Recycled Lit: Es gibt zu viele Texte

In der FAZ vom 12. 11. 2014 berichtete Tobias Haberkorn über eine Tagung am Berliner Wissenschaftskolleg, auf der über »digitale Geisteswissenschaften« diskutiert wurde, und zwar unter der Überschrift »Es gibt einfach viel zu viele Texte«. Thema war die Suche nach der Wiederherstellung von originalen oder authentischen Texten. Ein Beispiel war die Aristoteles-Schrift »De motu animalium«[1], von der es kein Original, aber wohl Hunderte von mehr oder weniger vollständigen, mehr oder weniger übereinstimmenden Ab- oder Nachschriften gibt. Die Editionsphilologie tritt dann mit dem Ehrgeiz auf den Plan, eine möglichst authentische, dem Original nahekommende Fassung herzustellen. Keine Frage, dass Digitalisierung dabei helfen kann, auch wenn das sicher komplizierter ist als der Vergleich verschiedener Versionen einer Datei auf der Basis von Microsoft Word.

Meine Skepsis gegenüber der Editionsphilologie, jedenfalls wenn sie das Werk neuzeitlicher Juristen oder Sozialwissenschaftler betrifft, habe ich vor einiger Zeit im Hinblick auf die Max-Weber-Gesamtausgabe zum Ausdruck gebracht.[2] Wiewohl es zu den Regeln einer guten wissenschaftlichen Praxis gehören soll, aus wissenschaftlich editierten Textausgaben zu zitieren, zitiere ich Gustav Radbruchs Rechtsphilosophie immer noch nach der 5. Auflage von 1956, die ich mir als Student in Heidelberg gekauft hatte, wiewohl ich natürlich um die von Arthur Kaufmann edierte Gesamtausgabe in 20 Bänden weiß.[3]

Heute und hier geht es mir nicht um den mehr oder weniger authentischen Text eines bestimmten Autors. Es geht vielmehr um die Inhalte, die von Texten transportiert werden. Von den verfügbaren Texten beginnt keiner als Original am Punkt Null. Alle Texte sind Reaktionen oder sogar Antworten auf frühere Texte. Sie zitieren, komprimieren, kopieren, variieren, reformieren, korrigieren, imitieren, parodieren, mixen usw. vorhandene Texte. Eine wesentliche Beschäftigung der Philologie darin besteht, die so entstehenden Knäuel zu entwirren, das Patchwork wieder auseinander zu nehmen und Ursprünge und Vorbilder nachzuweisen. Im Gegenzug bemühen sich ganze Literaturgattungen, Konvergenz und Divergenz der Inhalte herauszudestillieren. Eine erstaunliche Konjunktur erleben insoweit Handbücher. Für Juristen betreiben in erster Linie Kommentare und Lehrbücher das Geschäft des Einkochens von Texten.

Recycled food ist nur als Tierfutter geduldet. Recycled lit ist die Standard-Geistesnahrung. Der Authentizitätskult passt nicht zum »Tod des Autors«[4]. Bei dem von Barthes verkündeten Tode des Autors ging es freilich um eine Rezeptionstheorie. Barthes hielt es für naiv, für die Interpretation eines Textes nach dem Autor zu fragen. Vielmehr könne dürfe und müsse der Leser selbst aktiv werden. Er schließt: »Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.« Wenn man den postmodernen Interpretationsimperativ nicht teilt, sondern altväterlich daran festhält, dass es nicht nur natural kinds, sondern auch geistige Inhalte »gibt«[5], so bleibt der Autor dennoch begraben. Wissenschaft interessiert sich normalerweise nicht für Autoren, sondern für deren Aussagen. Sie arbeitet an der Anonymisierung des Wissens, das heißt, an seiner Ablösung von Autoren und Autoritäten.[6] Es kommt darauf an, Texte im Hinblick auf ihre Konvergenz oder Divergenz mit den Aussagen anderer Texte zu vergleichen, um so am Ende aus dem Ozean der Texte deren Substanz herauszudestillieren. Erst sekundär geht es dann um die Frage, welche Teile der Substanz etwas taugen und welche verworfen werden können.

Es gibt mehr oder weniger bewährte Routinen und Methoden, um mit der Überfülle der Texte umzugehen. Wer operativ an Inhalten interessiert ist, hat nur die Wahl, selektiv vorzugehen, kann doch niemand wirklich alle einschlägigen Texte studieren, um sie auf ihren Gehalt zu prüfen.

