Die aktuelle Debatte um die Kriminalisierung der Prostitution interessiert mich nicht wirklich. Und so habe ich auch nicht alle Zeitungsbeiträge und schon gar nicht das Buch von Alice Schwarzer gelesen. Gelesen habe ich aber, was Martha Nussbaum in der Stanford Encyclopedia of Philosophy über »Feminist Perspectives on Sex Markets« schreibt. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Für die Rechtssoziologie interessiert aber die empirische Basis der Diskussion. Interessanter noch wäre eine prinzipielle Verzerrung der Diskussion, die auf die Wahrnehmung des Geschlechterverhältnisses im Allgemeinen zurückwirken könnte. Eine solche Verzerrung könnte durch eine ökonomische Analyse der Sexualität zu Tage treten.
Gegenüber der Prostitution sind zwei gegensätzliche Positionen denkbar und werden vertreten, eine prohibitionistische und eine individualistisch-liberale. Die eine sieht in der Bezahlung von sexuellen Diensten eine Form der Gewaltausübung gegen Frauen und eine unmoralische Kommodifizierung der Sexualität. Konsequenz ist die Ächtung der Prostitution und ihre Bekämpfung, insbesondere auch mit strafrechtlichen Mitteln. Diese Auffassung ist so weit verbreitet, dass von einem moralischen Kreuzzug gegen die Prostitution die Rede ist. Heimat vieler Kreuzritter ist Schweden, von wo aus sie das »Schwedische Modell« in Europa und darüber hinaus zu verbreiten suchen. Man staunt, dass sich auch DER SPIEGEL, der sich sonst viel auf seine Liberalität zugutehält, der Kriminalisierungskampagne angeschlossen hat.
Die andere individualistische Auffassung betont die Autonomie der Frauen, und damit deren Recht, auch sexuelle Dienstleistungen anzubieten. Sie ist der Ansicht, dass eine Entkriminalisierung den betroffenen Frauen helfen würde. Selbstverständlich besteht Einigkeit, dass bestimmte Begleiterscheinungen der Prostitution kriminalisiert bleiben und bekämpft werden müssen. Das gilt vor allem für Frauenhandel. Aber schon bei der Frage nach zulässigen Organisationsformen der Prostitution (Bordell, Zuhälter) scheiden sich die Geister, und kaum weniger umstritten ist, wieweit rechtlich nicht verbotene Prostitution öffentlich sichtbar werden darf.
Die aktuelle Debatte stützt sich auf die These, dass die Legalisierung der Prostitution in Deutschland insofern einen perversen Effekt gehabt habe, als nicht nur allgemein der Sexmarkt gewachsen, sondern insbesondere auch die illegalen Begleiterscheinungen Frauenhandel und Zwangsprostitution zugenommen hätten. »Liberale Gesetzgebung scheint ›moderne Sklaverei‹ zu begünstigen«, so wird eine neuere Studie aus der London School of Economics angepriesen . Henning und Walentowitz sind der Herkunft der von den Autoren verwendeten Daten nachgegangen mit dem Ergebnis »bei Licht betrachtet handelt es sich um Datenmüll – bestens geeignet allerdings, um politisch opportune Botschaften zu verbreiten«. Nicht weniger kritisch äußert sich Tim Worstall in FORBES vom 15. 6. 2013. Sein Hauptargument lautet, da werde nicht sauber zwischen Frauenhandel und illegaler Immigration prostitutionswilliger Frauen unterschieden. Der Artikel endet:
»Finally, there’s simply the sheer implausibility of the claims that 30% of all prostitutes are trafficked (sex slavery). Prostitution is the ultimate in personal services: it really is one thing where the supplier and the customer have to meet in person. There’s a claim (not one this paper makes) for the UK that 25,000 such sex slaves are in such servitude in any one year. The idea that none of them ever indicate their plight to any of the hundreds of thousands of men who make up their clientele, or that if they do none of those men reports it to police, is simply fantastical. No one with any experience of real live human beings could possibly believe it.«
Auch sonst bleibt die empirische Basis der aktuellen Diskussion dürftig. Sie kann sich allenfalls auf Einzelfallberichte berufen. Eindrucksvoll ist ein Bericht von Martin Wittmann in der Heimlichen Juristenzeitung vom 11. 4. 2008 »Prostituierte aus Nigeria: Bestellt verraten und verkauft«. Die vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegebene Untersuchung über »Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes« von 2005 ist zu langweilig, um alle 309 Seiten gründlich zu lesen. Langweilig ist auch das APuZ-Themenheft »Prostitution« vom Februar 2013. Immerhin erfährt man da, dass es keine belastbaren Zahlen zum Menschenhandel gibt, ferner dass nach Befragungen von Sexarbeiterinnen aus Bulgarien und Rumänien der weitaus größte Teil von ihnen aus freier Entscheidung zum Erwerb des Lebensunterhaltes der Prostitution nachgeht.
