Am 26. und 27. März gab es in Heidelberg eine Tagung unter der Überschrift »Warum befolgen wir Recht? Rechtsverbindlichkeit und Rechtsbefolgung in interdisziplinärer Perspektive«.[1] Sie wurde ausgerichtet von zwei Heidelberger Habilitanden, Patrick Hilbert und Jochen Rauber. Die Veranstalter hielten sich mit ihren eigenen Arbeiten und Themen dezent im Hintergrund und sorgten mit einer sachlichen Einleitung, am Ende mit einer gekonnten Zusammenfassung und mit perfekter Organisation für gutes Gelingen. Auch die etwa 35 geladenen Teilnehmer waren überwiegend Habilitanden aus juristischen Fakultäten. Unter ihnen war neben dem offiziellen Programm Netzwerkpflege angesagt.
Den Eröffnungsvortrag hielt Doris Lucke aus Bonn. »Wirkungsforschung ist überall«, konstatierte sie ganz am Anfang. Aber die Tagung über Gesetzesevaluation und Wirkungsforschung, die fast genau ein Jahr früher am Wissenschaftszentrum in Berlin stattgefunden hatte, war und blieb in Heidelberg ebenso unbekannt wie das einschlägige Buch von Lawrence M. Friedman, Impact. How Law Affects Behavior von 2016. Frau Lucke machte gar nicht erst den Versuch, einen Überblick über die rechtssoziologische Forschung zur Befolgung von Recht zu geben, sondern öffnete elegant und interessant den Blick auf Fragestellungen, die sich angesichts von Ökonomisierung, Digitalisierung und Cyborgisierung auftun. Ihr kritischer Ansatz gegenüber dem »Humanozentrismus« und der »mechanisch-kausalen Denkwelt« der Wirkungsforschung wurde jedoch in den (immer lebhaften) Diskussionen nicht aufgenommen.
Der Obertitel der Tagung erinnert an Tom R. Tylers »Why People Obey the Law«. Tylers Name wurde in der Diskussion einmal beiläufig von Katharina Gangl erwähnt. In ihrem Vortrag über »Die Psychologie der Steuerehrlichkeit« ging sie auf die Motivation der Steuerbürger ein. Der Schwerpunkt des Referats lag bei möglichen Maßnahmen zur Beförderung der Steuerwilligkeit auf der von der von der OECD ausgegebenen Linie Managing and Improving Tax Compliance.
Danach verengte sich die Frage nach der Befolgung von Recht weiter auf ökonomische und/oder verhaltenswissenschaftliche Aspekte der Rechtsbefolgung. Nachdem Johannes Paha die ökonomische Perspektive sehr »rationalistisch« dargestellt hatte, wurde Anne van Aakens Vortrag über die »Befolgung des Völkerrechts« beinahe zur Gegendarstellung. Im Vergleich zu ihrem einschlägigen Aufsatz von 2013[2] betonte sie die Bedeutung der Verhaltensökonomik auch für das Völkerrecht und kündigte im Rahmen ihrer Humboldt-Professur in Hamburg »die Rechtstheorie ins Labor« zu bringen. Das Problem sah van Aaken in der Übertragbarkeit der an Individuen gewonnenen Einsichten auf Staaten als Akteure. Mit diesem Problem setzte sich das Paper von Cornelia Frank über den »unzulässigen oder gebotenen Anthropomorphismus« bei der Erklärung staatlichen Rechtsverhaltens auseinander, das aber nicht vorgetragen und diskutiert wurde, weil Frau Frank nicht anwesend war.
Am Ende nahm Johanna Wolff den verhaltenswissenschaftlichen Faden auf der Individualebene noch einmal auf, u. a. um zu erklären, dass es bei den heute so populären »nudges« nicht um die Förderung der Rechtsbefolgung gehe, sondern um paternalistische Fürsorge.[3] So ganz konnte ich ihr bei dieser Entgegensetzung nicht folgen, umso mehr allerdings bei ihrer Absicht, die verhaltenswissenschaftlich informierten Instrumente der Rechtspolitik zu typisieren und sie den verfolgten Zwecken gegenüberzustellen, um so zu einer Beurteilung der rechtlichen Zulässigkeit zu gelangen. In der Tat, »Nudging« ist inzwischen eher überstrapaziert.[4] Das Thema ist viel größer. Das zeigt der OECD-Band Behavioural Insights and Public Policy, 2017, auf den Wolff hinwies. (Der Band zeigt außerdem die große Bedeutung der OECD für Politikberatung und Rechtswirkungsforschung. Die OECD übernimmt international mehr und mehr die Rolle, die im nationalen Kontext die Bertelsmann-Stiftung usurpiert hat. Die Agenda dieser Institutionen wäre einmal eine eigene Tagung wert.)
Überrascht war ich von der von Jan Henrik Klement vorgetragenen These, eine wirksamkeitsorientierte Auslegung gehöre nicht in den Methodenkasten der Dogmatik, eine Auslegungsmodalität dürfe nicht verworfen werden, weil die Adressaten ihr nicht folgten. Immerhin hatte Eberhard Schmidt-Aßmann (zusammen mit Hoffmann-Riem) eine Neue Verwaltungsrechtswissenschaft konzipiert, die nach meiner Erinnerung durchaus auch auf »Wirkungs- und Folgenorientierung« abstellt[5]. Diese Heidelberger Erfindung kam überhaupt nicht zur Sprache. Ist es Zufall, dass sich Schüler des Schmidt-Aßmann-Nachfolgers zunächst von der »Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft« distanzieren[6] und sie dann ignorieren?
