Robert‘s Rules of Order oder Das Naturrecht der Versammlung

Robert’s Rules on Parliamentary Procedure – ursprünglich Robert‘s Rules of Order -– sind ein Phänomen. Diese Verfahrensfibel des US-amerikanischen Armee-Generals Henry Martyn Robert wird seit 1876 in immer neuen Auflagen millionenfach gedruckt und direkt oder indirekt in aller Welt als Grundlage für die Geschäftsordnung von Versammlungen herangezogen.

Vor vielen Jahren hatte ich »Das ›Naturrecht‹ der Versammlung« als Dissertationsthema ausgegeben. Die Aufgabe bestand darin, Geschäftsordnungen von Parlamenten und anderen demokratisch organisierten Versammlungen mit »Robert‘s Rules on Parliamentary Procedure« zu vergleichen, die These dahinter, dass die Übereinstimmung zwischen den vielen Geschäftsordnungen so eindrucksvoll sein dürfte, dass man im übertragenen Sinne von einem »Naturrecht der Versammlung« reden kann. Der Doktorand, der das Thema übernommen hatte, ist seinerzeit daran (oder an mir) gescheitert, weil er, jedenfalls aus meiner Sicht, den Witz der Aufgabe nicht erfasst hatte, so dass letztlich eine der vielen konventionellen Arbeiten über parlamentarische Geschäftsordnungen[1] herauskam, die ich nicht akzeptiert habe.

Das ist mir jetzt wieder eingefallen, als ich bei der Lektüre des Vortrags von Wolfgang Ernst auf der Tagung der Zivilrechtslehrervereinigung 2022[2] in Fn. 24 auf dessen »Kleine Abstimmungsfibel« stieß, die 2001 im Verlag der Neuen Züricher Zeitung erschienen ist. Nachdem ich mir das Buch beschafft und darin gelesen habe, scheint es mir an der Zeit, den Gedanken an ein »Naturrecht der Versammlung« wieder aufzunehmen. Natürlich geht es nicht um »echtes« Naturrecht, sondern nur um Funktionalitäten und Sachzwänge. Aber die sind doch anscheinend außerordentlich stark. Jedenfalls scheinen die Geschäftsordnungen von Gremien aller Art auf eine so erstaunliche Weise zu konvergieren, dass man wohl von der Natur der Sache sprechen darf.

Die »Abstimmungsfibel« von Ernst verzichtet ganz auf Literaturhinweise und damit auch auf eine Würdigung von »Robert‘s Rules«. Auch sonst habe ich mit einer oberflächlichen Recherche in der deutschen Literatur keine Würdigung gefunden.

Gefunden habe ich den relativ neuen Aufsatz von Jonathan R. Siegel »A Law Professor’s Guide to Parliamentary Procedure«, der am Ende aus Robert‘s Rules of Order einen »Simplified Guide to Basic Parliamentary Procedure« für Fakultätssitzungen entwickelt.[3]

Robert‘s Rules of Order waren ihrer Entstehungszeit gemäß für beschließende Präsenzveranstaltungen bestimmt. Die Corona-Epidemie hat dem Trend zur Ersetzung von Präsenzveranstaltungen durch elektronische Meetings großen Auftrieb gegeben. Daher ist es von Interesse, dass Henry Prakken schon in der Anfangszeit der Digitalisierung 1997 den Versuch unternommen hat, Robert‘s Rules of Order in ein Programm für elektronische Versammlungen zu übersetzen.[4]

Da wartet vielleicht immer noch ein Dissertationsthema.


[1] Eine Arbeit, die meiner Fragestellung nahe kommt, die ich damals aber noch nicht kannte, ist von Robbie Sabel, Procedure at International Conferences, 1997.

[2] Wolfgang Ernst, Verantwortung für Gremienunrecht, AcP 2023, 170–227.

[3] Jonathan R. Siegel, A Law Professor’s Guide to Parliamentary Procedure, Journal of Legal Education 70, 2020, 26–64.

[4] Henry Prakken, Formalizing Robert’s Rules of Order. An Experiment in Automating Mediation of Group Decision Making, GMD Sankt Augustin, 1997; ders./Thomas F. Gorden, Rules of Order for Electronic Group DecisionMaking – A Formalization Methodology, in: Julian A. Padget (Hg.), Collaboration Between Human and Artificial Societies, 1998, 246-263.

Ähnliche Themen