In Schweden ist die Prostitution seit 1999 durch eine Strafandrohung für Freier indirekt verboten. Außerdem ist Zuhälterei und die Vermietung von Räumen zu Prostitutionszwecken unter Strafe gestellt. Es hat wiederholt amtlich veranlasste Gesetzesevaluierungen gegeben, alle mit dem Ergebnis, dass Freier abgeschreckt würden, die Prostitution abgenommen habe, dass der Menschenhandel zu Prostitutionszwecken zurückgegangen sei und dass die Einstellung des Publikums im Sinne des Gesetzes verändert habe. Ich kann die schwedischen Veröffentlichungen nicht lesen und beziehe mich daher auf Susanne Dodillet und Petra Östergren, die ausführen, dass die vorliegenden Daten solche Erfolgsmeldungen nicht stützen. Zudem gebe es eine ganze Reihe für die eigentlich schutzbefohlenen Sexarbeiterinnen negative Effekte. Strafe und intensive Verfolgung vertreiben gerade die Freier, die Prostituierten am wenigsten belasten. Stattdessen wächst die Zahl der risikobereiten Kunden, die sich ohnehin in der Kriminalitätszone bewegen und daher kaum abzuschrecken sind. Die Preise verfallen und die Bereitschaft zu ungeschütztem Sex und zu problematischen Praktiken steigt.
Dürftig scheint die empirische Basis auch zu sein, wenn man das sprichwörtlich älteste Gewerbe der Welt allgemeiner als Marktgeschehen betrachtet. Da wird mit großen Zahlen herumgeworfen, deren Quelle ebenso unklar ist wie eine brauchbare Interpretation. Gerheim hält in der Einleitung seines Buches über »Die Produktion des Freiers« (2012) einleitend fest, es ist »lediglich eine einzige quantitative Studie … zu verzeichnen, die von einem Annäherungswert von 18 % dauerhaft aktiver Prostitutionskunden der geschlechtsreifen männlichen Bevölkerung« ausgehe. »Die spärlichen anderen Daten bezüglich des Prostitutionsfeldes, wie 1.200.000 Kunden pro Tag, 400.000 Sexarbeiterinnen, davon ca 60 % Migrantinnen, 14,5 Mrd. Euro Jahresumsatz« … entpuppten sich bei genauerer Betrachtung lediglich als Schätzwerte oder Hochrechnung, die zum Teil auf Daten aus den 80er Jahren basierten. Gerheim resümiert, »dass zur Zeit keine verlässlichen und abgesicherten quantitativen Primärdaten über das soziale Feld der Prostitution existieren.« (S. 7)
Die beste »Marktstudie« ist wohl noch immer eine Untersuchung von Steven D. Levitt und Sudhir Alladi Venkatesh aus Chicago von 2007 zu sein: An Empirical Analysis of Street-Level Prostitution. Ich habe sie nur als Manuskript im Internet gefunden, das sich selbst als vorläufig bezeichnet. Einige der provozierenden Ergebnisse lauten etwa:
Verbrechen haben Täter und Opfer. Der Täter sucht nach einem Opfer, während potentielle Opfer möglichst vermeiden, mit ihnen zusammenzutreffen. Bei der Prostitution gibt es diese Rollenverteilung nicht. Beide suchen den Kontakt, weil beide glauben, davon zu profitieren. Und deshalb funktioniert Prostitution eben wie andere Märkte auch. Was die Preisfindung betrifft, so gibt es gängige Tarife. Im Einzelfall wird aber auch ein bißchen gehandelt, und vor allem gibt es Diskriminierung: Unappetitliche Kunden und Kunden einer anderen Rasse müssen mehr zahlen.
Der Prostitutionsmarkt ist räumlich konzentrierter als der Markt für Drogen. Das liegt einerseits daran, dass Dealer viele Kunden kennen, während Prostituierte sich an unbekannte Kunden wenden. Und es liegt andererseits daran, dass Drogenhandel viel stärker verfolgt wird, so dass räumliche Konzentration auch die Polizei leichter auf die Spur bringen würde. Auf Stundenlohn umgerechnet verdienten Prostituierte etwa drei Mal so viel wie ungelernte Arbeitskräfte. Arbeiteten sie mit einem Zuhälter, war ihr Einkommen um annähernd 50 % höher. Auch die Kunden fahren besser mit einem Zuhälter, denn diese legen Wert auf guten Service, damit die Kunden wiederkommen. In Chicago, wo die Prostitution strafbar ist, kam es doch nur relativ selten zu Strafanzeigen. Viele Polizisten verzichten darauf, wenn sie dafür umsonst bedient werden.
Auch das ist aber nur von begrenztem Interesse. Interessanter ist schon die Frage, ob das Phänomen der Prostitution nicht bloß Ausfluss der allgemeinen Marktlage im Geschlechterverhältnis ist, die durch einen männlichen Nachfrageüberhang gekennzeichnet ist. Spannend wäre aber zu wissen, warum – im Falle einer bejahenden Antwort – die Frauen ihre überlegene Marktposition nicht besser nutzen können. Wo bleibt die Frauenpower? Vielleicht kann ich dieser Frage in einem späteren Eintrag nachgehen.
Fortsetzung: »Erotisches Kapital« und »Sexdefizit«: Auf dem Weg zur ökonomischen Analyse des Geschlechterverhältnisses.
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