Dieser Eintrag schließt an das Posting vom 8. August 2012 an.
Als »klassische« Modernisierungstheorie bezeichnet man nicht die Theorie der Klassiker, sondern deren Fortsetzung vornehmlich durch US-amerikanische Soziologen nach 1950. Politisch etablierte sich nach 1949 der Begriff der Entwicklungshilfe und in der amerikanischen Soziologie die dazu passende zur Modernisierungstheorie. Talcott Parsons lieferte die Großtheorie. Er benannte vier »evolutionäre Universalien«, die einer jeden Gesellschaft überlegene Anpassungsmöglichkeiten geben sollen: eine Verwaltungsbürokratie, einen kapitalistischen Markt, Demokratie und ein universalistisches Rechtssystem.[1] Daniel Lerner[2] und Alex Inkeles[3] übernahmen es, die Modernisierungsthese in vergleichenden Untersuchungen empirisch zu testen. Viele andere Autoren waren beteiligt, und über manche Details wurde gestritten. Aber es gab doch eine große Linie der Übereinstimmung. Samuel P. Huntington hat sie 1971 in neun Punkten zusammengefasst[4], die hier (gekürzt in grober Übersetzung = kursiv) übernommen und fortgeschrieben werden. Davon heute die ersten beiden Punkte:
(1) Modernisierung ist ein revolutionärer Prozess. Der Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft verändert alle Aspekte des Lebens. Dem ist nichts hinzuzufügen.
(2) Modernisierung ist ein komplexer Prozess. Er lässt sich nicht auf eine einzige Variable oder Dimension reduzieren. Auf jeden Fall gehören Industrialisierung, Urbanisierung, soziale Mobilisierung, Differenzierung, Säkularisierung, Expansion der Medien, zunehmende Alphabetisierung, Ausbildung und politische Partizipation dazu. Die von Huntington genannten Variablen haben sich zwar in ihrem jeweiligen Gewicht verschoben, sind aber nach wie vor aktuell.
Allerhand Diskussion gibt es über den Gesichtspunkt der politischen Partizipation. Das gilt besonders für die Frage, ob Demokratie eine mehr oder weniger notwendige Begleiterscheinung der Modernisierung sei. Huntington selbst hat das verneint. Er meinte, entscheidend sei weniger die Regierungsform als vielmehr die Effektivität der Regierung. Die USA, Großbritannien und die Sowjetunion hätten ganz unterschiedliche Regierungsformen. Doch in allen drei Ländern könne die Regierung wirklich regieren. Alle drei Länder hätten starke, anpassungsfähige und kohärente politische Institutionen, eine effektive Bürokratie, gut organisierte politische Parteien, ein hohes Ausmaß an politischer Partizipation in öffentlichen Angelegenheiten, wirksame Systeme der zivilen Kontrolle über das Militär, beträchtliche wirtschaftliche Aktivitäten der Regierung und einigermaßen funktionierende Verfahren für die Regierungsnachfolge und zur Kontrolle politischer Konflikte.[5] Angesichts schlagender Beispiele autoritär gelenkter Modernisierung muss man Huntington wohl beipflichten. Alles andere wäre Wunschdenken. Einen kleinen Trost hält die Lipset-These bereit, nach der wachsender Wohlstand demokratische Verhältnisse fördert.[6] Sie scheint empirisch durchaus triftig zu sein.[7] Aber es scheint mir doch eine Fortschreibung der Modernisierungstheorie notwendig zu sein, deren Richtung David E. Apter[8] vorgegeben hat. Nur Demokratie kann dauerhaft den »positiven Pluralismus« gewährleisten, von dem die laufende Selbsterneuerung der Moderne abhängt. Es fällt auf, dass hier und auch sonst in Huntingtons Aufzählung das universalistische Rechtssystem und seine Konkretisierung in der rule of law – um den im Zusammenhang mit der Entwicklungshilfe üblichen Jargon zu übernehmen – nicht genannt werden. Das ist vielleicht ein erster Hinweis auf die Frage nach der Rolle des Rechts im Prozess der nachholenden Modernisierung.
