärer Handlung als auch in interaktiver Interpretationskommunikation.« (Stegmaier S. 394).

Aber interessant sind sie doch, die Fälle, die fallweise im Einzelfall anfallen.

Nachtrag: Eine ausführliche Rezension des Buches durch Miguel Tamayo findet sich hier.

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Legal Narratives IV

Heute nur ein Hinweis auf einen Artikel von FAZ-Redakteur Reinhard Müller auf der Seite »Staat und Recht« in der heimlichen Juristenzeitung vom 15. Juli 2010 S. 6 »Neu entstanden aus Katastrophen«, der jedenfalls zur Zeit noch im Netz abrufbar ist. Müller nimmt die Frage auf »Wozu brauchen wir heute noch Mythen?«. Er berichtet, wie Roman Herzog als Bundespräsident 1995 bei einem Staatsbesuch des Präsidenten der Mongolei ausführlich an die Schlacht von Liegnitz erinnerte, in der ein mongolisches Heer 1241 eine polnisch- deutsche Streitmacht besiegte. Er erinnert ferner daran, wie Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung der Ausstellung »2000 Jahre Varusschlacht« in Kalkriese einen Bogen über 2000 nach Europa spannte. Er lässt stichwortartig die deutschen Nationalmythen Revue passieren, um etwas ausführlicher den Europa-Mythos von der Verführung der phönizischen Königstochter Europa durch Göttervater Zeus wiederzugeben und zitiert schließlich eine Reihe von Verfassungspräambeln, darunter die bemerkenswerte Einleitung zur Verfassung des neuen Irak. Müller endet etwas verrätselt mit den Sätzen: »Wer hat eine tragfähige Erzählung? Hier liegt die Antwort.« Der Text ist ebenso vergnüglich zu lesen wie die Illustration von Greser & Lenz anzuschauen ist. Er bestätigt damit zwei wichtige Funktionen von Narrationen. Sie bedienen unser unendliches Unterhaltungsbedürfnis. Und sie dienen als Lückenfüller, wenn uns nichts Besseres einfällt. Etwas anders gilt sicher für die Einleitung zur irakischen Verfassung. Aber was?

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Legal Narratives III: »Von den Fällen, die fallweise im Einzelfall anfallen.«

Unter der Überschrift [1]Mit dem Zitat im Titel dieses Postings überschrieb Konrad Adam seinen Bericht über den Zwanzigsten Deutschen Soziologentag in Bremen 1980. Legal Narratives II habe ich die »Fallerzählungen der Juristen« angesprochen. Diese Darstellung darf so nicht stehen bleiben, denn der juristische Umgang mit Fällen beschränkt sich nicht auf bloße Narration. Juristen bearbeiten ihre Fälle sehr intensiv und sie gewinnen daraus über den Einzelfall hinaus ein enormes Erfahrungsmaterial.

Den Juristen wird immer wieder Resistenz gegen Interdisziplinarität vorgehalten. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich Einiges geändert. Wer einen Drittmittelantrag stellt, wird ihn mindestens aus gesundem Opportunismus auf interdisziplinär frisieren. Nicht wenige Zivilrechtler umarmen inzwischen die Ökonomische Analyse des Rechts, und einige Öffentlich-Rechtler sind auf Luhmann und die Systemtheorie abgefahren. Und wieder andere betätigen sich als »intellektuelle Bastler«. [2]Hubert Treiber, Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft – eine »Revolution auf dem Papier«?, Kritische Justiz 2007, 328. Aber in der juristischen Praxis ist die Resistenz gegenüber Interdisziplinarität ungebrochen. Ob diese Tatsache beklagenswert und änderungsbedürftig ist oder nicht, darauf will ich jetzt nicht eingehen. Ich will nur eine mögliche Erklärung angeben, die die Immunität/Aversität der Juristen gegenüber fremddisziplinärer Beeinflussung bis zu einem gewissen Grade verständlich macht.
Die Erklärung liegt eigentlich auf der Hand und wird vielleicht gerade deshalb nicht bemerkt. Ich habe sie in der »Allgemeinen Rechtslehre« (S. 649), nachdem mein Mitautor mich darauf hingewiesen hatte, zunächst nur ganz kurz angesprochen: Die Rechtswirklichkeit drängt sich der juristischen Praxis in dem in Rechtsprechung in Schrifttum ausgebreiteten Fallmaterial auf. Die empirische Sozialforschung hat es schwer, der Fülle des Materials, das von Gerichten und Juristen mit großem Aufwand recherchiert, publiziert und regelmäßig auch diskutiert wird, etwas entgegenzusetzen. Es geht ganz einfach um die Fälle, mit denen Anwälte und Richter tagtäglich konfrontiert sind. Jeder Einzelne begegnet ihnen zu Hunderten und zu Tausenden. Sieht man auf Gericht und Anwaltschaft als Institution, sind es Millionen. Das sind nicht nur Zahlen in der Statistik, sondern die Mehrzahl dieser Fälle wird sorgfältig aufbereitet. Von einer solchen Materialfülle können Soziologen und Ethnologen nur träumen. Sie distanzieren sich gewöhnlich von den »Fällen« der Juristen, indem sie das in der Berufspraxis erworbene Wissen als deformiert zurückweisen. Doch solche Kritik ist nur akzeptabel, wenn zuvor das Erfahrungsmaterial der Jurisprudenz auch positiv gewürdigt wurde. Deshalb war es sicher ein Fortschritt, dass sich in Bielefeld am ZiF eine Forschungsgruppe mit dem »Fall als Fokus professionellen Handelns« befasst hat. In der Ankündigung auf der Webseite des ZiF las man:

»… Zum Kern der professionellen Tätigkeit zählen der Umgang und die Arbeit mit ›Fällen‹. Professionelle Arbeit – ob nun die eines Richters, eines klinischen Mediziners oder eines Psychotherapeuten – realisiert sich an Fällen, Fälle bilden den Fokus [3]Das ist mein Unwort des Jahres. professionellen Handelns, bei dem die erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten zur Anwendung kommen. Allerdings – auch dies ist ein konstitutives Merkmal – kann die Intervention des Professionellen nie nach ›Schema F‹ erfolgen, vielmehr befindet sich der professionelle Praktiker immer in einem Spannungsfeld zwischen seinem systematischen, klassifikatorisch geordneten Expertenwissen und den unvermeidbaren Besonderheiten jedes Einzelfalls.
Im Zentrum der geplanten Kooperationsgruppe steht die Frage, wie ein Fall im professionellen Handeln von Medizinern und Juristen konstituiert wird und welche epistemischen, interaktiven und institutionellen Funktionen und Folgen die Ausrichtung auf den Fall für das professionelle Handeln hat. … Der innovative Zugang der Kooperationsgruppe zu dem Thema besteht darin, das Augenmerk zentral auf die interaktiven, sprachlichen und medialen Verfahren zu richten, über die in medizinischen und juristischen Kontexten ein Fall zu einem ›Fall von X‹ gemacht wird.
Eine der Besonderheiten dieser Kooperationsgruppe besteht darin, dass die relevanten Fragen des Forschungsgegenstandes Fallformation an Prozessdaten untersucht werden sollen, die in den verschiedenen Berufsfeldern erhoben worden sind. Neben Gesprächsdaten gehören dazu Gesprächsprotokolle und Notizen, Formulare, Akten, Videoaufzeichnungen von Operationen in einer Klinik u.v.a., die mikroanalytisch bearbeitet und unter den übergeordneten Aspekten systematisiert und ausgewertet werden sollen.«

Dem Antragskauderwelsch, mit dem das Projekt beschrieben wird, lässt sich wenig entnehmen. Ende 2009 gab es noch eine Abschlusstagung. In der Ankündigung erfährt man:

»Auf einer ersten Verallgemeinerungsstufe jenseits der verglichenen Einzelfälle spiegelt sich die Prozessperspektive in der Rekonstruktion relevanter Phasen, die in allen uns vorliegenden Fällen durchlaufen werden.«

Darauf wäre man vielleicht auch ohne den Aufwand eines ZiF-Projekts gekommen.

In Heft 2 der ZiF-Mitteilungen 2010 gibt es nun S. 4-8 einen Abschlussbericht des Projekts. Er wiederholt ausführlich, was wir schon aus Ankündigung wissen. Wir erfahren, dass man sich insgesamt fünf Monate lang mit fünf Fällen aus dem englischen Strafrecht, dem deutschen Zivilrecht, der klinischen Psychiatrie der klinischen Neurologie und der klinischen Chirurgie befasst hat. Weiter heißt es:

»Der Erkenntnisstand des Projekts nach der abschließenden Tagung im September 2009, zu der zahlreiche Experten aus dem In- und Ausland eingeladen waren, lässt sich in zweifacher Weise formulieren: Mit dem Stichwort ›Aktualgenese‹ ist eine Untersuchungsperspektive verbunden, die nach Phasen und Übergängen in der allmählichen Konstitution des Falles sucht. Mit Phasen sollen dabei geordnete Abläufe zur Erledigung relevanter Abläufe bezeichnet werden. Hierzu nur zwei Beispiele: Es ist in allen Datensätzen erkennbar, dass zunächst überhaupt entschieden werden muss, ob das Ereignis, mit dem die institutionellen Akteure konfrontiert werden, ein Fall für sie ist; denn es gibt ja auch die Möglichkeit, die Zuständigkeit zu negieren und an eine andere Instanz zu überweisen.«

Und auch die Fortsetzung klingt wie eine soziolinguistische Paraphrase des Sattelmacher. Was mag ein ausgewachsener Jurist denken, der das liest? Hier noch »der zweite Aspekt aktueller Erkenntnisse«:

»Schaut man Chirurgen während der laparoskopischen Gallenoperation zu, dann erkennt man ihr Bemühen um systematische Reduktion von Kontingenz: Unklare Gewebemengen müssen so bearbeitet werden, dass Strukturen freigelegt werden und Gefäße als solche erkennbar und handhabbar gemacht werden; in der Gruppe ist dafür die Metapher des Präparierens benutzt worden. In den Rechtsfällen hingegen ist beobachtbar und von verschiedenen Autoren herausgearbeitet worden, dass eine der wesentlichen Aktivitäten der professionellen Beteiligten darin besteht, Kontingenz zu erzeugen oder zu erhalten, um das Verfahren möglichst lange offen zu halten; dies hängt ganz offenbar mit der agonalen Grundstruktur der juristischen Bearbeitung von Alltagskonflikten zusammen.«

Ich werde die nächste Gelegenheit nutzen um zu testen, ob sich Juristen mit so aufschlussreichen Ergebnissen von dem Wert interdisziplinärer Arbeit überzeugen lassen. Oder ist das gar nicht der Anspruch der beteiligten Wissenschaftler, meinen sie doch am Ende, ihre Arbeit könne künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Thema provozieren? Mit einer Performance haben sie das auf ihrer Abschlussveranstaltung schon einmal probiert. Performing science heißt die Perspektive. Gab es das nicht schon einmal, das Gericht als Theater?

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Mit dem Zitat im Titel dieses Postings überschrieb Konrad Adam seinen Bericht über den Zwanzigsten Deutschen Soziologentag in Bremen 1980.
2 Hubert Treiber, Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft – eine »Revolution auf dem Papier«?, Kritische Justiz 2007, 328.
3 Das ist mein Unwort des Jahres.

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Videothek des Exzellenzclusters »Normative Orders« an der Universität Frankfurt a. M.

