Handbuchwissenschaft

Der Begriff der Handbuchwissenschaft stammt bekanntlich von Ludwik Fleck.[1] Eine Grundeinsicht Flecks, derentwegen er heute immer wieder zitiert wird, geht dahin, dass Wissen insofern sozial bedingt ist, als nicht Individuen, sondern »Denkkollektive« Wissen produzieren, stabilisieren und tradieren.[2] Das »Handbuch« ist bei Fleck eher Metapher als Publikationsgattung. Es geht nicht um ein reales Handbuch im Sinne eines gedruckten Textes, sondern um ein virtuelles Handbuch. Deshalb schreibe ich das Handbuch, wie es von Fleck gedacht war, ab hier in Anführungszeichen. Erst im kollektiv erstellten »Handbuch« wird Wissen als etwas Feststehendes und Bewiesenes zur »wissenschaftlichen Tatsache«, das heißt, zur Aussage, die innerhalb der Wissenschaft akzeptiert ist.[3]

Fleck unterscheidet im vierten Kapitel seines Buches »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« zunächst fachmännische Publikationen und populäre Wissenschaft. Populäre Wissenschaft ist Wissenschaft, formuliert »für Nichtfachleute, also für breite Kreise erwachsener, allgemein gebildeter Dilettanten«.[4] In der Populärwissenschaft entfallen Einzelheiten und vor allem auch die »streitenden Meinungen«. Populäre Wissenschaft will anschaulich sein. Hinsichtlich der Populärwissenschaft spricht Fleck auch von exoterischem Wissen im Gegensatz zu esoterischem Wissen, das Fachleuten vorbehalten ist.[5] Entsprechend differenzieren sich die Denkkollektive in die esoterischen Kreise der »Fachleute« = Wissenschaftler und die exoterischen Kreise des Publikums (das weitgehend aus Wissenschaftlern anderer Fächer besteht). Innerhalb dieser Kreise und zwischen ihnen läuft der »intra- und interkollektiver Denkverkehr«.

Für das esoterische Wissen nennt Fleck drei  »denksoziale Formen« = Typen, nämlich Zeitschriftenwissenschaft, Handbuchwissenschaft und Lehrbuchwissenschaft, von denen die letztere aber »hier weniger wichtig ist«[6]. Entscheidend ist also der Gegensatz zwischen Handbuchwissenschaft und Zeitschriftenwissenschaft. Auch die Zeitschrift wird hier zur bloßen Metapher für einen Typus der Wissenschaft. Er trägt

»das Gepräge des Vorläufigen und Persönlichen. Das erste Merkmal zeigt sich zunächst darin, daß trotz der ausgesprochenen Begrenztheit der bearbeiteten Probleme, doch immer ein Streben betont wird, an die ganze Problematik des betreffenden Gebietes anzuknüpfen. Jede Zeitschriftarbeit enthält in der Einleitung oder in den Schlußfolgerungen eine solche Anknüpfung an die Handbuchwissenschaft als Beweis, daß sie ins Handbuch strebt und ihre gegenwärtige Position für vorläufig hält … .«[7]

Das zweite Merkmal der Zeitschriftenwissenschaft ist eigentlich das erste, »die Ein- und Erstmaligkeit des Arbeitsstoffes«, mit anderen Worten, das Innovative, Vorläufige und Individuelle:

»Das zweite Merkmal, das Persönliche der Zeitschriftwissenschaft steht in gewissem Zusammenhange mit dem ersten. Die Fragmentarität der Probleme, Zufälligkeit des Materials (z.B. Kasuistik in der Medizin), technische Einzelheiten, kurz die Ein- und Erstmaligkeit des Arbeitsstoffes verbinden ihn unzertrennlich mit dem Verfasser.«

Ein wichtiges Stück der Botschaft Flecks ging dahin, dass schon der einzelne Wissenschaftler, also auch der individuelle »Zeitschriften«-Autor, keine individuelle Leistung erbringt, sondern von einem »Denkkollektiv« getragen wird. Das ist aber jetzt nebensächlich. Hauptsache ist, dass der individuelle Wissenschaftler stets nach Anerkennung und Bestätigung durch ein größeres Denkkollektiv von Fachleuten sucht oder vielmehr, in der Formulierung Flecks, ins »Handbuch« strebt.

