Der Anschein normativer Qualität der Natürlichkeit ist leicht zu zerstören. Man kann darüber nachdenken, woher Natürlichkeit ihre normative Attraktivität bezieht. Alan Levinovitz, vom Fach her Theologe, meint, sie sei religiösen oder jedenfalls mythischen Ursprungs.[1] Er versucht, das Natürlichkeitsargument am Beispiel der »natürlichen Geburt« zu entlarven, denn in der Natur sei die Müttersterblichkeit und die Neugeborenensterblichkeit viel höher als beim Menschen. Keine Frage: Die Natur ist weithin »grausam«. Die Covid-Pandemie muss man wohl für natürlich halten. Deshalb ist sie aber nicht »gut«. Die Impfung dagegen ist höchst künstlich und dennoch von hohem Wert. Kein naturalistisch gedachter Naturzustand garantiert Freiheit und Gleichheit. Beides bietet erst eine rechtlich verfasste Gesellschaft. Das Natürlichkeitsargument hat eine Berechtigung nur, wenn es utilitaristisch, und das heißt, anthropozentrisch verwendet wird. Das heißt, die Natur, oder vielmehr einzelne ihrer Elemente, so wie sie sind, sind gut für Menschen. Andernfalls würde man schnell bei einem Sozialdarwinismus landen. In das utilitaristische Kalkül darf dann aber auch eingehen, was Levinovitz (S. 29) den nicht weiter reduzierbaren Wert des Naturerlebnisses nennt (oder was Menschen dafür halten), sei es das Erlebnis einer Landschaft, sei es das Erlebnis der Geburt.
Schwierig bleibt die deskriptive Bestimmung des Natürlichen. Kultur als Gegenbegriff versteht sich im weitesten Sinne unter Einschluss aller Technik. Das das Antonym natürlich/künstlich beleuchtet das Werden aller Erscheinungen, für die Natur in Anspruch genommen wird unter Einschluss der Prozesshaftigkeit ihrer Entstehung. Selbst die Saat, die der Landmann in die mit einem Grabstock gezogene Furche legt, wächst nunmehr künstlich.
Trotz alledem ist die Unterscheidung von Natur und Kultur ist nicht ganz hoffnungslos. Laien wissen in der Regel recht gut, was natürlich ist. Sie reden von natürlicher Geburt oder Naturheilkunde, von Biolebensmitteln und Biolandwirtschaft. Zwar ist auch »Bio« heute künstlich. Aber wenn es Alternativen gibt, lässt sich doch meistens zwischen mehr oder weniger natürlich unterscheiden. Und so unterscheiden nicht nur Laien, sondern auch Politik und Recht. Naturschutz und der Schutz der natürlichen Umwelt wären eine Illusion, wenn Politik und Recht keine Vorstellung hätten, was es zu schützen gilt. Landschaftsbau und Wasserwirtschaft betreiben in großem Umfang Renaturalisierung. Man kauft naturbelassene Nahrungsmittel, und Industriebrachen werden der Natur überlassen, um sich zu renaturieren. Als »natürlich« gilt in erster Linie der Verzicht auf einen Eingriff in den Ablauf der Dinge, auch wenn dieser Ablauf längst nicht mehr natürlich ist. Naturschutz, Umweltschutz und Klimaschutz scheitern jedenfalls nicht an einem ungeklärten Naturbegriff.
Naturschutz auch für den Menschen? Da wird die Sache heikel. In Ungarn kämen Politiker vielleicht auf die Idee, Naturschutz für die Zweigeschlechtlichkeit zu fordern. Aber auch Abweichungen vom Normalfall gehören zur Natur. Wer ist also »der Mensch«, der geschützt werden sollte?
Die Philosophie unterscheidet seit Aristoteles zwischen der ersten und der zweiten Natur des Menschen.[2] Die erste Natur ist die körperlich biologische. Die zweite Natur ist die kulturelle Ausformung der ersten. Als Einführung in Begriffsgeschichte und Problematik kann ein Kongressbeitrag von Philip Hogh[3] dienen. Die Begriffsbildung ist zwar philosophisch schwer beladen. Dennoch ist sie geeignet, um die Soziologie aus der konstruktivistischen Umklammerung zu befreien, das heißt, um den Menschen als soziales Wesen zu begreifen, ohne ihn vollkommen zu entnaturalisieren.[4]
Für die Bestimmung der Natur des Menschen steht eine ganze Disziplin bereit, die Anthropologie mit ihren Ausprägungen als naturwissenschaftliche, philosophische und Sozialanthropologie. Letztere kennt sogar noch eine Spezialisierung als Rechtsanthropologie.[5] Anthropologie ist in der kulturalistisch orientierten Sozialwissenschaft herzlich unbeliebt, weil sie im Verdacht steht, nach dem Einfluss genetischer Faktoren auf Kognitionen und Emotionen, auf Intelligenz und sexuelle Identität zu fragen. Für diese Abneigung kann man sich anscheinend auf den großen Kant berufen. Der hatte erklärt:
»[E]ine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet … werden.« (Metaphysik der Sitten, Einleitung II. a. E.)
Aber der Schein trügt. Kants Ethik bleibt formal, das heißt, letztlich ohne Inhalt. Eine materiale Ethik muss die Kantischen Prinzipien verletzen. Sie muss Aussagen über die Welt aufnehmen, die a priori nicht zu haben sind. Dazu braucht sie eben doch die Anthropologie. Fragt sich nur, welche.
[Fortsetzung folgt.]
[1]. Alan Levinovitz, Natural: How Faith in Nature’s Goodness Leads to Harmful Fads, Unjust Laws, and Flawed Science, 2020. Das Buch lohnt sich nicht, wenn man Birnbachers Auseinandersetzung mit dem ethischen Naturalismus zur Hand hat.
[2] N. Rath, Natur, zweite, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, 1984, Sp. 484-494.
[3] Philip Hogh, Zweite Natur. Kritische und affirmative Lesarten bei John McDowell und Theodor W. Adorno, XXII. Deutscher Kongress für Philosophie, 11. – 15. September 2011, Ludwig Maximilians-Universität München.
[4] Gedanke und Formulierung nach Philip Hogh/Julia König, Bestimmte Unbestimmbarkeit. Über die zweite Natur in der ersten und die erste Natur in der zweiten, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59, 2011, 419–438, S. 421.
[5] Die Rechtsanthropologie wird etwa von dem portugiesischen Politikwissenschaftler Armando Marques Guedes gepflegt.