Ernst-Joachim Lampe erklärt das Recht rückwärts

Der Wandel des Rechts wird oft wie selbstverständlich als Evolution bezeichnet. Aber es ist nicht klar, ob für die Gesellschaft und ihr Recht die gleichen Gesetze der Evolution gelten wie für die belebte Natur. Es ist im Gegenteil höchst fraglich, ob und wie man den Wandel des Rechts als Teil der kulturellen Evolution mit Hilfe der von Charles Darwin (1809-1882) begründeten Evolutionstheorie erklären kann.[1]

Auf den ersten Blick scheint alles von der Antwort auf die Frage nach der ontologischen Verfasstheit der Welt abzuhängen. Ist die Welt ein Kontinuum, das sich von der unbelebten und belebten Natur bis zur Gesellschaft, der Kultur und dem Recht erstreckt? Oder gibt es zwischen Natur und Gesellschaft eine Bruchlinie, wie sie etwa in dem Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaft vorausgesetzt zu werden scheint? Wer die erste Position einnimmt, wird für eine universelle Evolutionstheorie plädieren, das heißt, für eine direkte oder analoge Anwendung der Theorie Darwins auf Kultur und Recht. Wer dagegen die dualistische Antwort bevorzugt, wird eine Übertragung der biologischen Theorie auf die Gesellschaft ablehnen und die Evolutionstheorie nur als Heuristik und ihre Begriffe allenfalls metaphorisch heranziehen wollen. In diesem Sinne machen die philosophische Anthropologie, aber auch Sozial- und Kulturwissenschaften, geltend, dass die Entwicklung von Kultur und damit auch von Recht anderen Regeln folgt als die biologische Evolution.

2021 sind gleich drei Monografien erschienen, die das Recht »genetisch« erklären und dabei auf Evolution und mehr oder weniger stark auch auf deren biologische Basis abstellen:

Ernst-Joachim Lampe, Historiogenese des Rechts. Der Beitrag des Rechts zur sozialen Evolution des Menschen (Historische Rechtsanthropologie); Dieter Krimphove, Rechtsethologie. Die Ableitung des Rechts aus der Entwicklungsgeschichte des Menschen. Ferner hat der Strafrechtler Axel Montenbruck eine dreibändige »Naturethik« vorgelegt: Bd. 1 »Universelle Natur- und Schwarmethik«, 2021, Bd. 2 »Biologische Natur- und Spielethik«, Bd. 3 »Naturalistische Kriminologie und Pönologie«.

Krimphove und Montenbruck sind von Benno Heussen, der sich kurz zuvor seinerseits auf die »Suche nach den biologisch-psychologischen Wurzeln des Rechts« begeben hatte[2], positiv rezensiert worden.[3] Aber nur der Band von Lampe ist ernst zu nehmen. Darauf will ich mich heute konzentrieren. Die Texte von Krimphove und Montenbruck laufen auf einen unkritischen retrograden Naturalismus hinaus. Dazu werde ich in einem weiteren Eintrag auf Rsozblog Stellung nehmen.

Der Strafrechtler Ernst-Joachim Lampe hatte bereits 1970 einer »Rechtsanthropologie« vorgelegt. 1987 folgte der Band »Genetische Rechtstheorie. Recht, Evolution und Geschichte«, der vorübergehend die Diskussion über eine evolutionstheoretische Aufarbeitung der Rechtsgeschichte[4] belebt hat. Nun hat Lampe er noch einmal die »Historiogenese« des Rechts aufgearbeitet und dabei eine unglaubliche Fülle von Material verarbeitet, darunter auch viel ältere, heute oft vergessene Literatur. Entsprechend ist die Lektüre der 1021 Textseiten eine Zumutung, wiewohl die umfangreichen »erzählenden« Abschnitte durchaus interessant ausfallen. Der Autor kann schreiben. Er bietet eine Weltgeschichte des Rechts, vollständiger als die bekannten Werke von Seagle und Wesel. Ich bin gespannt, wie die Fachhistoriker, in deren Geschäft er sich damit einmischt, die Darstellung würdigen. Mich hat sie deshalb interessiert, weil Lampe die Rechtsgeschichte als evolutionäres Geschehen betrachtet, ohne, wie die Bücher von Krimphove und Montenbruck, in einen darwinistischen Naturalismus abzugleiten.

