Inflation überall. Es gibt einmal wieder eine neue Zeitschrift, und zwar mit dem Titel American Journal of Law and Equality. Sie erscheint in Open Access bei MIT Press. Jedenfalls zwei von den drei Herausgebern sind so prominent, dass man den Neuling wohl beobachten muss: Martha Minow und Cass Sunstein. Der dritte im Bunde, Randall Kennedy (Harvard Law School), war mir bisher nicht bekannt.
Das erste Heft berichtet über ein »Symposium on Michael Sandel’s The Tyranny of Merit«. Sandels Buch nimmt zum Ausgang den Skandal um William Singer, der wohlhabenden Eltern gegen hohe Schmiergelder für ihre Sprösslinge den Zugang zu Eliteuniversitäten verschaffte, und verallgemeinert diesen Skandal dahin, dass das Leistungsprinzip im Erziehungssystem der USA von den reicheren Familien unterlaufen werde. Sandel stellt die Frage, ob es hier nur um eine Korrumpierung des Prinzips gehe oder ob das Prinzip als solche problematisch sei. Das eigentliche Problem findet er darin, dass das Leistungsprinzip die Reichen verführe, ihren Reichtum, wie auch immer sie ihn erworben haben, für moralisch gerechtfertigt zu halten. Das bedeutet umgekehrt, dass man denen, die es nicht geschafft haben, sagen kann: selbst schuld. Die Selbstgerechtigkeit der Reichen spiegele sich wiederum in dem populistischen Aufstand gegen die Eliten. Tatsächlich sei unter der Rhetorik der Chancengleichheit die Ungleichheit geradezu explodiert. Der amerikanische Traum, dass Talent und harte Arbeit zum Erfolg führten, sei an der Realität gescheitert. Es sei moralisch keineswegs selbstverständlich, dass Talent belohnt werden müsse. Die Meritokratie verschütte das Gefühl für Schicksal und Zufall. Demut sei angezeigt.
»A perfect meritocracy banishes all sense of gift or grace. It diminishes our capacity to see ourselves as sharing a common fate. It leaves little room for the solidarity that can arise when we reflect on the contingency of our talents and fortunes. This is what makes merit a kind of tyranny, or unjust rule.«
Vielleicht hatte Macron Sandels Buch gelesen, bevor er im April die Schließung der ENA ankündigte. Das Buch[1] gibt jedenfalls reichlich Stoff zur Diskussion, insbesondere seine These, Bildung sei nicht das Allheilmittel gegen soziale Ungleichheit. Aber deshalb muss man nicht alles lesen, was dazu in der neuen Zeitschrift steht. Hilfreich ist schon die Rezension von Günther Nonnenmacher in der FAZ. Eine kurze Kritik der Kritik der Meritokratie (ohne Bezug auf Sandel) bietet der auch sonst bemerkenswerte Aufsatz von Philipp Kowalski, Geschlechterquoten im Kapitalgesellschaftsrecht Eine interdisziplinäre Analyse, Rechtswissenschaft 12, 2021, 148-183.
[1] Deutsch als Michael J. Sandel, Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt, 2021.