Die Selektion beginnt bei der Auswahl der Texte, die überhaupt in Betracht gezogen werden. Erstes Kriterium ist die Auffindbarkeit. Die hat sich durch die Recherchemöglichkeiten des Internets so verbessert, dass die Auswahl kam noch an Grenzen stößt.

Nächstes Kriterium ist die Verfügbarkeit. Die Mehrzahl der Textkonsumenten ist kaum in der Situation des Ordinarius, der im Bedarfsfall den Hiwi in die Bibliothek schickt oder die Sekretärin um eine Bestellung in der Buchhandlung bittet. Daher hängt die Textauswahl oft von der Verfügbarkeit im Internet ab. Auch wenn der organisierte Wissenschaftsbetrieb auf kostenpflichtige Datenbanken zugreifen kann, erleichtert Open Access immer noch den Zugang – und inflationiert die Fülle verfügbarer Texte.

Für die Frage, auch welche Texte man dann zugreift, ist das Alter ein wichtiges Kriterium. Texte, die vor der Jahrtausendwende geschrieben wurden, haben schon die Anmutung von Antiquitäten. Hier zählen nur noch Prominente oder Autoritäten, und das nicht wegen der von ihnen gebotenen Inhalte, die längst anderweit rezipiert worden sind, sondern gleichsam zur Rückversicherung.

Bei jüngeren Texten wird die Zitationshäufigkeit für die Auswahl relevant. Auch sie hilft indessen wenig bei der vergleichenden Extraktion der Inhalte. Eine Konzentration auf bestimmte Inhalte lässt sich dann oft von der Herkunft oder Verwendung der Texte aus oder durch durch bestimmte, Schulen, Gruppen oder Netzwerke leiten.

Hat man auf die eine oder andere Weise anscheinend einschlägige Texte ausgewählt, so bleibt eine gründliche Lektüre doch die Ausnahme. Um nicht in der Menge der Texte zu ertrinken, verlässt man sich weitgehend auf die Vorarbeit der Autoren selbst oder früherer Leser. Meist beschränkt sich der Versuch, die Inhalte zu erfassen, auf die Lektüre von Abstracts, Zusammenfassungen des Autors und einen Blick in Gliederung oder Inhaltsverzeichnis. Rezensionen müssen nicht selten die Lektüre eines Buches ersetzen.

Schon immer beruht die Vermehrung der Texte darauf, dass man andere Texte vergleicht und zusammenfassend referiert. Von Dissertationen und Habilitationsschriften sagt man, mit ihnen sei jeweils aus 1000 alten ein neues Buch entstanden. Allein der Verlag Duncker & Humblot bietet ziemlich genau 100 Schriftenreihen  zu den »Rechts- und Staatswissenschaften. Die Gesamtzahl der lieferbaren Veröffentlichungen liegt wohl bei 10.000. Die Mehrzahl davon dürften Dissertationen sein. Ich schätze neue Dissertationen und Habilitationsschriften nicht so sehr wegen ihrer eher seltenen Innovationen als vielmehr wegen der ausführlichen Referate über den Stand der Literatur. Sie zeigen mir immer wieder, dass ich dieses übersehen habe und jenes noch einmal überprüfen muss. Es ist aber kein Zufall, dass gerade dieser referierende Teil von Qualifikationsschriften besonders plagiatsanfällig ist. Vor einiger Zeit wurde vorgeschlagen – ich finde die Quelle nicht wieder – man solle doch zur Vermeidung von Plagiaten den Referatsteil von Qualifikationsarbeiten durch eine Art Wiki ersetzen, der den Stand der Literatur zum Thema wiedergebe, den dann jeder Kandidat anführen und nach Bedarf korrigieren und verbessern könne. Aber vielleicht sind solche Verrenkungen bald gar nicht mehr nötig. Vielleicht wird uns bald künstliche Intelligenz solche Zusammenfassungen über den Stand des Wissens liefern. Die Frage lautet also, ob und wieweit künstliche Intelligenz Textinhalte in einer Weise extrahieren kann, die Masse der Texte überflüssig macht.

Ich probiere das einmal mit Themen, die ich auf Rsozblog angesprochen habe. Die Frage in der Überschrift dieses Eintrags antwortet ChatGPT:

Der Text enthält viele Informationen, was für eine umfassende Darstellung des Themas sinnvoll sein kann. Wenn du aber eine kürzere und präzisere Antwort möchtest, kann ich den Text gerne kürzen und die wichtigsten Punkte zusammenfassen. Möchtest du eine kompaktere Version?