Videothek des Exzellenzclusters »Normative Orders« an der Universität Frankfurt a. M.
Das Exzellenzcluster hat eine gehaltvolle Videothek mit den Vorträgen einer Ringvorlesung »Recht ohne Staat« sowie von der ersten und der zweiten Jahreskonferenz des Exzellenzclusters ins Netz gestellt. Darunter sind viele prominente und teilweise auch in der Rechtssoziologie bekannte Redner. Man (ich?) kann die Videos nicht auf Bildschirmgröße einstellen, aber sie sind scharf und der Ton, soweit ich hineingehört habe, ist gut. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, die Vorträge alle anzuhören. Damit wäre man ein paar Tage beschäftigt. Ich habe nur die Redner- und Themenliste herauskopiert und auch darauf verzichtet, für die einzelnen Videos den Link mitzuteilen. Statt dessen hier der Link für die ganze Seite: http://www.normativeorders.net/de/component/content/article/359. Hier also die Liste:

Mittwoch, 3. Februar 2010
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Professor Dr. Thomas Duve, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte
Recht ohne Staat: Ein Blick auf die Rechtsgeschichte

Mittwoch, 20. Januar 2010
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Professor Dr. Dr. h.c. mult. Gunther Teubner, Johann Wolfgang Goethe-Universität und London School of Economics
Verfassungen ohne Staat? Zur Konstitutionalisierung transnationaler Regimes

Mittwoch, 16. Dezember 2009
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Professor Dr. Dr. Rainer Hofmann, Johann Wolfgang Goethe-Universität
Modernes Investitionsschutzrecht: Ein Beispiel für entstaatlichte Setzung und Durchsetzung von Recht?

Mittwoch, 18. November 2009
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Professor Dr. Franz von Benda-Beckmann, Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung (Halle)
Recht ohne Staat im Staat: Eine rechtsethnologische Betrachtung

Samstag, 14. November 2009
2. Jahreskonferenz des Exzellenzclusters
Professor Keith Tribe
The Limits of the Market: Walras versus Becker

Panel IV: Ästhetik von Rechtfertigungsnarrativen
Prof. Dr. Martin Seel
Narration und (De-)Legitimation: Der zweite Irak-Krieg im Kino
Prof. Dr. Michael Hampe
Erklärung durch Beschreibung

Freitag, 13. November 2009
2. Jahreskonferenz des Exzellenzclusters
Panel III: Menschenrechte als Rechtsfertigungsnarrative?
Prof. Dr. Günther Frankenberg
Menschenrechte als Rechtsfertigungsnarrative
Professor Robert Howse
Human Rights Discourse in World Trade

Panel II: Rechtfertigungsnarrative in internationalen Verhandlungsprozessen
Prof. Dr. Nicole Deitelhoff
Politische Praxis und politische Analyse. Ein Kommentar
Dr. Gunter Pleuger
Die normativen Wirkungen multilateralen Verhandelns

Panel I: Rechtfertigungsnarrative in Übergangszeiten
Prof. Dr. Hartmut Leppin
Deo auctore. Die Christianisierung kaiserlicher Selbstdarstellung in der Spätantike
Prof. Dr. Hans Kippenberg
Das Thomas-Theorem In der modernen Religionsgeschichte. Zur Differenz zwischen normativen Haltungen und Handlungen

Dienstag, 3. November 2009
Frankfurt Lecture I
Professor Charles Larmore, Brown University
Subjektivität

Montag, 2. November 2009
Frankfurt Lecture I
Professor Charles Larmore, Brown University
Vernunft

Mittwoch, 21. Oktober 2009
Ringvorlesung “Recht ohne Staat”
Prof. Dr. Klaus Dieter Wolf, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
Unternehmen als Normunternehmer: Die Einbindung privater Akteure in grenzüberschreitende politische Steuerungsprozesse

Samstag, 15. November 2008
Eröffnungskonferenz des Exzellenzclusters
Panel IV: Transnational Justice, Democracy and Peace
Professor Andrew Hurrell, Oxford
Provincializing Westphalia: The Evolution of International Society as a Global Normative Order

Freitag, 14. November 2008
Eröffnungskonferenz des Exzellenzclusters
Panel III: The Formation of Legal Norms Between Nations
Prof. Dr. Armin von Bogdandy, Heidelberg
Developing the Publicness of Public International Law: Towards a Legal Framework for Global Governance Activities
Panel II: The Historicity of Normative Orders
Professor Immanuel Wallerstein, Yale
In what Normative Order(s) has the World been Living in the Modern World System?
Professor Robert Harms, Yale
Slave Trading, Abolition, and Colonialism as Inter-Linked Normative Orders
Panel I: Conceptions of Normativity
Professor R. Jay Wallace, Berkeley
Conceptions of Normativity: Some Basic Philosophical Issues