»… Aus der vorläufigen, unsicheren und persönlich gefärbten, nicht additiven Zeitschriftwissenschaft … wird in der intrakollektiven Gedankenwanderung zunächst die Handbuchwissenschaft …«

Das »Handbuch« bezeichnet den aktuellen Stand der Fachdisziplin. Es entsteht nicht einfach dadurch, dass die Menge der einzelnen »Zeitschriftenartikel« addiert wird. Sie muss vielmehr irgendwie konsolidiert werden:

»Das Handbuch entsteht also nicht einfach durch Summation oder Aneinanderreihung einzelner Zeitschriftenarbeiten, denn erstere ist unmöglich, weil diese Arbeiten oft einander widersprechen, und letztere auch kein geschlossenes System ergäbe, worauf die Handbuchwissenschaft zielt. Ein Handbuch entsteht aus den einzelnen Arbeiten wie ein Mosaik aus vielen farbigen Steinchen: durch Auswahl und geordnete Zusammenstellung. Der Plan, dem gemäß die Auswahl und Zusammenstellung geschieht, bildet dann die Richtungslinien späterer Forschung: er entscheidet, was als Grundbegriff zu gelten habe, welche Methoden lobenswert heißen, welche Richtungen vielversprechend erscheinen, welchen Forschern ein Rang zukommt und welche einfach der Vergessenheit anheimfallen. Ein solcher Plan entsteht im esoterischen Denkverkehr.«[8]

Das »Handbuch« stellt eine Form der Konsolidierung des Wissens dar.

» … die Fachbuchwissenschaft in ihrer Handbuchform [verlangt] eine kritische Zusammenfassung in ein geordnetes System«, sie erledigt die »kollektive Kontrolle und Verarbeitung« der Zeitschriftenwissenschaft. [9]

Days »Handbuch« wächst, wie gesagt, im esoterischen Kreis der Fachleute. Allerdings gibt es für die Zeitschriftenarbeit »spezielle Fachleute« (S. 148). Deshalb darf man annehmen, dass die Handbucharbeit von weniger spezialisierten Fachleuten geleistet wird, wichtiger aber, dass die Handbucharbeit auch unter dem Eindruck der populären Wissenschaft steht.

»Da populäre Wissenschaft den größten Teil der Wissensgebiete eines Menschen versorgt, da ihr auch der exakteste Fachmann viele Begriffe, viele Vergleiche und seine allgemeinen Anschauungen verdankt, ist sie allgemeinwirkender Faktor jeder Erkenntnis.« (S. 148)

Von der populären Wissenschaft sagt Fleck, sie sei nicht als Einführung in die esoterische Fachwissenschaft aufzufassen; das besorge das Lehrbuch (S. 149).

»Charakteristisch für eine populäre Darstellung ist der Wegfall der Einzelheiten und hauptsächlich der streitenden Meinungen, wodurch eine künstliche Vereinfachung erzielt wird. Sodann die künstlerisch angenehme, lebendige, anschauliche Ausführung. Endlich die apodiktische Wertung, das einfache Gutheißen oder Ablehnen gewisser Standpunkte. Vereinfachte, anschauliche und apodiktische Wissenschaft – das sind die wichtigsten Merkmale exoterischen Wissens. …. [Es] schließt sich der Zirkel intrakollektiver Abhängigkeit des Wissens: Aus dem fachmännischen (esoterischen) Wissen entsteht das populäre [exoterische). Es erscheint dank der Vereinfachung, Anschaulichkeit und Apodiktizität sicherer, abgerundeter und fest gefügt. Es bildet die spezifische öffentliche Meinung und Weltanschauung und wirkt in dieser Gestalt auf den Fachmann zurück.« (S. 149f)

»Gewißheit, Einfachheit, Anschaulichkeit entstehen erst im populären Wissen; den Glauben an sie als Ideal des Wissens holt sich der Fachmann von dort.« (S. 152)

Letztlich wird sogar

»die Wahrheit zur objektiv existierenden Qualität gemacht. Auch diese Wertung – ein allgemeiner Zug exoterischen Denkens – entstand durch die Forderungen intrakollektiven Denkverkehrs und wirkt dann auf das fachmännische Wissen zurück.« (S. 153)

Das »Handbuch« versammelt also das kollektive und damit allgemeingültige Wissen. Die Folge ist eine Kanonisierung des Wissens, die zu einem »Denkzwang« führt.   Die Handbuchwissenschaft

»wählt, vermengt, passt an und verbindet exoterisches, fremdkollektives und streng fachmännisches Wissen zu einem System. Die entstandenen Begriffe werden tonangebend und verpflichten jeden Fachmann: aus dem vorläufigen Widerstandsaviso wird ein Denkzwang, der bestimmt, was nicht anders gedacht werden kann, was vernachlässigt oder nicht wahrgenommen wird, und wo umgekehrt mit doppelter Schärfe zu suchen ist: Die Bereitschaft für gerichtetes Wahrnehmen verdichtet sich.«[10]

Der Begriff der Kanonisierung, den Fleck selbst nicht verwendet, passt nicht ganz, denn ein Kanon meint in erster Linie einen festen Bestand von einzelnen Texten, insbesondere heiligen Texten und Klassikern. Ein »Kanon« entsteht nicht erst durch eine gezielte Auswahl, sondern er entwickelt sich ungeplant, sobald eine wissenschaftliche Fachgemeinschaft heranwächst. Er bildet eine gemeinsame Wissensbasis und übt eine gemeinschaftsbildende Kraft. Wer das Fach studieren und dazu gehören will, muss sich diese Texte aneignen. Aber wir dürfen wohl doch in einem übertragenen Sinne von einer Kanonisierung des Wissens sprechen, um die handbuchmäßige Konsolidierung des Wissens zu charakterisieren, denn Fleck betont mehrfach den exkludierenden Charakter des »Handbuchs«.