Aufmerksamkeit verdient auch die Säkularisierungsthese. Sie behauptet dreierlei, nämlich erstens die Entzauberung der Welt in dem Sinne, dass religiöse Deutungen nicht länger die Öffentlichkeit dominieren; zweitens Entkirchlichung, d. h. den Rückgang der organisierten Religionsmitgliedschaft, und drittens Privatisierung, also die Trennung von Religion und Politik, so dass religiöse Bekenntnis zur Privatsache wird. Viele halten die Säkularisierungsthese nicht mehr für haltbar, nachdem José Casanova auf die seit den 1980er Jahren zu beobachtende Renaissance der Religionen aufmerksam gemacht hatte.[9] Da diese These hier nicht adäquat erörtert werden kann, sei dazu aus einer neueren Veröffentlichung Casanovas zitiert:
»Ich stelle hiermit nicht die Tatsache in Frage, dass ein radikaler historischer Prozess der Säkularisierung stattgefunden hat …; ebenso wenig bezweifle ich die Tatsache, dass wir in einem säkularen Zeitalter leben. … im Sinne der globalen Expansion eines säkularen Interpretationsrahmens … werden nicht nur die ›säkularen‹ Gesellschaften des Westens, sondern die ganze Welt zunehmend säkular und ›entzaubert‹ in dem Sinn, dass die kosmische Ordnung zunehmend durch die moderne Wissenschaft und Technologie definiert wird, dass die soziale Ordnung zunehmend durch die Verknüpfung von ›demokratischen‹ Staaten, Marktökonomien und medialen Öffentlichkeiten definiert wird, und dass die moderne Ordnung zunehmend durch die Kalkulationen von Rechte besitzenden individuellen Akteuren definiert wird, die Menschenrechte, Freiheitsrechte, Gleichheit und das Streben nach Glück einfordern.«[10]
Im Übrigen sei auf einschlägige Literatur verwiesen, insbesondere auf die Übersichtsartikel von Gabriel[11] und Pollack[12]. Immerhin will ich anmerken, dass die derzeit beobachtete Politisierung des Islam entgegen dem ersten Anschein einen Schritt zur Säkularisierung bedeuten könnte. Im Zusammenhang mit dem Syrienkonflikt war in den letzten Tagen wiederholt von der Organisation islamischer Staaten die Rede. 57 islamische Staaten haben sich in der OIC zusammengeschlossen. Bemerkenswert ist, dass es überhaupt islamische Staaten gibt, denn damit ist das zentrale islamische Dogma verlassen, nach dem es jenseits der Umma, also der Gemeinde mit dem Kalifat, keine weitere Organisation der Gesellschaft geben soll.
[1] Talcott Parsons, Evolutionary Universals in Society, American Sociological Review 29, 1964, 339-357/356 (= Evolutionäre Universalien der Moderne, in: Wolfgang Zapf (Hg.), Theorien des sozialen Wandels, 1971, 55-74). Einen Versuch zur Präzisierung unternimmt Johannes Berger, Die Einheit der Moderne, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 201-225, S. 208f.
[2] The Passing of Traditional Society: Modernizing the Middle East, Glencoe, The Free Press, 1958; ders., Artikel »Modernization: Social Aspects« in: International Encyclopedia of the Social Sciences, 1968. Lerner verstand unter Modernisierung gesellschaftliche Veränderungen, die durch Industrialisierung und Verstädterung, durch die Massenmedien und durch politische Partizipation vorangetrieben wurden. Den harten Kern der Modernisierung sah Lerner im Wirtschaftswachstum begleitet von demokratischer Partizipation an der Politik, der Verbreitung säkular-rationaler Normen, in einem Zuwachs an physischer und psychischer Mobilität der Menschen und in einem neuen Persönlichkeitstyp, der sich in fremde Rollen hineinversetzen kann.