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Legal Narratives II

Die Fallerzählungen der Juristen
Ministorytelling ist eine juristische Spezialität. Bei der Formierung und Weitergabe juristischen Wissens spielen Fallerzählungen eine große Rolle. Allerdings fehlt den juristischen »Fällen« fehlt oft das Fleisch. Die Akteure sind auf bloße Buchstaben reduziert, sie sind alters- und geschlechtslos, sie leben ohne Bindungen und Verbindungen und handeln jenseits von Raum und Zeit. Die Akteure bekommen nur das Mindestmaß an Attributen zugeteilt, auf das es unter dem Aspekt der erläuterten Normen ankommen soll, etwa nach dem Muster: A will B erschießen. Er verwechselt jedoch C mit B. Fälle dieser Art sind wegen ihrer (beabsichtigten) Lebensfremdheit als »Lehrbuchkriminalität« [1]Nach Herbert Jäger, Glosse über Lehrbuchkriminalität, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1973, S. 300-306. sprichwörtlich. Ihre Aufgabe besteht darin, bestimmte Normkonstellationen zu verdeutlichen, und dazu sind sie unentbehrlich. Neben solchen Fällen, die von vornherein daraufhin konstruiert sind, eine bestimmte Normkonstellation zu demonstrieren, gibt es andere, die etwas gehaltvoller sind, weil sie sog. »Probleme« verdeutlichen sollen, d. h. Fragen, die sich nicht konstruktiv aus der Anwendung einer Norm oder dem Zusammenwirken mehrerer Normen lösen lassen, sondern zu ihrer Beantwortung einer zusätzlichen Wertung bedürfen. Meistens werden solche Fälle der Rechtsprechung entnommen. Mehr und mehr erhalten diese Fälle heute (nach amerikanischem Muster) als solche einen Namen, der sich als – mehr oder weniger anschauliches – Merkwort eignet, z. B. Maastricht I und II, Kruzifix, Caroline von Monaco.

In der Rechtssoziologie glaubte man zeitweise, mit der Entdeckung der Deformation der juristischen Fallerzählungen einen Ansatz zu Kritik vor allem der juristischen Ausbildung gefunden zu haben. Es ist natürlich richtig, dass die »Fälle« nicht das »wahre Leben« widerspiegeln. Aber das haben eigentlich auch Juristen immer gewusst. Das Problem, wenn es denn hier überhaupt eines gibt, liegt darin, wie die Fallstrukturen im Interesse der Anschaulichkeit und des Unterhaltungseffekts ausgeschmückt werden. In der Präsenzveranstaltung werden sie oft in eine drastische Story eingekleidet, oder die Personen erhalten sinnfällige, nicht immer druckfähige Namen. In solchen an sich überflüssigen Zutaten können sich dann Idiosynkrasien des Fallenstellers zeigen. Besonders sexistisch gefärbte Erzählungen waren sehr verbreitet. Das sollte sich inzwischen geändert haben.

»Storytelling« hat auch eine rechtspraktische Komponente, denn es beherrscht nicht nur den Alltag und den Rechtsunterricht, sondern ist zu einem strategischen Konzept, zunächst in der Wirtschaft und dann auch in der Politik geworden. Da müssen Geschichten oft die Argumente ersetzen. Das beschreibt Christian Salmon, Storytelling. La machine à fabriquer des histoires et à formater les esprits, 2007. Schon immer gehörte das Storytelling zur Kunst des juristischen Plädoyers. Nun erscheint es in multimedialem Gewand in der Gestalt von Day-in-theLife- oder Victim-Impact Videos [2]Dazu etwas näher im Posting vom 28. 11. 2009.

Nachtrag zu Victim Impact Statements: Cassell, Paul G. and Erez, Edna, How Victim Impact Statements Promote Justice: Evidence from the Content of Statements Delivered in Larry Nassar’s Sentencing (November 3, 2023). 107 MARQUETTE L. REV. __ (Barrock Lecture 2024), Forthcoming, Available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=4622666. Abstract: Whether crime victims should present victim impact statements (VISs) at sentencing remains a subject of controversy in the criminal justice literature. But relatively little is known about the content of VISs and how victims use them. This article provides a content analysis of the 168 VISs presented in a Michigan court sentencing of Larry Nassar, who pleaded guilty to decades of sexual abuse of young athletes while he was treating them for various sports injuries. Nassar committed similar crimes against each of his victims, allowing a robust research approach to answer questions about the content, motivations for, and benefits of submitting VISs. Specifically, it is possible to explore the question of whether (roughly) the same crimes produce (roughly) the same VISs. The VISs reveal the victims’/survivors’ motive for presenting VISs, their manner of presenting the impact of sexual abuse, their interactions with the sentencing judge and the defendant, and other features of the VISs. Analyzing the VISs’ contents confirms many of the arguments supporting using VISs at sentencing and challenges some lingering objections to them. The findings support the desirability of VISs for informational, therapeutic, and educational purposes in criminal sentencings.

Historische Rechtssoziologie [3]Literatur: Hans Albert, Critical Rationalism: The Problem of Method in Social Sciences and Law, Ratio Juris 1988, 1; Stephen Daniels, Ladders and Bushes: The Problem of Caseloads and Studying Court … Continue reading
Der größte Erfahrungsschatz liegt in der Vergangenheit. Deshalb ist man stets geneigt zu fragen: Was können wir aus der Geschichte lernen? Unter Historikern ist diese Frage eher verpönt. Für sie ist die Geschichte mehr als eine »moralisch-politische Beispielsammlung« (Savigny). Doch alle anderen bedienen sich der Geschichte gerne als eines Steinbruchs. Bei Bedarf suchen sie nach einem passenden Brocken, nach historischen Beispielen oder Anleitungen, nach kleinen oder großen Erzählungen. Eine juristische Version dieser Steinbruchtheorie ist die historische Auslegung, die von Fall zu Fall die Gesetzesmaterialien bemüht. Solchen Umgang mit der Geschichte hat Savigny verächtlich »in Ermangelung eines anderen Ausdrucks« der von ihm sogenannten »ungeschichtlichen Schule der Rechtswissenschaft« zugeschrieben. Über die richtige Methode streitet man in der Geschichtswissenschaft nicht weniger als in der Jurisprudenz. Das Spektrum reicht vom Historismus über historistische und evolutorische bis zu wertenden Geschichtstheorien und schließt auch eine sozialwissenschaftliche Geschichtsbetrachtung ein.