Indirekt geschieht das, indem er uns das »Denkkollektiv« als »ein ausgebautes, geschlossenes Meinungssystem« vorstellt, »das aus vielen Einzelheiten und Beziehungen besteht«. Einmal geformt, … beharrt es beständig gegenüber allem Widersprechenden.«[11] Die nachfolgende Erläuterung ist eine perfekte Vorwegnahme dessen, was die Postmoderne als perspektivisches Denken kritisiert:

»1. Ein Widerspruch gegen das System erscheint undenkbar.

    1. Was in ein System nicht hineinpasst, bleibt ungesehen, oder
    2. es wird verschwiegen, auch wenn es bekannt ist, oder
    3. es wird mittels großer Kraftanstrengung dem Systeme nicht widersprechend erklärt.
    4. Man sieht, beschreibt und bildet sogar Sachverhalte ab, die dem herrschenden Anschauungen entsprechen, d. h. die sozusagen ihre Realisierung sind – trotz aller Rechte widersprechender Anschauungen.« [12]

Später erfahren wir, dass die »Handbuchmeinung« für die «Übermacht der Masse über die Elite im demokratischen Denkkollektiv« steht. Zugleich macht Fleck aber dem einzelnen Forscher Mut, gehört er doch zur »Vorhut« und weiß, dass die Handbuchmeinung »immer bereits überholt ist«:

»In der modernen fortschreitenden Wissenschaft zeigt sich die Beziehung der Zeitschriftenwissenschaft zur Handbuchwissenschaft in einer charakteristischen Struktur des esoterischen Kreises: es gleicht einer Truppe im Marsch. In jeder Disziplin, ja in Bezug auf fast jedes Problem besteht eine Vorhut: die Gruppe der dieses Problem praktisch bearbeitenden Forscher; dann eine Haupttruppe: die offizielle Gemeinschaft, und schließlich mehr oder weniger desorganisierte Nachzügler.«[13]

Am Ende sei nur noch festgehalten: Bei Thomas Kuhn, der zunächst gelobt wurde, weil er Ludwik Fleck wiederentdeckt hatte, der aber heute eher als dessen Epigone gilt, wird aus der Handbuchwissenschaft das Paradigma.

Was bringt das alles für die neue Flut der Handbücher? Wenig. Für das Wenige brauche ich aber wohl doch noch eine Fortsetzung.


[1] Ludwik Fleck (1994, S. 156ff) Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, 1980 [1935].

[2] Literatur zu Fleck: Gutes Referat von Christiane Andersen, Wissenschaftliche Denkstile im Deutschen als Fach- und Fremdsprache, in: Michael Szurawitzki/Patrick Wolf-Farré, Handbuch Deutsch als Fach- und Fremdsprache, 2024, 7–21; elaborierter Wilhelm Baldamus, Das exoterische Paradox der Wissenschaftsforschung: Ein Beitrag zur Wissenschaftstheorie Ludwik Flecks, Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 10, 1979, 213-233. Ferner Achim Hahn, Denkstil und Denkkollektiv, in: Karsten Berr, Transdisziplinäre Landschaftsforschung, 2018, 97–108; Paweł Jarnicki/Hajo Greif, The ‘Aristotle Experience’ Revisited : Thomas Kuhn Meets Ludwik Fleck on the Road to Structure, Archiv für Geschichte der Philosophie 2024, 313–349; Clemens Knobloch, Ludwik Fleck und die deutsche Sprachwissenschaft, Zeitschrift für germanistische Linguistik 2019, 569–596. Bettina Radeiski, Denkstil, Sprache und Diskurse. Überlegungen zur Wiederaneignung Ludwik Flecks für die Diskurswissenschaft nach Foucault, 2017; Hannah Rosenberg, Wissenschaftsforschung als Diskursforschung. Überlegungen zur Selbstreflexion wissenschaftlicher Diskziplinen im Anschluss an Ludwik Fleck, Zeitschrift für Diskursforschung 6, 2018, 27–50;

[3] Fleck S. 164.

[4] Fleck S. 149.

[5] Fleck S. 147.

[6] Fleck S. 148.

[7] Fleck S. 156.

[8] Fleck S. 158.

[9] Fleck S. 156f.

[10] Fleck S. 163.

[11] Fleck S. 40.

[12] Fleck S. 40.

[13] Fleck S. 163.

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