Lampe verzichtet zwar »auf eine gründliche Kritik der soziobiologischen Begründung von Rechtsnormen«[5]. Aber er bleibt vorsichtig:

» … Deshalb haben alle Versuche, durch Übertragung der im biologischen Bereich geltenden Entwicklungsgesetze auch die psychischen und kulturellen Entwicklungsprozesse zu erklären, sich in der Vergangenheit als nicht zielführend erwiesen, sondern nur die selbstverständliche Erkenntnis bestätigt, dass unter komplexeren Verhältnissen differenziertere Tendenzen oder gar Einmaligkeiten die Entwicklung beherrschen. Der Titel meiner Untersuchung ist daher nicht so zu verstehen, dass ich die Erkenntnisse zur Darwinschen Evolutionstheorie als biologische Variante einer Allgemeinen Evolutionstheorie begreife, die sich per analogiam auch auf die Rechtsentwicklung anwenden lässt.« (S. VII)

In der Folge unterscheidet Lampe zwischen »Bioevolution«, »Psychoevolution« und der Rechtsentwicklung als Teil einer sozialen Evolution, die vor allem auf schöpferischen Prozessen beruht (S. IXf). Als »Historiogenese« baut er sich seine eigene Evolutionstheorie mit Orthogenese und Anagenese als einer Tendenz zu einer irreversiblen Höherentwicklung (S. 638ff, 657).

»[Der Biologe] begreift Evolution als Entstehung und Untergang von Arten. Der Anthropologe denkt anders. Er begreift den Menschen nicht nur als eine besondere biologische Art, sondern auch als Schöpfer und Geschöpf von Kultur. Und er definiert kulturelle ›Evolution‹ nicht nur, Darwin folgend, als ›Veränderung‹, sondern auch, Spencer folgend, als Veränderung durch spontan schöpferische, eigendynamische Kräfte, die ihn ›orthogenetisch‹ bzw. unumkehrbar (›irreversibel‹) vervollkommnen, indem sie ihm die Entfaltung immer reicherer Möglichkeiten (die ›Anagenese‹) eröffnen. Kulturverfall und Zusammenbruch fallen daher nicht unter seinen Evolutionsbegriff; sie sind Devolutionserscheinungen.« (S. 607)

Diese Tendenz gilt freilich nur, wenn man das Große und Ganze betrachtet. Im Bereich konkreter Rechtskulturen »hat es eine ununterbrochene Evolution i. S. einer geradlinig verlaufenen Anagenese niemals und nirgends gegeben.« Die Frage, ob das Lernen bzw. Verlernen von kulturellen Fähigkeiten als individuelles Lernen in den Menschen oder in Strukturen, also für das Recht in der Entwicklung von Normen und Institutionen stattfindet, beantwortet der Jurist Lampe nach sorgfältiger Diskussion der Meinungslager am Ende mit einer »Vereinigungstheorie, welche die Verteilung der Anteile von Psychogenese und Soziogenese, je nach der historischen Situation als offen ansieht« (S. 658).