Die Antwort ist ziemlich sinnlos. Vermutlich hat das Programm den Plural in der Frage nicht verstanden. Besser gelingt die Antwort auf eine Frage, an der ich vorläufig gescheitert bin: Schreibe eine Zusammenfassung des aktuellen Standes der Emotionspsychologie. Ich zitiere inm folgenden das Ergebnis. Es lohnt sich kaum, den folgenden Text zu lesen, denn man erfährt nicht Neues. ABer er dokumentiert, was ChatGPT leistet:

Die Emotionspsychologie ist ein Teilgebiet der Psychologie, das sich mit der Erforschung und Erklärung von Emotionen beschäftigt. Der aktuelle Stand der Emotionspsychologie umfasst mehrere zentrale Aspekte:

    1. Definition und Komponenten von Emotionen:

Emotionen werden als komplexe psychophysiologische Zustände definiert, die aus mehreren Komponenten bestehen:

    • Affektive Komponente: Das subjektive Gefühlserleben (z.B. Freude, Angst).
    • Physiologische Komponente: Körperliche Reaktionen (z.B. Herzfrequenz, Hormonausschüttung).
    • Kognitive Komponente: Bewertung und Interpretation von Situationen, die Emotionen auslösen.
    • Verhaltenskomponente: Ausdruck von Emotionen durch Mimik, Gestik oder Handlungen.
    1. Theorien der Emotionen:

Verschiedene Theorien erklären, wie Emotionen entstehen und welche Rolle sie im Verhalten spielen:

    • James-Lange-Theorie: Emotionen entstehen durch die Wahrnehmung körperlicher Reaktionen.
    • Cannon-Bard-Theorie: Emotionen und körperliche Reaktionen treten gleichzeitig auf, unabhängig voneinander.
    • Zwei-Faktoren-Theorie (Schachter und Singer): Emotionen entstehen aus einer Kombination von physiologischer Erregung und kognitiver Interpretation.
    • Lazarus’ Appraisal-Theorie: Emotionen basieren auf der kognitiven Bewertung von Ereignissen und deren Bedeutung für das Individuum.
    1. Neurobiologische Grundlagen:

Emotionen sind eng mit bestimmten Gehirnregionen und neuronalen Netzwerken verbunden:

    • Amygdala: Spielt eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung von Angst und anderen negativen Emotionen.
    • Präfrontaler Kortex: Beteiligt an der Regulation von Emotionen und der Entscheidungsfindung.
    • Belohnungssystem (z.B. Nucleus accumbens): Wichtig für positive Emotionen und Motivation.
    1. Emotionen und Kognition:

Aktuelle Forschung untersucht, wie Emotionen und kognitive Prozesse (wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Entscheidungsfindung) interagieren. Emotionen beeinflussen nicht nur kognitive Prozesse, sondern werden auch durch diese moduliert. Beispielsweise können positive Emotionen kreatives Denken fördern, während negative Emotionen die Aufmerksamkeit auf Bedrohungen lenken.

    1. Emotionale Intelligenz:

Ein weiterer aktueller Schwerpunkt ist das Konzept der emotionalen Intelligenz, das die Fähigkeit beschreibt, eigene und fremde Emotionen wahrzunehmen, zu verstehen und zu regulieren. Emotionale Intelligenz wird als wichtiger Faktor für beruflichen Erfolg und zwischenmenschliche Beziehungen betrachtet.

    1. Kulturelle und soziale Einflüsse:

Emotionen sind nicht nur individuell, sondern auch kulturell geprägt. Verschiedene Kulturen haben unterschiedliche emotionale Ausdrucksweisen und Normen. Zudem beeinflussen soziale Kontexte, wie Emotionen erlebt und ausgedrückt werden, etwa in der Familie, am Arbeitsplatz oder in der Öffentlichkeit.

    1. Emotionen und Gesundheit:

Die Rolle von Emotionen für die physische und psychische Gesundheit ist ein weiteres zentrales Forschungsthema. Chronische negative Emotionen wie Stress und Angst können gesundheitsschädlich sein, während positive Emotionen die Resilienz und das Wohlbefinden fördern.