Eine sozialwissenschaftliche Geschichtsbetrachtung begnügt sich nicht damit, die Geschichte als große Erzählung zu begreifen. Am deutlichsten ist das, wenn Geschichte als reines Ursache-Wirkungsgefüge verstanden wird. Dann versucht man einzelne historische Ereignisse kausal zu erklären, also zu fragen, welche Ursache gerade zu diesem bestimmten Verlauf der Geschichte geführt haben können. Ältere Autoren verwiesen dazu auf Geographie und Klima; jüngere bevorzugen ökonomische Erklärungen. Von Montesquieu etwa stammt die Vorstellung, eine Republik könne sich nur auf einem kleinen, dicht bevölkerten Territorium entwickeln. Ein großräumiges dünn besiedeltes Gebilde verlange dagegen nach einer Despotie. In der Mitte zwischen beidem sei eine Monarchie die angemessene Staatsform. So wird die Entstehung der stadtstaatlichen Demokratie des griechischen Altertums aus den landschaftlichen Gegebenheiten Griechenlands erklärt. In dem Streit um die amerikanische Bundesverfassung beriefen sich die Gegner der Republik auf Montesquieu. Auch dem Klima billigte Montesquieu einen erheblichen Einfluss auf die sozialen Verhältnisse einer Gesellschaft zu. Dieser Gedanke wurde im 18. Jahrhundert aufgegriffen um zu belegen, dass das römische Recht für Deutschland unangemessen sei. Montesquieu dient hier – ganz im Sinne der Steinbruchtheorie – nur als historisches Beispiel für eine sozialwissenschaftliche Geschichtsbetrachtung. Die Betonung klimatischer oder geographischer Variablen bildet nur einen Extremfall, den wir heute so nicht mehr akzeptieren. Auch rein ökonomische Erklärungen haben mit dem Niedergang des Marxismus ihre Anziehungskraft verloren. Umso beliebter sind heute – unter dem Titel historische Institutionenökonomik – Erklärungen des Wirtschaftsgeschehens mit Hilfe rechtshistorischer Forschung. Überholt sind nur bestimmte Theorien, nicht jedoch die kausale Geschichtsbetrachtung als solche. Sieht man die innerwissenschaftliche Aufgabe der Geschichtswissenschaft darin, Ereignisse der Vergangenheit mit Hilfe gegenwärtig existierender Zeugnisse (kausal) zu erklären, so geht das letztlich nur induktiv, indem man bestimmte Regelmäßigkeiten unterstellt. Dann wird sogar die Methode des Sinnverstehens, die im Kontext des Historismus eher zu einer existentialistischen Hermeneutik gerät, zu einer empirischen und damit zu einer sozialwissenschaftlichen Methode.

Wenn man einer sozialwissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung das Wort redet – wie Hans Albert und Lawrence M. Friedman – dann verliert Geschichtswissenschaft ihre Besonderheit und entwickelt sich zu einer rückwärtsgewandten Rechtssoziologie mit der Folge, dass unter Relevanzgesichtspunkten der Schwerpunkt mehr und mehr in die jüngste Vergangenheit rückt.

Die historische Sozialwissenschaft, die in Deutschland vor bald 50 Jahren von damals jüngeren Historikern um Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka in Bielefeld ausgerufen wurde, war ein Gegenprogramm zur narrativen Geschichtsschreibung. Geschichte sollte nicht mehr erzählt werden und schon gar nicht länger auf die Taten großer Männer fixiert bleiben, sondern die Sphären sozialer Ungleichheit ausleuchten und die die damit verbundenen Strukturen aufzeigen. So steckt denn auch Wehlers opus magnum, die fünfbändige deutsche »Gesellschaftsgeschichte« (1987-2008) voller Zahlen und Daten.

Längst gibt es eine stattliche Reihe historisch orientierter Untersuchungen, die der Rechtssoziologie zugerechnet werden können. Meister der historischen Rechtssoziologie war Max Weber. In den USA war James Willard Hurst besonders einflussreich. Sein Motto: »In general the timetable of our legal history teaches … that apart from the toughness of institutional structure, law has been more the creature than the creator of events.« (1950: 6). Er meinte also, dass die Institutionen des Rechts und das Verhalten seiner Akteure nur wirklich verstanden werden können, wenn sich die Analyse nicht auf die Interna des Rechtssystems beschränkt, sondern den Kontext des Rechts, vor allem auch die wirtschaftliche Entwicklung, einbezieht. Mit dieser These, die damals trotz der Vorarbeit der Legal Realists noch immer fortschrittlich war, inspirierte Hurst an der Law School in Madison/Wisconsin eine ganze Generation von Juristen, die in den 1960er Jahren zum Kern der Law-and-Society-Bewegung wurden (Friedman, Galanter, Macaulay, Trubek). [4]Einige »Klassiker« seien jedenfalls noch genannt: Theda Skocpol, States and Social Revolutions, 1979 (über 30 Nachdrucke); dazu die Rezension von Jeff Goodwin, How to Become a Dominant American … Continue reading

Die Mehrzahl der historisch relevanten Arbeiten ist qualitativer Art. Aber es gibt eine beachtliche Zahl historischer Untersuchungen, die mit Statistiken arbeiten. Sie gelten in erster Linie der Entwicklung von Kriminalität und Prozesstätigkeit, da hierzu in den Archiven beachtliches Material vorhanden ist. Als in den 1970er Jahren der Eindruck entstand, dass die Prozesstätigkeit unaufhörlich anstieg und deshalb von einer Prozessflut die Rede war, fanden historische Untersuchungen große Aufmerksamkeit. Darüber berichtete 1984 Daniels. Der merkwürdige Titel seines Aufsatzes »Ladders and Bushes« deutet auf die Quintessenz all dieser Studien hin: Bei einer langfristigen Beobachtung der Prozesstätigkeit zeigt sich nicht das Bild einer Leiter, auf der es ständig nach oben geht, zu sehen sind nur Häufungen, die wie Büsche aus der Ebene ragen. In Deutschland gab es ähnliche Untersuchungen vor allem von Wollschläger [5]Die Arbeit der europäischen Zivilgerichte im historischen und internationalen Vergleich. Zeitreihen der europäischen Zivilprozeßstatistik seit dem 19. Jahrhundert. In: Erhard Blankenburg, Hg. … Continue reading, aber auch von Rottleuthner [6]Hubert Rottleuthner, Verfahrensflut und Verfahrensebbe. Ein Plädoyer für die langfristige Betrachtung gerichtlicher Gezeiten, ZRP 1985, 117-119. und anderen [7]Z. B. Röhl, Erfahrungen mit Güteverfahren, Deutsche Richterzeitung 1983, S. 90-97..