Nicht so klar wird, wieweit die Psychogenese ihrerseits sozialkonstruktivistisch biologisch genetisch erklärt werden muss. Zwar distanziert sich Lampe von der Rechtsbiologie, mit der er früher geliebäugelt hatte[6]. Ganz verzichtet er aber nicht auf den Rückgriff auf die Gene: »Für die Funktionen des Rechts wurden vor allem zwei genetisch überlieferte Bedürfnisse leitend: diejenigen nach einer vorhersehbaren und nach einer gerechten Welt.« (S. 361). Die »biopsychische Basis« (S. 357), das »Psychogramm … [hat jeder Mensch] nur teilweise ererbt, während es großenteils epigenetisch geprägt wird« (S. 611). Diese Basis zeigt sich für Lampe im »Rechtsbewusstsein« und seiner »Psychogenese«, ein Thema, dass ihn schon früher beschäftigt hatte.[7] In einer Fußnote (Nr. 222 auf S. 68) erfahren wir:

»Offenbar ist die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns genetisch nur unvollkommen vorgeprägt und weitestgehend epigenetisch entwicklungsfähig und somit unterschiedlichen Umwelt- und Kultureinflüssen gegenüber ›plastisch‹.«

Was genau man sich unter Epigenese vorzustellen hat, bleibt jedoch offen. Die Erläuterung erschöpft sich darin, dass Lampe auf ein Konzept der »epigenetischen Entwicklung sozialer Beziehungen in Kleingruppen« (S. 558) Bezug nimmt, für das in Fn. 557 die »Entwicklung von intrafamiliären Beziehungen [als] Prototyp der Epigenese aller auf Dauer ausgerichteter Beziehungssysteme« zitiert wird. So ist es denn vor allem das Rechtsbewusstsein, dass von der Anagenese, von der evolutionären Höherentwicklung profitiert.[8]

Die Ausführungen über »Gesetzmäßigkeiten in der Genese von Rechtsbewusstsein« (S. 514ff) beklagen, dass die Entwicklung von Moral und Recht von der Psychologie nur phänomenologisch beschrieben werde, dass es jedoch an phylogenetischen Untersuchungen fehle. Das Zwischenergebnis der Literaturauswertung lautet:

»Unbestritten ist ein spezielles Rechtsbewusstsein dem Menschen nicht einmal keimhaft angeboren, sodass es unter günstigen kulturellen Bedingungen lediglich auszureifen bräuchte. Angeboren sind dem Menschen lediglich gewisse normative Grundregeln ohne spezifisch juristische Relevanz wie das schon genannte Verbot, andere zu schädigen, und das Gebot, anderen in Notlagen zu helfen. Angeboren sind ihm ferner – wahrscheinlich nicht vom Anbeginn seiner Entwicklungsgeschichte, wohl aber spätestens seit 15.000 Jahren ‒ die Fähigkeiten, Verhaltensnormen auszubilden und sich nach ihnen auszurichten. Zusätzlich zu den angeborenen Grundregeln kann er insbesondere diejenigen Verhaltensnormen erlernen, die in seiner Gemeinschaft speziell gelten. Zur Vervollkommnung dieser Fähigkeiten bedarf er freilich einer umfangreichen Einarbeitung in die Kultur seiner Gemeinschaft, die er aber schon in frühester Kindheit beginnt und ab dem Zeitalter der Pubertät verstärken und kritisch hinterfragen kann.« (S. 537)

Lampe ist anscheinend davon überzeugt, dass auch seither die psychischen Qualitäten des Menschen mit ihren »neuronalen Substraten« evolutionär entwickelt und so ein komplexeres Rechtsbewusstsein möglich gemacht haben. Aber:

»Soweit erkennbar, ist derzeit das Bewusstsein selbst der zivilisatorisch am weitesten fortgeschrittenen Völker noch immer nicht hoch genug entwickelt, um die Achtung und den Schutz von Menschenrechten als immanentes Gebot nicht nur zu erleben, sondern es auch an die nachfolgende Generation genetisch (!) weiterzugeben.« (S. 540)

Also doch wieder ein Kokettieren mit den Genen.