    1. Anwendungen der Emotionspsychologie:

Die Erkenntnisse der Emotionspsychologie finden in verschiedenen Bereichen Anwendung, etwa in der Psychotherapie, im Coaching, in der Pädagogik und im Management.

Ich habe gleich noch eine Frage nachgeschoben: Was lässt sich über die Bedeutung von Emotionen im Recht sagen? Chat GPT antwortet:

Emotionen spielen im Recht eine bedeutende und vielschichtige Rolle. Sie beeinflussen nicht nur das Verhalten von Individuen in rechtlichen Kontexten, sondern auch die Gestaltung und Anwendung von Gesetzen sowie die Entscheidungen von Gerichten. Hier sind einige zentrale Aspekte der Bedeutung von Emotionen im Recht:

1. Einfluss von Emotionen auf kriminelles Verhalten:

Emotionen wie Wut, Eifersucht oder Angst können Auslöser für kriminelles Verhalten sein. In der Kriminalpsychologie wird untersucht, wie emotionale Zustände zu Straftaten führen können und welche Rolle sie bei der Prävention und Intervention spielen. Ein Beispiel ist das Konzept der „Affekttat“, bei der eine Tat im Zustand starker Erregung begangen wird.

2. Emotionen bei der Urteilsfindung:

Richter und Geschworene sind nicht frei von emotionalen Einflüssen. Emotionen können sowohl bewusst als auch unbewusst Entscheidungen beeinflussen. Beispielsweise kann Empathie für Opfer oder Antipathie gegenüber Angeklagten die Urteilsfindung beeinflussen. Die Herausforderung im Rechtssystem besteht darin, objektive Entscheidungen zu treffen, obwohl Emotionen unvermeidlich eine Rolle spielen.

3. Emotionen und Zeugenaussagen:

Emotionen beeinflussen die Glaubwürdigkeit und Genauigkeit von Zeugenaussagen. Angst oder Stress können die Erinnerung von Zeugen verzerren oder ihre Fähigkeit, klar und präzise auszusagen, beeinträchtigen. Daher müssen Gerichte emotionale Zustände von Zeugen berücksichtigen, um die Zuverlässigkeit ihrer Aussagen einzuschätzen.

4. Rechtliche Bewertung von Emotionen:

Im Strafrecht wird die emotionale Verfassung des Täters oft bei der Bewertung der Tat berücksichtigt. Zum Beispiel können Milderungsgründe wie “Affekthandlungen” (Taten im Zustand heftiger Erregung) oder “extreme emotionale Störung” strafmindernd wirken. Hierbei wird anerkannt, dass Emotionen das Urteilsvermögen und die Selbstkontrolle eines Täters beeinträchtigen können.

5. Emotionen im Familienrecht:

Emotionen spielen im Familienrecht eine zentrale Rolle, insbesondere in Scheidungsverfahren, Sorgerechtsentscheidungen und Umgangsregelungen. Hier werden oft emotionale Bedürfnisse von Kindern und Eltern abgewogen. Gerichte müssen darauf achten, dass Entscheidungen im besten Interesse des Kindes getroffen werden, was eine sorgfältige Berücksichtigung emotionaler Aspekte erfordert.

6. Mediation und alternative Konfliktlösung:

Emotionen sind auch in der Mediation und bei alternativen Konfliktlösungsverfahren von großer Bedeutung. Mediatoren versuchen, emotionale Spannungen zwischen den Parteien abzubauen, um eine einvernehmliche Lösung zu finden. Das Verständnis von Emotionen und deren Management ist hier entscheidend für den Erfolg der Verfahren.

7. Emotionen und Gesetzgebung:

Emotionen spielen eine Rolle bei der Entstehung von Gesetzen, insbesondere in Bereichen, die stark emotional aufgeladene Themen betreffen, wie etwa das Strafrecht, das Familienrecht oder das Tierrecht. Emotionale Reaktionen in der Gesellschaft, beispielsweise auf tragische Ereignisse, können politische Entscheidungen und gesetzgeberische Initiativen beeinflussen.

8. Rechtsphilosophische Überlegungen:

In der Rechtsphilosophie wird diskutiert, inwieweit Emotionen eine legitime Rolle im Rechtssystem spielen sollten. Während das Recht traditionell als rational und objektiv angesehen wird, gibt es Argumente dafür, dass Emotionen wie Empathie, Gerechtigkeitsgefühl oder moralische Empörung wesentliche Komponenten der Rechtsprechung sein können. Diese Debatte betrifft die Balance zwischen emotionaler Intuition und rationaler Gesetzesanwendung.