Andreas Funke unternahm den erfolgreichen »Versuch über die Möglichkeit, Rechtsbefolgung als Ausdruck personaler Autonomie zu denken«. Dazu stellte er dem »Gehorsamsmodell« des Rechts »Rechtfertigungsmodelle« gegenüber. Allein die Verbindung zwischen einer normativen Legitimation qua Rechtfertigung und der faktischen Rechtsbefolgung war nicht ohne weiteres ersichtlich. Zwei Stichworte, mit denen man die Verbindung vielleicht hätte herstellen können (mindset und Selbstanwendung) wurden nicht weiter ausgeführt. Mindset ist ja wohl ein psychologischer Begriff, und Selbstanwendung konnotiert mit Selbstmanagement und Selbstoptimierung.
Mich erinnerte die Entgegensetzung von Gehorsamsmodell und Rechtfertigungsmodell an eine alte Diskussion um imperatives und responsives Recht. Der Begriff des responsiven Rechts stammt von Nonet und Selznick, die damit eine evolutionäre Entwicklung des postmodernen Rechts kennzeichnen wollten. Teubner hat vor vielen Jahren das evolutionstheoretische Konzept des responsiven Rechts von Nonet und Selznick in ein rechtspolitisches umgelenkt. Danach ist responsives Recht eine »flexible, lernfähige Institution, … die sensibel reagiert auf soziale Bedürfnisse und menschliche Aspirationen.«[7] Responsivität könnte den Raum bezeichnen, den Funke den Normadressaten bei der Konkretisierung des Rechts zubilligen wollte. »Responsive Regulierung« bietet sich aber auch als Brückenbegriff für die verhaltensökonomischen Überlegungen an, die im Mittelpunkt der Heidelberger Tagung standen.[8] Solche Responsivität wird bisher vor allem für die Regulierung von Organisationen diskutiert. Dort ist der der Begriff seit 1992 durch den Band »Responsive Regulation« von Ian Ayres und John Braithwaite geläufig geworden.
Auf Peter Rinderles Vortrag über »Rechtsverbindlichkeit und -befolgung aus (rechts-)philosophischer Perspektive« hätte ich mich durch die Lektüre seines Buches über den »Zweifel des Anarchisten« vorbereiten sollen. Habe ich aber nicht. So dauerte es, bis ich seine Ausführungen in die Schublade »Positivismusdebatte« einordnen konnte. (Ich bin und bleibe ein Schubladendenker.) Zunächst hatte ich einige Schwierigkeiten mit der Ausgangsthese, dass es um eine politische und damit auch eine moralische Verpflichtung unabhängig vom moralischen Inhalt der Rechtsnorm gehen solle. Bekanntlich besagt die Trennungsthese des Rechtspositivismus, dass es kein notwendiges moralisches Kriterium für die Geltung des Rechts gibt. Sie lässt aber offen, ob ein solches Kriterium möglich ist. Um ein solches rechtsexternes Kriterium schien mir Rinderle bemüht, genauer, nicht um ein singuläres Kriterium, sondern um eine Kombination von Argumenten, die selbst für »philosophische Anarchisten« eine »moralische Pflicht zur Nicht-Intervention in legitime Staaten« begründen soll. Neu für mich der Begriff des multiprinzipiellen Etatismus.
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[2] Anne van Aaken, Die vielen Wege zur Effektuierung des Völkerrechts, Rechtswissenschaft 4, 2013, 227-262.
[3] Dazu schon Johanna Wolff, Eine Annäherung an das Nudge-Konzept nach Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein aus rechtswissenschaftlicher Sicht, Rechtswissenschaft 6, 2015, 195-223.
[4] Zuletzt etwa Franziska Weber/Hans-Bernd Schäfer, »Nudging«. Ein Spross der Verhal-tensökonomie. Überlegungen zum liberalen Paternalismus auf gesetzgeberischer Ebene, Der Staat 56, 2017, 561-592. In der Diskussion tauchte noch eine frische, von Klement betreute Dissertation zum Thema auf.
[5] So eine Überschrift bei Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts I, 2006, 1-61, S. 28.
[6] Klaus Ferdinand Gärditz, Die »Neue Verwaltungsrechtswissenschaft« — Alter Wein in neuen Schläuchen?, Die Verwaltung, Beiheft 12, 2017, 105-145.-
[7] Gunther Teubner, Reflexives Recht: Entwicklungsmodelle des Rechts in Vergleichender Perspektive, ARSP: Archiv für Rechts-und Sozialphilosophie, 1982, 13-59, S. 14.
[8] Vgl. dazu etwa den Band Kilian Bizer/Martin Führ/Christoph Hüttig (Hg.), Responsive Regulierung. Beiträge zur interdisziplinären Institutionenanalyse und Gesetzesfolgenabschätzung, 2002.