Die Ausgangshypothese von der Höherentwicklung des Rechtsbewusstseins, die im weiteren Verlauf mit vielen Differenzierungen bejaht wird, formuliert Lampe als Frage,

»ob der Evolution des Rechts

    • innerhalb des Gefühlsbereichs eine immer klarere Fähigkeit zugrunde lag, (objektives) Recht und Unrecht, Rechtsgrund und Rechtsfolge, (subjektives) Recht und Pflicht sowie Freiheit und Ordnung zu unterscheiden;
    • innerhalb des rationalen Bereichs eine Erweiterung der Fähigkeit korrespondierte, Allgemeinbegriffe sowie generelle Regeln zu bilden, die es erlauben, soziale Prozesse zu identifizieren, sie Personen als Urhebern zuzurechnen und zweckmäßig darauf zu reagieren;
    • innerhalb des Ich-Zentrums eine immer differenziertere Unterscheidung zwischen Gut und Böse sowie ein Wille entsprachen, die subjektive Verantwortlichkeit dafür und die soziale Reaktion darauf gerecht zu bemessen und zu verteilen.« (S. 42).

Ich verzichte darauf, Lampes Geschichtserzählungen zu referieren und springe zu den letzten 40 Seiten, auf denen Lampe unter der Überschrift »Ergebnis: Die Verrechtlichung der neuzeitlichen Lebenswelt« seine Zeitdiagnose ausbreitet.

Die Verrechtlichung zeigt sich für Lampe im Anwachsen der Staatsaufgaben, die Anagenese in der Überlegenheit des Rechtsstaats, der durch die Ausrichtung auf individuellen Rechtsschutz und Gewaltenteilung charakterisiert ist. Dessen Alternativen, die von einer philosophischen oder theologischen Gesellschaftstheorie ausgehend, Recht lediglich instrumentell benutzten, müssten an der Komplexität »aufgrund der technisch-technologischen Revolution geschaffenen ökonomischen und sozialen Verhältnisse« scheitern (S. 988).

Die Evolution habe offenbar in der menschlichen Vernunft den Fortschritt erkannt (S. 989). Zu den rationes, die hier durchdekliniert werden, gehört eine ratio voluntatis, die die Toleranz und Billigkeit vereinigt. Sie soll überall dort greifen, » wo außerhalb des naturwissenschaftlichen Bereichs Meinungen die Stelle von Erkenntnissen vertreten«. Sie legitimiert »die Geltung voneinander abweichenden (Rechts-)Meinungen, wenn alle zu ›vertretbaren‹ Ergebnissen führen« (S. 1012). Freilich sei mit der »Fähigkeit zu vernünftigen Entscheidungen keineswegs ein Wille zu vernünftigem Handeln verbunden«, denn evolutionär habe menschliches Handeln die Sicherheit instinktiv-gefühlsmäßiger Determination verloren, »ohne jedoch eine den Verlust ausgleichende Determination durch die Vernunft gewonnen zu haben« (S. 989f). An die Stelle einer natürlichen Determination muss daher eine Rechtsverfassung treten. Deren Bestandteile werden in einem sechsstufigen Pyramidenmodell mit den Inhalten der modernen westlichen Rechtskultur ausgestattet. Das geht im Detail so weit, dass auch die Einrichtung von Gütestellen nach § 15a EGZPO zur »individuale Gerechtigkeit unter den Bedingungen des neuzeitlichen Staates« gehören kann (S. 999).

Überlegungen zur »sozialen Gerechtigkeit unter den Bedingungen des neuzeitlichen Staates« (S. 1000ff) veranlassen den Verfasser nicht nur etwa zu der Feststellung:

» … ist Grundlage des nationalen Wohlstands der Reichtum an menschlicher und tierischer Arbeitskraft, der durch den Einsatz von technischen Geräten und elektrisch betriebenen Maschinen einerseits verstärkt, andrerseits um die zur Erzeugung der technischen Geräte und der Elektrizität benötigten Mittel vermindert wird. Deshalb wird es heute mehr denn je als wichtig angesehen, dass die Mittel zur Elektrizitätserzeugung von der Natur in Form von Wind- und Wasserkraft bereitgestellt werden, ohne dass dadurch an anderer Stelle ein Energieverlust eintritt.« (S. 1001)