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Nach Herbert Jäger, Glosse über Lehrbuchkriminalität, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1973, S. 300-306.
2 Dazu etwas näher im Posting vom 28. 11. 2009.
3 Literatur: Hans Albert, Critical Rationalism: The Problem of Method in Social Sciences and Law, Ratio Juris 1988, 1; Stephen Daniels, Ladders and Bushes: The Problem of Caseloads and Studying Court Activities over Time, ABF Research Journal 1984, 751; Lawrence M. Friedman, Sociology of Law and Legal History, Sociologia del Diritto XVI, 1989, 7; James Willard Hurst (1950) The Growth of American Law; ders. (1964) Law and Economic Growth. The Legal History of the Lumber Industry in Wisconsin, 1836-1915; Klaus F. Röhl, Wozu Rechtsgeschichte?, Jura 1994,173
4 Einige »Klassiker« seien jedenfalls noch genannt: Theda Skocpol, States and Social Revolutions, 1979 (über 30 Nachdrucke); dazu die Rezension von Jeff Goodwin, How to Become a Dominant American Social Scientist: The Case of Theda Skocpol, in: Clawson, Required Reading, S. 37; Immanuel Wallerstein: Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, 2004 (Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, 1974, mehrfach nachgedruckt); dazu die Rezension von Harriet Friedmann in: Clawson, Required Reading, 1998, S. 149-154).
5 Die Arbeit der europäischen Zivilgerichte im historischen und internationalen Vergleich. Zeitreihen der europäischen Zivilprozeßstatistik seit dem 19. Jahrhundert. In: Erhard Blankenburg, Hg. (1989) Prozessflut?, S. 21–114. Dort S. 114 sind auch weitere Arbeiten Wollschlägers nachgewiesen.
6 Hubert Rottleuthner, Verfahrensflut und Verfahrensebbe. Ein Plädoyer für die langfristige Betrachtung gerichtlicher Gezeiten, ZRP 1985, 117-119.
7 Z. B. Röhl, Erfahrungen mit Güteverfahren, Deutsche Richterzeitung 1983, S. 90-97.

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Legal Narratives

In Frankfurt a. M. gibt es ein Exzellenzcluster zum Thema »Die Herausbildung normativer Ordnungen«. Da wird jetzt gerade eine Konferenz über »Rechtfertigungsnarrative, Legitimation und erzählende Verständigung« angekündigt. Ich habe mit der Narratologie in der Rechtssoziologie einige Probleme. Teils wird unter diesem Titel das Rad neu erfunden. Teils weigert man sich, aus den Untersuchungen Verallgemeinerungen herzuleiten. Teils sind Narrative Instrumente einer kritischen Aktionsforschung. Aber vielleicht ist ja auch etwas dran. Ich habe mir daher einmal meine Notizen zum Thema herausgesucht und gebe sie hiermit zum Besten:

Zur Analyse von Narrativen

Literatur: Shulamit Almog, How Digital Technologies Are Changing the Practice of Law, Edwin Mellen Press , NY usw. 2007 (Kapitel 2: Cyberspace, Narrative and Law, S. 75-117); Lance Bennett, Storytelling in Criminal Trials: A Model of Social Judgement, The Quarterly Journal of Speech 64, 1978, 1-22; ders., Rhetorical Transformation of Evidence in Criminal Trials: Creating Grounds for Legal Judgement, Quarterly Journal of Speech 65, 1979, 311-323; W.Lance Bennett/M.S. Feldman, Reconstructing Reality in the Courtroom, Tavistock, London, 1981; David M. Engel, Origin Myths: Naratives of Authority, Resistance, Disability, and Law, LSR 27, 1993, 785-826; Patricia Ewick/Susan Silbey, Subversive Stories and Hegemonic Tales: Toward a Sociology of Narrative, LSR 29, 1995, 197-226; dies., The Common Place of Law, The University of Chicago Press, 1998; Benjamin Fleury-Steiner, Narratives of the Death Sentence: Toward a Theory of Legal Narrativity, LSR 36, 2002, 549-576; Bernard S. Jackson, Law, Fact and Narrative Coherence, 1988; ders., Making Sense in Law. Linguistic, Psychological and Semiotic Perspectives, 1996; ders., Making Sense in Jurisprudence, 1996; Symposium Legal Storytelling, Michigan Law Review 87, 1987, 2073; Douglas W. Maynard, Narratives and Narrative Structure in Plea Bargaining, LSR 22, 1988, 449-481; Christian Salmon, »Storytelling«. La machine à fabrique des histoires et à formater les esprits, Éditions La Découverte, Paris 2007.
Internetquellen: Jörg Schönert, Was ist und was leistet Narratologie? ; Forschergruppe Narratologie; European Narratology Network; Interdisziplinäres Centrum für Narratologie, Universität Hamburg.

»Metaphern und Geschichten sind (leider) viel stärker als Ideen. Außerdem kann man sie leichter behalten und es macht mehr Spaß, sie zu lesen. … Ideen kommen und gehen, Geschichten bleiben bestehen.« (Taleb, Der Schwarze Schwan, S. 13).