[3] Making Men Modern: On the Causes and Consequences of Individual Change in Six Developing Countries, American Journal of Sociology 75, 1969, 208-225; Alex Inkeles/David H. Smith, Becoming Modern. Individual Change in Six Developing Countries, Cambridge/Mass. 1974. Inkeles untersuchte den Einfluss des Modernisierungsprozesses auf die Persönlichkeit und befragte dazu 6000 Probanden in sechs Entwicklungsländern. Er stellte fest, dass eine Reihe von Persönlichkeitszügen, die mit der Modernisierung in Verbindung gebracht werden – Offenheit gegenüber sozialem Wandel, Toleranz, Vertrauen in Wissenschaft und technische Methoden – sich in sechs verschiedenen Gesellschaften parallel entwickelt haben. Und zwar spiegeln die Modernitätsindikatoren recht gut die Schulausbildung und die Erfahrung in der Fabrikarbeit.
[4] Samuel P. Huntington, The Change to Change. Modernization, Development, and Politics, Comparative Politics 3, 1971, 283-322, S. 288ff. Daran orientiert sich auch Johannes Berger, Was behauptet die Modernisierungstheorie wirklich – und was wird ihr bloß unterstellt?, Leviathan 24, 1996, 45-62.
[5] Samuel P. Huntington, Political Order in Changing Societies, New Haven 1968, S. 1. Für Daniel Lerner war die Demokratie nur die »Krönung« der politischen Modernisierung, weil sie eine gewisse Reife des politischen Systems und auch die Bildung moderner Persönlichkeiten voraussetze (The Passing of Traditional Society, 1958, 64). Vgl. auch Ilja Srubar, War der reale Sozialismus modern? Versuch einer strukturellen Bestimmung, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 43, 1991, 415-432. Srubar verneint die Frage, da dem Sozialismus die für die Moderne notwendige Konstellation von privater und öffentlicher Sphäre gefehlt habe. Zur Moderne gehöre nämlich die Differenzierung von privatem Markt und öffentlichem Staat, der mittels einer rationalen Bürokratie vorhersehbares Handeln ermögliche.
[6] Seymour Martin Lipset, Some Social Requisites of Democracy: Economic Development and Political Legitimacy, The American Political Science Review 53, 1959, 69-105; ders., The Social Requisites of Democracy Revisited, American Sociological Review 59, 1994, 1-22.
[7] Wolfgang Merkel, Systemtransformation, 2. Aufl., 2010, 70ff.
[8] David E. Apter, Marginalization, Violence, and Why We Need New Modernization Theories, in: World Social Science Report, Knowledge Divides, Paris 2010, S. 32-37.
[9] José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994, S. 66. Auf Casanova berufen sich z. B. Bertram Turner/Thomas G. Kirsch, Law and Religion in Permutation of Order: An Introduction, in: dies. (Hg.), Permutations of Order, Religion and Law as Contested Sovereignties, Farnham, Surrey 2009, S. 1-24, S. 2.
[10] José Casanova, Welche Religion braucht der Mensch? Theorien religiösen Wandels im globalen Zeitalter der Kontingenz, in: Bettina Hollstein u. a. (Hg.), Handlung und Erfahrung, Das Erbe von Historismus und Pragmatismus und die Zukunft der Sozialtheorie, 2011, S. 169-189, S. 187.
[12] Detlef Pollack, Rekonstruktion statt Dekonstruktion: Für eine Historisierung der Säkularisierungsthese, Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe, 7, 2010, H. 3. Zur neueren Diskussion etwa noch: Matthias Koenig, Jenseits des Säkularisierungsparadigmas?; Eine Auseinandersetzung mit Charles Taylor, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 63, 649- 673; Christoph Deutschmann, Capitalism, Religion, and the Idea of the Demonic, MPIfG Discussion Paper 2012/2.
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