9. Opferrechte und emotionale Gerechtigkeit:

Im modernen Rechtssystem wird zunehmend die Bedeutung der emotionalen Bedürfnisse von Opfern anerkannt. Opfer von Straftaten suchen oft nicht nur rechtliche Gerechtigkeit, sondern auch emotionale Wiedergutmachung. Dies hat zur Entwicklung von Opferschutzgesetzen und Maßnahmen geführt, die den emotionalen Zustand der Opfer berücksichtigen, wie z.B. das Recht auf Anhörung im Strafverfahren.

10. Moralische Emotionen und Gerechtigkeit:

Emotionen wie Empörung, Schuld oder Scham sind eng mit moralischen Urteilen verbunden und beeinflussen, was als gerecht oder ungerecht wahrgenommen wird. Diese moralischen Emotionen können wiederum die öffentliche Meinung und damit die Rechtsprechung und Gesetzgebung beeinflussen.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Emotionen eine unverzichtbare Rolle im Rechtssystem spielen. Sie wirken auf individueller Ebene, in der Urteilsfindung, bei der Gesetzgebung und in der Gesellschaft als Ganzes. Während das Recht traditionell als rationaler Bereich betrachtet wird, zeigt die moderne Forschung, dass Emotionen nicht nur unvermeidlich, sondern auch notwendig für ein gerechtes und menschliches Rechtssystem sind.


[1] Vgl. den Sammelband Christof Rapp/Oliver Primavesi (Hg.), Aristoteles, Aristotle’s de Motu Animalium, 2020.

[2] Die Max-Weber-Gesamtausgabe (MWG) ist ein Unglück für die Rechtssoziologie.

[3] Sie umfasst 9.444 Seiten und kostet 1.732,80 EUR.

[4] Der französische Philosoph Roland Barthes verkündete den »Tod des Autors« verkündete der

französische Philosoph Roland Barthes den »Tod des Autors«. Er erklärte den Text zu einem »Gewebe von Zitaten«. Der Autor schaffe nur ei neues Puzzle. Die kreative Eigenleistung des Autors trete ganz in den Hintergrund.

[5] Dazu Frege und die Frage nach dem Geist der Geisteswissenschaften.

[6] Zur Bedeutung der Autorschaft bei wissenschaftlichen Texten vgl. Felix Steiner, Dargestellte Autorschaft, Autorkonzept und Autorsubjekt in wissenschaftlichen Texten, 2009.

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Differenzierung und Argumentation Overload

Analog zu dem vielfach beschworenen information overload ist in der Rechtstheorie ein argumentation overload zu beobachten. Die Auseinandersetzungen in den Geisteswissenschaften haben einen Grad der Differenzierung und Elaboration erreicht, der es gestattet, jede Argumentation am Ende als unvollständig oder verkürzend, selektiv oder perspektivisch zu kritisieren. Das ist für die Jurisprudenz misslich, denn ist sie verpflichtet, innerhalb überschaubarer Zeit mit beschränkten personellen und sachlichen Mitteln Entscheidungen zu produzieren.

In den Geistes- und Sozialwissenschaften besteht eine Tendenz, allgemeinere Theorien zugunsten immer weitergehender Differenzierungen (Nuancen) zurückzuweisen. So werden ständig detailliertere empirische Beschreibungen verlangt, und sie werden von einem nicht enden wollenden Ausbau der Begriffssysteme begleitet, die immer weitere Sachverhalte abdecken sollen. Diese Tendenz hat sich zumal in den Law- and Something Fächern ausgebreitet und ist zu einer Barriere für Interdisziplinarität geworden.