Narratologie oder Erzählforschung hat als philologische Methode zum Umgang mit literarischen Texten begonnen. Doch erzählt wird überall, nicht nur in der Literatur, sondern auch und vor allem im Alltag, bei der Begegnung mit Institutionen, also bei Gericht, beim Arzt, in den Medien und sogar in der Wissenschaft. Daher ist die Erzählforschung über den ursprünglichen Gegenstandsbereich hinaus zu einer Methode der Volkskunde, Ethnologie und schließlich auch der Soziologie geworden. Sie geht davon aus, dass »Geschichten«, nämlich verknüpfende Darstellungen von Zustandsveränderungen, ein Grundmuster der Kommunikation bilden, mit dem sich die Menschen in der Welt orientieren und Sinn erzeugen. Aufgabe der Forschung ist es dann, typische Erzählmuster zu beschreiben und der Wirkung bestimmter Erzählungen nachzugehen. Eine beträchtliche Anzahl rechtssoziologischer Arbeiten baut auf die Annahme, dass Menschen den Zugang zum Recht über Narrative finden und dass die Erforschung von Narrativen daher auch einen Zugang zum Rechtsbewusstsein der Menschen eröffnet. Das Recht ist von Erzählungen umgeben, die Institutionen des Rechts gewinnen für den Einzelnen Gestalt, indem sie Teil seiner eigenen Geschichte werden. Innerhalb des Rechts konkurrieren Narrative mit analytischen Diskursen.

Die Erzählforschung ist nicht bloß ein theoretischer Ansatz zur Analyse des Rechts, sondern auch Grundlage für einen kritischen Aktivismus. Storytelling ist zur bevorzugten Forschungsmethode der sog. Crits geworden. Die Vertreter dieses Ansatzes wollen den juristischen Fachdiskurs anreichern, indem sie die Gefühle und Wünsche der Betroffenen durch eine »dichte Beschreibung« einbringen. Erzählforschung soll insbesondere dazu dienen, den spezifischen Erfahrungen von Frauen in einer von Männern geprägten Umgebung oder von Farbigen in einer »weißen« Umwelt Gehör zu verschaffen. [1]Kathryn Adams, Hearing the Call of Stories, California Law Review 79, 1991, 971; Richard Delgado, Storytelling for Oppositionists and Others: A Plea for Narrative. Michigan Law Review 87, 1989, 2411.

Mit Almog kann man drei typische Narrative unterscheiden:
• Gründungsmythen (generative narratives)
• strukturierende Erzählungen (conceptualising narratives)
• operative Erzählungen (functional narratives).

Zu (1): Gründungsmythen beschreiben den Übergang von einem vorrechtlichen zum Rechtszustand. Die wichtigsten gehören zur religiösen Überlieferung oder zum klassischen Bestand der Weltliteratur, so die Orestie des Äschylos. Orest, der Sohn des Agamemnon, erschlug seine Mutter und ihren Liebhaber Ägisth als Rache für die Ermordung seines Vaters. Orest flieht vor den Rachegöttinnen (Erinnyen) von Argos nach Delphi und dann nach Athen. Die Göttin Athene schlägt vor, den Streit durch ein Tribunal auf dem Areopag zu beenden. Damit ist das erste Gericht begründet. Orest wird freigesprochen und kann nach Argos zurückkehren. Athene beendet so die Kette der Gewalttätigkeiten und gründet eine neue Ordnung, die Ordnung des Rechts.  Auch biblische Geschichten prägen immer noch das Rechtsverständnis. Die prominenteste ist natürlich die Entgegennahme der zehn Gebote durch Moses auf dem Berg Sinai.

Rechtsphilosophie betont immer wieder, dass das Recht nicht seine eigene Geltung begründen kann (es sei denn, man akzeptiert die hochabstrakte Lösung der autopoietischen Systemtheorie). Derrida [2]Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, 1991. fragte, wie man zwischen der Gewalt des Rechts als einer legitimen Macht und originären Gewalt, die diese Macht erst begründet hat, unterscheiden könne, und betonte, dass es Gewalt gewesen sein müsse, die das Recht erst hervorgebracht habe. Aber wortlose Gewalt hätte kaum genügt, einen Rechtszustand zu schaffen. Dazu bedarf es der Überzeugungskraft einer Erzählung, die dem Übergang eine moralische Qualität verleiht.

Kritische Beobachter interpretieren auch die Basistheorien der Rechtsphilosophie [3]Wenn Jean-François Lyotard in seiner Studie »Das postmoderne Wissen« (La condition post-moderne, 1979) das »Ende der großen Erzählungen« verkündet, so spricht er damit nicht nur den … Continue reading als Narrative. Um die richtige Interpretation des Rechts konkurrieren danach drei große Mythen. Der Entwicklungsmythos erzählt, wie sich das Recht aus vorrechtlichen Sitten und Gebräuchen entwickelt. Diese Geschichte dient der Legitimation des Rechts, indem sie dieses als bloße Fortsetzung vorrechtlicher gesellschaftlicher Ordnung darstellt, und weil sie zugleich eine Geschichte des Fortschritts ist; denn mit der Veränderung der Gesellschaft entwickelt sich auch das Recht weiter. Die zweite Story ist die Geschichte vom Gesellschaftsvertrag, also die Vorstellung, dass der der Staat das Ergebnis einer freien und vernünftigen Entscheidung seiner Bürger bilde. Der postmoderne Gegenmythos beschreibt das Recht als reine Machtkonstellation. Die Ursprünge des Rechts liegen in Vergewaltigung oder Eroberung. Das Motiv der Mächtigen ist ihr Selbstinteresse, und man gehorcht ihnen aus Furcht und Not. Der Vertragsmythos ist aus dieser Sicht eine Fiktion, der Entwicklungsmythos bloße Spekulation. Doch überall finden sich Beweise dafür, dass das Recht der Gesellschaft aufgezwungen wird, durch Eroberung oder Kolonialisierung oder durch Machtkämpfe zwischen Nord und Süd, Arm und Reich, Weiß und Schwarz, Mann und Frau. Das Ziel kritischer Wissenschaft besteht deshalb darin, alle Beobachtung über das Recht in diesen Gegenmythos einzupassen.