Sie geben auch Anlass zu einem Vergleich der sozialpolitischen Vorstellungen von John Rawls, Roland Dworkin und Amartya Sen, der aber keine Lösung bietet, so dass Lampe sein eigenes sozialpolitisches Gerechtigkeitsmodell präsentiert: Die ratio utilitatis gebietet es, allen Menschen eine Beschäftigung anbieten, die nicht nur einen ausreichenden Familienunterhalt gewährt, sondern auch die Entfaltung von Interessen und Talenten ermöglicht (S. 1006f).

Erhellend die Beobachtung, »im Bereich der ausgleichenden Sozialpolitik [sei] gegenüber früher eine Veränderung eingetreten, weil der Austausch zwischen den Anbietern und den Verbrauchern von Produkten fast ausschließlich über Händler verläuft und der Staat infolgedessen in der Lage ist, ausgleichende Normen sowohl für den allgemeinen Handelsverkehr als auch für spezielle Handelsmärkte zu erlassen« (S. 1011), irritierend die Bemerkung, das Problem der Todesstrafe sei komplizierter, als es allgemein dargestellt werde (1012), beachtenswert die Ausführungen zur Globalisierung, die von der Beobachtung ausgehen, dass die Zahl allein der europäischen Staaten in der Neuzeit von mehr als 500 im 16. Jahrhundert  auf etwa ein Zehntel geschrumpft sei mit der Folge einer Übermacht der großen Staaten im Globalisierungsgeschehen; interessant Erörterungen der Frage, ob und in welchem Umfang unter den Bedingungen der Globalisierung souveräne Staaten berechtigt oder gar verpflichtet sind, in Not- und Katastrophenlagen und bei schweren Menschenrechtsverletzungen in die Sphäre anderer Staaten einzugreifen.  Das Buch endet mit der

»Lehre aus Vergangenheit …, dass soziale Evolution unvermeidlich die Umwelt destruiert.« (S. 1021).

Diese Andeutungen über den Inhalt werden den klugen Ausführungen nicht gerecht, mit denen Lampe seine Zeitdiagnose ausbreitet. Nichts ist trivial. Alles erscheint plausibel, auch wenn es sich »theoretisch« oder gar »logisch« nicht aus der Geschichte ableiten lässt. Ob der Aufwand einer Weltgeschichte des Rechts und Ihre Einkleidung in eine Evolutionstheorie dafür erforderlich war? Er war mindestens hilfreich.


[1] Darwin selbst hätte die Frage eher verneint. Er definierte: »Ein moralisches Wesen ist ein solches, welches im Stande ist, seine vergangenen und zukünftigen Handlungen oder Beweggründe mit einander zu vergleichen und sie zu billigen oder zu mißbilligen. Zu der Annahme, daß irgend eines der niederen Thiere diese Fähigkeit habe, haben wir keinen Grund.« (Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, 5. Aufl. 1890, S. 122). Darwin war also kein moralischer Evolutionist, im Gegenteil, Moralität galt ihm »als das prinzipielle Unterscheidungskriterium zwischen Mensch und Tier« (Nicola Erny, Darwin und das Problem der evolutionären Ethik, Zeitschrift für philosophische Forschung 57, 2003, 53-73, S. 64).

[2] Benno Heussen, Die Ur-Grammatik des Rechts. Auf der Suche nach den biologisch-psychologischen Wurzeln des Rechts, RphZ 4, 2019, 294-322.

[3] RPhZ 8, 2022, 241-256 und 480-493.

[4] Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten, Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems, 2002; Hans-Peter Haferkamp, Rechtsgeschichte und Evolutionstheorie, in: Ludwig Siep (Hg.), Evolution und Kultur, 2011, 35-60.

[5] S. 97 Fn 358.