Auf der Differenzierungswelle schwimmt auch die postmodern inspirierte Rechtstheorie. Dort gilt »Differenz vor Identität«. Man achtet »in seinen Beobachtungen von Strukturen und Entwicklungen mindestens ebenso sehr wie auf Gemeinsamkeiten auf möglicherweise zwar nur feine, aber charakteristische Unterschiede und [hebt] gerade diese hervor.« Wer » im Verhältnis zu konkurrierenden Theorieangeboten jeweils den kleinsten gemeinsamen Nenner im Sinne eines ›overlapping consensus‹ herauszuarbeiten versucht«, wird zum Harmonisierer gestempelt, »der auf diese Weise andere Positionen für das eigene Projekt zu vereinnahmen sucht«.[1]

Ist nicht die Fähigkeit, immer feinere Differenzen zu erkennen und den Begriffen immer neue Bedeutungsunterschiede abzugewinnen das Kennzeichen eines guten Denkers? Die Welt ist nun einmal höchst komplex und kompliziert. Warum sollte Differenzierung da nicht der adäquate Ansatz ein? [2] Nein, sagt Healey. Es gehe nicht darum, die Differenziertheit der Welt in Abrede zu stellen. Aber um sie theoretisch zu erfassen, dürfe man nicht immer mehr in die Details gehen. Dazu müsse man hinreichend abstrakte Theorien aufstellen, die sich auch der Gefahr aussetzen, widerlegt zu werden.

Der Differenzierer fragt: Sind die Dinge nicht ein bißchen komplizierter? Fehlt da nicht noch irgend etwas? Haben nicht beide Positionen etwas für sich? Konstituieren nicht die Phänomene einander wechselseitig? Welche Rolle haben Struktur, Macht, Zeitlichkeit, Geschlecht (oder was sonst an abstrakten Begriffen einfällt) für dieses Problem?[3] Diese Einstellung so Healy, sei von Grund auf antitheoretisch. Sie blockiere die Abstraktion, auf die Theorie angewiesen sei, und behindere die in der Theoretisierung steckende Kreativität, um sodann drei Differenzierungsfallen (nuance traps) zu beschreiben:[4]

»I do claim that the more we tend to value nuance as such – that is, as a virtue to be cultivated, or as the first thing to look for when assessing arguments – the more we will tend to slide toward one or more of three nuance traps. First is the ever more detailed, merely empirical description of the world. This is the nuance of the fine-grain. It is a rejection of theory masquerading as increased accuracy. Second is the ever more extensive expansion of some theoretical system in a way that effectively closes it off from rebuttal or disconfirmation by anything in the world. This is the nuance of the conceptual framework. It is an evasion of the demand that a theory be refutable. And third is the insinuation that a sensitivity to nuance is a manifestation of one’s distinctive (often metaphorically expressed and at times seemingly ineffable) ability to grasp and express the richness, texture, and flow of social reality itself. This is the nuance of the connoisseur. It is mostly a species of selfcongratulatory symbolic violence.«

Eine vierte Falle, so könnte man hinzufügen, ist das Landkartenproblem. Eine Theorie, die die ganze Komplexität der Welt abbilden wollte, wäre unbrauchbar wie eine Landkarte im Maßstab 1:1. Die brauchbare Vereinfachung ist eine Kunst. Andernfalls sieht man den Wald nicht mehr vor lauter Bäumen.

Abstraktion wird immer wieder als Krankheit des Rechts angesprochen. Sie bildet aber ein allgemeineres Problem. Es bedarf eines langen Trainings, um die in ihrer Konkretheit unendlich differenzierte Wirklichkeit in wissenschaftlichen Texten zu repräsentieren, das heißt, sie in (abstrakte) Theorie zu bringen. Theorie arbeitet notwendig mit Verallgemeinerungen, die immer zugleich eine Abstraktion darstellen. Einwände gibt es immer, und es ist bequem, Einwänden durch eine neue Volte der Theorie Rechnung zu tragen.

Vor kurzem habe ich innerhalb einer Stunde vierzehn neue Bücher heruntergeladen, die mir nach Titel und Verlagsanzeige für Rechtssoziologie und Rechtstheorie relevant erschienen (darunter das in Fn. 3 genannte). Niemand kann solche Literaturmengen gründlich lesen und ihre Gedanken vollständig aufnehmen. Muss er auch gar nicht. Die Erfahrung ist immer wieder, dass wenig von dem, was zwischen bunten Buchdeckeln daherkommt, neu und wichtig ist. Die Texte umkreisen und differenzieren immer wieder die gleichen Fragen und finden selten zu neuen Antworten. In der Regel geht es darum, auf alte Probleme mit neuen Sprachspielen zu antworten, die dem Zeitgeist Rechnung tragen. So hat sich wohl jeder, der versucht, in dieser Argumentationsflut den Kopf über Wasser zu halten, eine Schnelllesestrategie zugelegt. Titel, Klappentext, Grobgliederung, ein Blick in Einleitung und Zusammenfassung und dann vielleicht noch eine Stichwortsuche. Mehr ist oft nicht drin. Die Aufgabe des Perlentauchers müssen andere übernehmen. Freilich bedeutet diese Literaturflut als solche noch keine Differenzierung. Aber Wissenschaftssoziologen werden sich früher oder später der Frage zuwenden, ob nicht die EDV-gestützte Leichtigkeit des Schreibens und die personelle Ausweitung der schreibenden Akademie die Differenzierung vorantreibt.

