Der Call for Abstracts der Sektion für Rechtssoziologie, auf den ich kurz hingewiesen hatte, verweist zur Erläuterung des Themenvorschlags » Wie weiß Recht? Juristische Methoden der Wissenskonstruktion« u. a. auf den Autor Peter Stegmaier. Dessen Buch »Wissen, was Recht ist. Richterliche Rechtspraxis aus wissenssoziologisch-ethnografischer Sicht« (2009) habe ich mir daraufhin angesehen. Ich bin voller Bewunderung über die Mühe, Sorgfalt, Detailversessenheit und Interpretationsfähigkeit des Autors. Von 70 Informanten an 21 verschiedenen Zivil- und Verwaltungsgerichten hat Stegmaier in Interviews und Arbeitsbeobachtungen umfangreiches Material gewonnen, das er mit Hilfe einer zuvor ausführlich und plausibel dargestellten Grounded Theory interpretiert. Eingangs liefert er auf über 100 Seiten eine gelungene Einführung in die wissenssoziologische Perspektive auf die Rechtspraxis (S. 25-118), die das Pflichtpensum einer Dissertation weit zurücklässt. In diesem Zusammenhang werden (S. 62-92) die einschlägigen Untersuchungen von Soeffner und Cremers (1988), Lautmann (1971) und Latour (2002) so ausführlich vorgestellt, dass man sie eigentlich gar nicht mehr selbst lesen muss. Der Bericht über die eigenen Erhebungen wird S. 138 -149 unter der Überschrift »Zur Forschungsstatistik« bescheiden heruntergespielt. Dann folgen drei große Kapitel, in denen das Material interpretiert wird, gespickt mit unzählbar vielen Zitaten aus den vertexteten Interviews und Gesprächen.
Das 2. Kapitel über »Die Fallbearbeitung als Arbeitsbogen« endet mit der Feststellung: »Der Fall wird in ausgewählte, unterscheidbare Elemente zerlegt, die Elemente werden in ihrer Wichtigkeit bewertet und neu sortiert mit Blick auf ein kohärentes Urteil neu zusammengesetzt.« (S. 233) Das folgende Kapitel über »Die pragmatische Strukturierung von Rechtsfällen« (S. 235-325) ist für den Juristenleser vielleicht das interessanteste, denn hier wird gezeigt, was von der juristischen Methodenlehre in der Praxis übrig bleibt, wie ich finde, erstaunlich viel. Das 4. Kapitel über »Richten in Interaktion – Ethnografische Beobachtungen richterlicher Beratungen« zeigt wunderbar, was es heißt, wenn man sagt, dass Kommunikation eigentlich immer mehr oder weniger auf ein Aushandeln hinausläuft. Die Summe zieht Stegmaier schließlich in Kapitel 5 mit der Überschrift »Die kontinuierliche Institutionalisierung von Recht«. Damit nimmt er den Institutionalisierungsbegriff von Berger und Luckmann auf, den er eingangs erläutert und eingeführt hatte.
Ich habe das Buch zwar nicht Satz für Satz, aber doch sehr weitgehend gelesen. Als Rechtssoziologe würde ich sagen: Eine ausgezeichnete Arbeit, viel zu aufwendig für eine Dissertation. Sie hat mir gezeigt, wie der der Ansatz der neuen (Konstanzer) Wissenssoziologie, den ich schon seit einiger Zeit kritisch beäuge, funktioniert. Überraschende Ergebnisse sehe ich jedoch nicht. Als Jurist finde ich, dass Stegmaier sich mit großer Empathie in die richterliche Arbeit eingefunden hat. Ich kann keine Fehldeutungen entdecken. Doch wenn ich an meine Juristen-Kollegen denke, so fürchte ich, dass sie sich in ihren (Vor-?)Urteilen über solche Sozialforschung eher bestätigt fühlen. Nach der Anlage der Untersuchung war es allerdings auch gar nicht möglich, den Punkt in den Griff zu bekommen hat, der Juristen gegenüber solchen Projekten skeptisch macht, nämlich den Umstand, dass die Profession es nicht mit einem und auch nicht mit einzelnen, sondern mit außerordentlich vielen Fällen zu tun hat und dass sie ihre im Umgang mit den Fällen gewonnene Erfahrung auch selbst reflektiert. Mit Mikroanalysen ihrer Fallbearbeitungen haben die Professionellen das Problem, dass die analysierenden Soziologen, Ethnologen, Linguisten usw. in erster Linie Trivialitäten anhäufen (müssen), um den Beobachtungsgegenstand in den Griff zu bekommen. Aber auch das Ergebnis ist dann oft wenig aufregend:
»Der Handlungstyp ›Normierung‹, wie er sich aus den vorstehenden empirischen Untersuchungen ergibt, bedeutet ein Handeln, durch welches ein normativ mehr oder weniger kompetenter Akteur, im vorliegenden Kontext ein professioneller Jurist, etwas normativ deutet. Normiert wird in diesem Sinne nicht unbedingt etwas normativ nicht näher Bestimmtes, also etwa ein Sachverhalt, sondern normiert wird jeglicher Gegenstand des richterlichen Handelns (und jedes anderen juristisch-professionellen Handelns). Gegenstand kann, wenn man sich die Fallbearbeitung ansieht, nachgerade alles sein: ein Akteur, ein Ding, ein Ereignis, eine Tat, ein Bebauungsplan, aber eben auch eine bereits normierte Sache, Handlung oder Person, ein Urteil, ein schriftlicher Verwaltungsakt oder ein anwaltlicher Schriftsatz. Selbst eine in der Akte bereits genannte und begründete Norm kann durch den erneuten Zugriff der Richterin normiert werden: verändernd oder bestätigend. … Normieren heißt normativ deuten; sei es nun im Sinne sophistizierten rechtlichen Auslegens oder eines eher allgemeinen moralischen Bewertens. Wertigkeiten und Regelhaftigkeiten werden so erkannt, zugeschrieben und bemessen, sowohl in solitärer Handlung als auch in interaktiver Interpretationskommunikation.« (Stegmaier S. 394).
Aber interessant sind sie doch, die Fälle, die fallweise im Einzelfall anfallen.
Nachtrag: Eine ausführliche Rezension des Buches durch Miguel Tamayo findet sich hier.