[6] S. 998 ist zu lesen: » Über die Befunde der Psychologie hierzu habe ich in meiner Rechtsanthropologie, über die Befunde der Ethologie haben u. a. Margaret Gruter und Hagen Hof in ihren Veröffentlichungen berichtet.« Dazu heißt es in Fußnote 781: » Die ethologischen Befunde haben M. Gruter (1976; 1993) und H. Hof (1996) ebenfalls als für das (nicht nur deutsche) Recht verbindlich erklärt. Weitere Nachweise aus der US-amerikanischen Literatur bei W. Fikentscher (2016), p. 240 ff.« In dem mit 52 Seiten ungewöhnlich langen Literaturverzeichnis fehlen jedoch die Titel von Gruter und Hof.

[7] Ernst-Joachim Lampe (Hg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein, 1997.

[8] S. 514ff, 546, 658f, 686,

Ähnliche Themen

Rechtspluralismus und Governance

Für eine juristische Zeitschrift präpariere ich gerade einen Artikel über Eugen Ehrlich und den Rechtspluralismus. Anlass ist natürlich das Jubiläumsjahr von Ehrlichs Rechtssoziologie. Bei der Durchsicht der Literatur ist mir aufgefallen, dass unter den Stichworten Rechtspluralismus und Governance weitgehend dieselben Phänomene behandelt werden, dass aber – jedenfalls soweit ich sehe – die Überschneidung oder der Unterschied zwischen den beiden Konzepten nirgends deutlich ausgeführt wird. Wenn in Texten zum Rechtspluralismus der Governancebegriff erwähnt wird, so geschieht das doch meistens nur beiläufig, und umgekehrt. Besserung versprach ein Papier von Franz und Keebet von Benda-Beckmann, indem die Projektgruppe Rechtspluralismus am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle vorgestellt wurde. Dort las man: »Wir entwickeln Ideen für ein besseres analytisches Verständnis rechtsethnologischer Begriffe und theoretischer Annahmen, wie zu den Begriffen Recht, Rechtspluralismus, governance, Transnationalisierung von Recht, Vermögensrechte, und zu Akteur-Struktur-Fragen unter Bedingungen von Rechtspluralismus.« Julia Eckert, die dieses Thema bearbeiten sollte, hat ihren Beitrag 2004 im Journal of Legal Pluralism unter der Überschrift »Urban Governance and Emergent Forms of Legal Pluralism in Mumbai« (Bd. S. 29-60) abgeliefert. Aber so richtig bin ich daraus nicht schlau geworden, warum das Konzept das Legal Pluralism nicht genügt.

2010 erschien ein Franz von Benda-Beckmann, Keebet von Benda-Beckmann und Julia Eckert herausgegebener Band »Rules and Laws of Ruling: On the Governance of Law« (Ashgate, Farnham, 2010), der viele Beiträge enthält, die governance im Titel tragen. Wenn ich im Eingangskapitel der Herausgeber den Abschnitt »Governance and Legal Pluralism« (S. 3-6) lese, entsteht bei mir der Eindruck, dass Governance und Legal Pluralism weitgehend dasselbe Konzept verfolgen, Governance allerdings mehr mit dem Akzent auf der Schwäche staatlicher Regulierung überhaupt und zumal unter den Bedingungen der Globalisierung, der klassische Rechtspluralismus dagegen mehr mit dem Blick auf traditionale, noch nicht voll von der Modernisierung erfasste Gesellschaften. Governance richtet den Blick etwas mehr auf die Akteure als auf Normen und Prozesse. Dabei rücken Staat und Verwaltungen ein wenig mehr in den Mittelpunkt als im klassischen Rechtspluralismus. Zwar betonen die Ethnologen, sie wollten nur das analytische Konzept von governance übernehmen, nicht das normative Konzept von good governance. Aber auch hinter diesem Konzept steckt ein Erkenntnisinteresse, das stärker auf pazifizierende Ordnung gerichtet ist als der rechtsanthropologische Pluralismus. Dieser Schwenk zeigt sich bei Franz von Benda-Beckmann, Pluralismus von Recht und Ordnung, Behemoth 2008, 58-67.