Die Abstraktionen des Rechts bestehen nicht aus wissenschaftlichen Theorien, sondern aus Regeln. Differenzierer haben die Rechtsnorm als allgemeine Regel in Verruf gebracht. Ein zusätzliches Problem folgt für die Jurisprudenz jedoch aus Forderung nach Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, einer Forderung, die auch dort, wo sie nicht vom Gesetz vorgesehen ist (wie in §§ 314 I 2 und § 626 I BGB), vom Bundesverfassungsgericht generalisiert worden ist. Hier wäre nun die Hoffnung auf die Rechtstheorie, auch in Gestalt der Methodenlehre, der Jurisprudenz und mit ihr den Gerichten bei der Abarbeitung der Einzelfälle durch Regelbildung zu unterstützen. Ich sehe dazu bisher keine Ansätze. Vielleicht müssen wir auf künstliche Intelligenz in Gestalt von JurGPT warten, die mit ihrer Fähigkeit zur Mustererkennung den argumentation overload eindampft. Bis dahin bedarf es des Selbstbewusstseins erfahrener Juristen, um dem differenzierten Theoriemosaik der philosophisch und sozialwissenschaftlich inspirierten Rechtstheorie und dem daraus folgenden Überangebot von Argumenten einigen Gewinn abzuringen.


[1] Ino Augsberg, Der Staat der Netzwerkgesellschaft, in: ders. (Hg.) Ino Augsberg, Der Staat der Netzwerkgesellschaft, 2023, 11–34, S. 12.

[2] Kieran Healy, Fuck Nuance, Sociological Theory 35, 2017, 118-127.

[3] Frei nach Healey S. 119.

[4] S. 121f.

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Überflüssige Literatur

Gelegentlich liest man Zahlen über den gewaltigen Ausstoß an wissenschaftlicher Literatur. Die Naturwissenschaften übertreffen insoweit wohl sogar noch die Sozial- und Geisteswissenschaften. Keiner kann alles thematisch Einschlägige lesen. Man kann das Problem der überflüssigen Literatur von einem distanzierten Beobachterstandpunkt aus ansehen nach dem Motto: Die Evolution wird es schon richten. Aber dem individuellen Wissenschaftler ist damit nicht geholfen. Viele Doktoranden verbringen zwei wertvolle Jahre ihres Lebens damit, überflüssige Literatur zu lesen und auszusondern. Im Übrigen entwickelt jeder seine eigene Technik zum Umgang mit dem Überfluss. Gelegentlich bewundere ich wissenschaftliche Arbeiten, die explizit nur wenige Quellen heranziehen als souverän und elegant. Vermutlich kenne ich dann selbst die einschlägige Literatur nicht gut genug, um zu erkennen, wem alles der Autor noch hätte Kredit geben können.

Bewährt ist die Methode, nur zu lesen und auszuwerten, was andere bereits mehr oder weniger zustimmend oder jedenfalls als diskussionswürdig zitiert haben. Aber da landet man nicht ganz selten in geschlossenen Zitiernetzwerken. Soweit vorhanden, helfen Buchbesprechungen. Dabei zeigt sich jedoch eine merkwürdige Asymmetrie. Es wird immer noch viel zu viel Literatur positiv als wertvoll erwähnt. Selten oder nie erklärt jemand ein Stück schlicht für überflüssig. Dafür gibt es natürlich Gründe. Der erste liegt in dem prinzipiellen Wohlwollen, mit dem nicht nur jede Alltagskommunikation beginnt, sondern das auch Grundlage aller hermeneutischen Anstrengungen ist. Zweitens gehört auch das Besprechungswesen weitgehend zur Netzwirkerei. Drittens fehlt aber auch ein selbstverständlicher Maßstab für das Überflüssige unter dem thematisch an sich Relevanten. Eine Begründung für das Überflüssigkeitsurteil ist ähnlich schwierig wie die Begründung für die offensichtliche Unbegründetheit eines Rechtsmittels nach § 313 Abs. 2 Satz 1 StPO.