Zu (2): Strukturierende Erzählungen bringen Grundfragen des Rechts ins Bewusstsein, insbesondere den immer wieder aufscheinenden Konflikt zwischen Recht und Gerechtigkeit. Auch diese Geschichten haben oft literarische Quellen. Zu den geläufigsten gehören Kafkas »Prozeß« und die Geschichte, die Heinrich von Kleist in seiner 1810 erschienenen Novelle »Michael Kohlhaas« erzählt.
Der Pferdehändler Michael Kohlhaas lebt in einem Land, in dem Recht und Ordnung herrschen. Aber er muss erleben, dass ihm ein Adliger willkürlich zwei Pferde beschlagnahmt. Seine Klage scheitert an Intrigen. Er wird das Opfer von gleichgültigen Beamten, von Korruption und Bösartigkeit. Das Versagen des Rechts treibt ihn zur Verzweiflung, und er entschließt sich zur Selbsthilfe. Mit seinen Knechten begibt er sich auf einen Rachefeldzug und verbreitet Zerstörung und Tod. Um den Frieden wieder herzustellen, sieht sich der Kaiser gezwungen, Kohlhaas’ Klage neu zu verhandeln. Das Verfahren führt zwar dazu, dass Kohlhaas die Pferde zurückerhält, die ihm gestohlen wurden. Doch wegen seiner Gewalttaten wird er zum Tode verurteilt.
Zu (3): Operative Erzählungen sind solche auf der Mikroebene des Alltags, mit denen Menschen rechtliche Ansprüche erheben oder abwehren. Wer einen Anspruch erheben will, muss einen Gegner definieren, eine Abfolge von Ereignissen darstellen, die ihn selbst als Opfer erscheinen lassen und seiner Forderung einen moralischen Anstrich geben. Wenn man so will, kann man auch den Vortrag von Anwalt oder Staatsanwalt oder gar die Begründung des Gerichts als – mehr oder weniger abweichende – Erzählung interpretieren.
Ewick und Silbey haben 430 Bürger in New Jersey nach ihren »Geschichten« vom Recht befragt.

»We adopted the concept of narrative because people tend to explain their actions to themselves and others through stories. Rather than offering categorical principles, rules, or reasoned arguments, people report, account for, and relive their acitivities through narratives: sequences of statements connected in such a way as to have both a temporal ad a moral ordering. … stories people tell about themselves and their lives both constitute and interpret those lives.« (S. 29)

Aus den Antworten haben Ewick und Silbey drei typische Narrative herausdestilliert, in denen die Bürger ihr Rechtsbewusstsein zum Ausdruck bringen.

(1) »Vor dem Recht« (before the law) [4]»Vor dem Gesetz« ist ein kurzer Text aus dem Neunten Kapitel von Kafkas »Pozeß«, der, anders als das Gesamtwerk, schon vor Kafkas Tod veröffentlicht wurde. Ewick und Silbey zitieren daraus und … Continue reading: Dieser Erzähltyp stellt das Recht als überlegene und objektive Autorität dar, die mit dem Alltag keine Berührung hat.
(2) »Mit dem Recht« (with the law): Dieser Erzähltyp stellt das Recht als eine Art Spiel dar, dass man zum eigenen Vorteil beeinflussen kann und mit dessen Hilfe soziale Ressourcen mobilisieren lassen.
(3) »Gegen das Recht« (against the law): Eine dritte »story« zeichnet das Recht als Produkt einer willkürlichen und unberechenbaren Macht. Menschen, die diese Geschichte bevorzugen, »talk about the ruses, tricks, and subterfuges they use, to appropriate part of law’s power.« (S. 28).
Es handelt sich bei diesen »Narrativen« nicht eigentlich um Erzählungen, sondern um analytische Typisierungen, mit denen Ewick und Silbey die Erzählungen ihrer Probanden interpretieren.

[Fortsetzung im Posting vom 13. 12. 2009: Legal Narratives II]

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Kathryn Adams, Hearing the Call of Stories, California Law Review 79, 1991, 971; Richard Delgado, Storytelling for Oppositionists and Others: A Plea for Narrative. Michigan Law Review 87, 1989, 2411.
2 Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, 1991.
3 Wenn Jean-François Lyotard in seiner Studie »Das postmoderne Wissen« (La condition post-moderne, 1979) das »Ende der großen Erzählungen« verkündet, so spricht er damit nicht nur den traditionellen Geschichten, sondern auch den klassischen philosophischen Systemen ihre Fähigkeit ab, als Legitimation zu dienen.
4 »Vor dem Gesetz« ist ein kurzer Text aus dem Neunten Kapitel von Kafkas »Pozeß«, der, anders als das Gesamtwerk, schon vor Kafkas Tod veröffentlicht wurde. Ewick und Silbey zitieren daraus und berufen sich für ihre Wortwahl ausdrücklich auf Kafka (S. 75). Doch die Wahl ist irreführend. In Kafkas Parabel es um den vergeblichen Versuch des Mannes vom Lande, »in das Gesetz« einzudringen. Zwar ist die Interpretation des Kafka-Textes höchst umstritten. Aber es ist klar, dass dem »Mann vom Land« das Gesetz verschlossen bleibt und dass auch der »Türhüter« keine Hilfe bietet. So erscheint das Gesetz eher unwirklich oder gar unheimlich und unvorhersehbar, und als Hilfe kommt es auf jeden Fall zu spät.

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