2012 ist in der Reihe Ethnoskripts des Instituts für Ethnologie der Universität Hamburg ein Schwerpunktheft »Governance« erschienen. Der Governance-Begriff, so Schweitzer [1]Warum Governance? Über den Nutzen des Governance-Ansatzes für die Ethnologie und den Nutzen der Ethnologie für die Governance-Forschung«. einleitend, überwinde den zentralen Antagonismus zwischen Gesellschaft und Staat. Da sehe ich keinen Unterschied zum Rechtspluralismus. Governance könne als Brückenbegriff eine integrative Wirkung haben. Juristen erinnern sich daran, dass dasselbe auch in der Diskussion um die Reform des Verwaltungsrechts gesagt wurde. Governance schaffe, so Schweitzer, einen Rahmen für den Austausch zwischen den Disziplinen. Solche Beteuerungen sind bei Juristen inflationär [2]Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 60 f. mit Nachweisen.. Dass umgekehrt die Governance-Forschung allerhand von der Ethnologie lernen kann, das allerdings glaube ich gerne.

Im Mittelpunkt des Heftes steht ein Beitrag von Julia Eckert, Andrea Behrends und Andreas Dafinger »Governance – and the State: An Anthropological Approach«, der einen ethnologischen Governance-Begriff entwickelt [3]Schweitzer S. 7.. Eingangs (S. 14 f.) dort: »This concept of governance leaves behind conventional distinctions between state, civil society and the economy, between public and private and does not privilege one organization or institution, like the state, as the “natural” or “right” centre of governance. Rather, it opens up the analysis of domination, rule or government to the interdependencies between different actors that shape these, the processes within which constellations of power between such governmental actors emerge and consolidate.« Das liest sich wie eine Definition von legal pluralism. Das Governance-Konzept soll sich besser für eine vergleichende Erforschung von Normbildungs- und Verteilungsprozessen eignen [4]Eckert u. a. S. 14. Die Beispiele aus den Feldforschungen der drei Autoren überzeugen mich davon nicht. Weiter wird dann Foucaults Gouvernementalität bemüht. Das ist wohl notwendig, wenn man den Anschluss an die Kulturwissenschaften gewinnen will (S. 6), ist in der Sache aber auch kein Fortschritt.

Ich kann nach alledem nicht erkennen, warum die Ethnologen dem Governance-Begriff nachlaufen, es sei denn um an dem Momentum, mit dem dieser Begriff sich durchgesetzt hat, zu partizipieren. Ich staune, dass die Ethnologen sich nicht stark machen und selbstbewusster sagen: Ihr Newcomer von Governance, was ihr könnt, machen wir schon lange. Das Governance-Konzept ist ein modernisierter Rechtspluralismus mit politpraktischem Erkenntnisinteresse. So hat die Politikwissenschaftlerin Holzinger ihr Pluralismus-Projekt konsequent auf Governance umgestellt. [5]Traditionale Governance und moderne Staatlichkeit[http://www.polver.uni-konstanz.de/holzinger/forschung/drittmittelprojekte/traditionale-governance-und-moderne-staatlichkeit/; vgl. dazu auch meinen … Continue reading

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Warum Governance? Über den Nutzen des Governance-Ansatzes für die Ethnologie und den Nutzen der Ethnologie für die Governance-Forschung«.
2 Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 60 f. mit Nachweisen.
3 Schweitzer S. 7.
4 Eckert u. a. S. 14
5 Traditionale Governance und moderne Staatlichkeit[http://www.polver.uni-konstanz.de/holzinger/forschung/drittmittelprojekte/traditionale-governance-und-moderne-staatlichkeit/; vgl. dazu auch meinen Eintrag vom 14. Juli 2012.

Ähnliche Themen