Für den Produzenten selbst ist sein Literaturstück nie überflüssig, und sei es, dass er, wie regelmäßig der Verfasser dieser Zeilen, nur schreibt, um sich seiner eigenen Gedanken zu versichern. Vieles wird im Laufe der Zeit überflüssig. Da gilt wohl längst, dass Texte, die älter als zehn Jahre sind, nur noch gelesen werden, wenn sie Bestandteil der Zitatenschatzes geworden sind (und damit wären wir wieder im Netz). Mir geht es aber um die Literatur, die von vornherein überflüssig ist, weil sie mehr oder weniger Bekanntes nur neu formuliert, die man aber dennoch sichten muss, sei es wegen der Prominenz der Autoren, sei es wegen der deutlichen Bezüge der angebotenen Stichworte zu der eigenen Thematik.

Eine große Teilmenge des Genres überflüssige Literatur besteht aus Sammelbänden, wie sie nach Tagungen entstehen oder als Festschriften produziert werden. Wohl unvermeidlich enthält jeder Sammelband Überflüssiges. [1]Kritisch zur Sammelbandunkultur hat sich gerade Gerd Schwerhoff in der heimlichen Juristenzeitung geäußert. (Entschleunigung der Forschung – aber wie?, FAZ Nr. 184 vom 10. 8. 2011 S. N5.) Der … Continue reading Aber nicht selten kann man den ganzen Band vergessen. Ich habe mich gerade wieder über zwei solcher Exemplare geärgert, denn die Mühe, sie zu beschaffen und sie dann mindestens durchzublättern, ist (jedenfalls für mich) nicht unerheblich. Und deshalb fange ich einfach damit an zu benennen, was ich überflüssig gefunden habe, nämlich:
Ralf Diedrich/Ullrich Heilemann (Hg.), Ökonomisierung der Wissensgesellschaft, Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft?, Berlin 2011
Marc L. M. Hertogh (Hg.), Living Law, Reconsidering Eugen Ehrlich, Oxford 2009; vgl. dazu die zurückhaltende Rezension von Dan Steward. Law & Society Review 45, 2001, 225-227).
Guido Holzhauser/Carolin Suter (Hg.), Interdisziplinäre Aspekte von Compliance, Baden-Baden 2011.

Nachträge:
Schöner Titel, nichts dahinter: Heinz-Dieter Assmann/Frank Baasner/Jürgen Wertheimer (Hg.), Normen, Standards, Werte – was die Welt zusammenhält, Baden-Baden 2012.
Unergiebig: Ralf Diedrich/Ullrich Heilemann (Hg.), Ökonomisierung der Wissensgesellschaft, Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft?, Berlin 2011.

Christoph Möllers, Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, 2015. Klug und belesen. Viel rezensiert und zitiert. Und trotzdem: Überflüssig, es sei denn, man suchte nach einem Beleg für die Möglichkeit des Schreibens.

Dieter Grimm/Christoph König (Hg.), Lektüre und Geltung. Zur Verstehenspraxis in der Rechtswissenschaft und in der Literaturwissenschaft, 2020. Die Texte sind in drei Kolloquien 2012, 2014 und 2016 entstanden und entsprechend abgehangen. Immerhin erfahren wir (S. 7) »Rechtswissenschaft und Literaturwissenschaft sind Interpretationswissenschaften.« Ich habe nur einen interessanten Beitrag gefunden, der aber eigentlich gar nicht unter das Rahmenthema des Bandes passt: Pascale Cancik, Wenn der Gesetzgeber schweigt … — »Interpretation« durch die Verwaltung(en). Das Beispiel der Lärmaktionsplanung, in: Dieter Grimm/Christoph König (Hg.), S. 172-187. Darin zeigt Cancik auf, dass an der Implementation von Planungsrecht eine Vielzahl von Akteuren beteiligt ist.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Kritisch zur Sammelbandunkultur hat sich gerade Gerd Schwerhoff in der heimlichen Juristenzeitung geäußert. (Entschleunigung der Forschung – aber wie?, FAZ Nr. 184 vom 10. 8. 2011 S. N5.) Der weiß auch kein Rezept außer dem Vorschlag, Tagungsbeiträge zunächst grundsätzlich im Open Access Verfahren im Netz zu veröffentlichen.

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