Wie übersetzt man »Popular Legal Culture«?

Aus den Themen »Rechtskenntnis«, »Rechtsbewusstsein« und »Einstellung der Bevölkerung zum Recht« ist unter dem Einfluss der sog. cultural studies in den letzten Jahrzehnten das Thema »Popular Legal Culture« geworden. Es fehlt an einer passenden deutschen Übersetzung. Zwar wird in der deutschen wissenschaftlichen Literatur der Ausdruck »Populärkultur« verwendet. Man könnte also von populärer Rechtskultur sprechen. Aber »populär« hat im Deutschen unerwünschte Konnotationen; es klingt nach »populistisch« oder nach »Pop« im Sinne von Unterhaltung. Die richtige Übersetzung wäre »Rechtliche Volkskunde«. Die Volkskunde[1] war Vorläufer der Kulturwissenschaft. Volkskunde als Begriff kam um 1800 im Verwaltungsschrifttum des aufgeklärten Absolutismus auf und wurde von Statistikern, Geographen und Reiseschriftstellern verwendet. Man verstand darunter eine empirische Charakter-, Menschen- und Völkerkunde. »Volk« war nicht mehr als Land und Leute. Als Begründer einer wissenschaftlichen Volkskunde gilt 1853 Wilhelm Heinrich Riehl. Von ihm erschienen 1851-54 eine »Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik« in drei Bänden sowie 1853 das Buch »Land und Leute (Volkskundliche Studien)«. Der Volksbegriff war jedoch von der Romantik mit literarischen, psychologischen und nationalen Konnotationen befrachtet worden. Savigny sprach vom »Volksgeist« als Schöpfer des Rechts und die Brüder Grimm sammelten Volkslieder und Volksmärchen. Den Nationalsozialisten fiel es nicht schwer, die Volkskunde auf eine »rassische Grundlage« zu stellen. Von diesem Missbrauch hat sich das Fach nach dem Kriege erst erholt, nachdem es »Abschied vom Volksleben« (Bausinger) genommen hatte. Der Themenschwerpunkt verschob sich vom »Volk« auf Lebenswelt, Alltag und Kultur. An die Stelle der Volkskunde trat eine empirische Kulturwissenschaft, Kulturanthropologie oder Euro­päische Ethnologie. Es gab auch eine »Rechtliche Volkskunde«. In Österreich und der Schweiz pflegt man sie bis heute. Sie ist jedoch rückwärtsgewandt und in die Nähe der Rechtsarchäologie und (historischen) Rechtsikonographie gerückt.[2] Sie interessiert sich für den rechtlichen Gehalt alter Sagen, für rechtliches Brauchtum, sucht in der Kriminalgeschichte oder nach dem »Recht der kleinen Leute«[3]. Unter diesen Umständen übersetze ich »popular culture« im rechtssoziologischen Zusammenhang mit »Alltagskultur«. Für »popular legal culture« finde ich kein geeignetes Substantiv. Daher rede ich von der Alltagskultur des Rechts oder übernehme – der sprachlichen Variation halber – den englischen Ausdruck.

Nachtrag vom 15. 7. 2008: Stefan Machura hat mich darauf aufmerksam gemacht,  dass der »Alltagskultur« die Ambivalenz des englischen Ausdrucks fehlt. Das englische »popular culture« hat die Konnotation von vor allem medial vermittelter Popkultur. Deshalb muss man wohl doch, wenn es darauf ankommt, also insbesondere wenn davon die Rede ist, wie das Rechtsbewusstsein durch Film und Fernsehen geprägt wird, auf den englischen Ausdruck zurückgreifen.

Nachtrag vom 23. 11. 2008: Der vorstehende Beitrag ist abgedruckt worden in der Zeitschrift SIGNA JURIS Bd. 1, 2008, S. 173f. Es folgen dort Erwiderungen von Herbert Schempf (Volksrecht – Rechtliche Volkskunde – Rechtsethnologie, S. 175 f.) und von Theodor Bühler (Folklore Juridique – Rechtliche Volkskunde, S. 177-179).

Über Alltagskultur und Popular Legal Culture jetzt Rechtssoziologie-online § 39.


[1] Vgl. dazu den entsprechenden Artikel in Wikipedia sowie Helmut Klemm, Gesenkten Hauptes. Die Volkskunde ringt immer noch um ihr Profil, FAZ vom 5. 1. 2005, S. N 3.

[2] Karl-Sigismund: Kramer, Grundriß einer rechtlichen Volkskunde, Göttingen 1974; Herbert Schempf, Artikel »Rechtliche Volkskunde« in Rolf W. Brednich (Hrsg.), Grundriß der Volkskunde, Einführung in die Forschungsfelder der europäischen Ethnologie:, 3. Aufl. 2001, 423-444. Die Online-Ausgabe der Internationalen Volkskundlichen Bibliographie (IVB: http://www.evifa.de/) verzeichnet in der Rubrik Rechtliche Volkskunde: Allgemeines für die Zeit von 1985 bis 1998 immerhin 64 Titel, unter »Einzelnes« sind es sogar 1288. Es gab eine von Louis Carlen herausgegebene Schriftenreihe »Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde«, in der u. a. regelmäßig die Referate der Tagungen der »Internationalen Gesellschaft für Rechtliche Volkskunde« publiziert wurden. Jetzt ist eine Fortsetzung unter dem Titel »SIGNA IVRIS. Beiträge zur Rechtsikonographie, Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde« angekündigt. Vorläufig gibt es nur eine Webseite: http://www.signa-iuris.de/.

[3] Konrad Koestlin (Hrsg.), Das Recht der kleinen Leute. Beiträge zur rechtlichen Volkskunde; Festschrift für Karl-Sigismund Kramer zum 60. Geburtstag, 1976; Paul Henseler, Vom Recht der kleinen Leute. Die Nachbarbücher der ehemaligen Honschaften des Stadtgebietes von Sankt Augustin, 1990; Klaus Schriewer, Das Recht der kleinen Leute – Theoretische Probleme der Feldforschung, in: Andreas Kuntz (Hrsg.), Lokale und biographische Erfahrungen, 1995, 77-87.

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