»Die Anwaltschaft muss als systemrelevant eingestuft und bei Soforthilfen angemessen berücksichtigt werden«,
so schreibt, mit Ausrufungszeichen am Satzende, der Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer am 31. März 2020 an die Bundeskanzlerin und fordert Notbetreuung für Anwaltskinder und Finanzhilfen wie für Unternehmen. Anwälte seien in dieser Krisensituation zwar nicht ganz so wichtig wie Ärzte. Aber »wenig nachvollziehbar« erscheint ihm,
»weshalb der Anwaltschaft als Organ der Rechtspflege nicht die gleiche Systemrelevanz zugestanden wird, wie sie für betriebsnotwendiges Personal und Schlüsselfunktionsträger in öffentlichen Einrichtungen und Behörden von Bund und Ländern, Senatsverwaltungen, Bezirksämtern, Landesämtern und nachgeordneten Behörden eingeräumt wurde. Auch die Justiz ist systemrelevant. Die Anwaltschaft ist im Kanon aller der Rechtsordnung verpflichteten Berufe jedoch gleichrangig und daher der Justiz gleichzustellen.«
Die »Systemrelevanz« der Anwaltschaft liegt nicht auf der Hand. Anwälte sind nicht gehalten, ihre Kanzleien zu schließen. In den meisten Bundesländern bleibt der Mandantenbesuch in den Kanzleien zulässig. Home Office ist eine gute Alternative. Der Deutsche Anwalts Verein (DAV) hat zu den durch die Coronakrise aufgeworfenen Fragen eine hilfreiche Internetseite eingerichtet. Soweit in dieser Krisensituation persönlicher Kontakt mit Mandanten, Justiz und Behörden möglich und notwendig ist, werden Anwälte diesen kaum verweigern. Wer noch keinen Anwalt hat, wird ihn auch jetzt finden. An Anwälten ist kein Mangel.
Auch von den finanziellen Soforthilfen für Selbständige und Unternehmen. sind Anwaltskanzleien nicht ausgeschlossen Anders als bei Unternehmen, die schließen müssen, hat die Krise für Anwälte nicht zwangsläufig finanzielle Folgen. Sicher verzögert sich die Ausführung von manchen Mandaten und damit auch die Abrechnung. Andere bleiben ganz aus. Dafür wird es am Ende der Krise umso mehr zu tun geben, nicht nur für Konkursverwalter.
Ein neuer Umsatzbringer könnte die »Systemrelevanz« werden. Daraus lässt sich ein Rechtsbegriff machen, auf den findige Anwälte allerhand Ansprüche stützen können. In der Finanzkrise wurde dieser Begriff verwendet, um die Stützung von Banken zu legitimieren, deren Zusammenbruch »das Finanzsystem« gefährdet hätte. Systemrelevanz wurde den Banken zugeschrieben. In der Coronakrise gelten nun Personen als systemrelevant, die zum »Personal kritischer Infrastrukturen« gehören.
Ausgangspunkt wäre zunächst die Richtlinie 2008/114/EG vom 8. 12. 2008. Auf dieser Grundlage hat das Innenministerium des Bundes eine Strategie für Kritische Infrastrukturen (KRITIS) entworfen.
»Kritische Infrastrukturen (KRITIS) sind Organisationen oder Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden.«
In der Sektoren- und Brancheneinteilung könnte man die Anwaltschaft unter Staat und Verwaltung – Justizeinrichtungen suchen, wird sie dort aber nicht finden.
Merkwürdig ist bei alledem, dass die Definition der kritischen (weil systemrelevanten) Infrastrukturen auf dem Umweg über die IT-Sicherheit erfolgt. Das Gesetz über das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSIG) bietet in § 2 zunächst »Begriffsbestimmungen«. In Abs. 10 heißt es dazu:
»Kritische Infrastrukturen im Sinne dieses Gesetzes sind Einrichtungen, Anlagen oder Teile davon, die
- den Sektoren Energie, Informationstechnik und Telekommunikation, Transport und Verkehr, Gesundheit, Wasser, Ernährung sowie Finanz- und Versicherungswesen angehören und
- von hoher Bedeutung für das Funktionieren des Gemeinwesens sind, weil durch ihren Ausfall oder ihre Beeinträchtigung erhebliche Versorgungsengpässe oder Gefährdungen für die öffentliche Sicherheit eintreten würden.«
§ 10 Abs. 1 BSIG enthält eine Verordnungsermächtigung für das Bundesministerium des Innern. Das BMI bestimmt die
»unter Festlegung der in den jeweiligen Sektoren im Hinblick auf § 2 Absatz 10 Satz 1 Nummer 2 wegen ihrer Bedeutung als kritisch anzusehenden Dienstleistungen und deren als bedeutend anzusehenden Versorgungsgrads, welche Einrichtungen, Anlagen oder Teile davon als Kritische Infrastrukturen im Sinne dieses Gesetzes gelten.«
Das Ergebnis ist die so genannte KRITIS-Verordnung. Die VO spart den Sektor Staat und Verwaltung – Justizeinrichtungen aus, da dieser Sektor nicht der Aufsicht des Bundesamtes für Datenschutz unterliegt.
Im BSIG und in der KRITIS-VO geht es an sich nur darum, welche Anforderungen an ihre IT-Struktur die so genannten KRITIS-Betreiber zu erfüllen haben. Aber in der Corona-Krise werden die für den IT-Bereich geschaffenen Definitionen genutzt, um die »systemrelevanten« Personenkreise festzulegen. Die CoronaBerVO NW[1] gibt in § 5 eine »Liste über die Personenkreise kritischer Infrastrukturen«, die sich »an die Verordnung zur Bestimmung kritischer Infrastrukturen nach dem BSI-Gesetz vom 22. April 2016 (BSI-Gesetz vom 22. April 2016)« anlehnt. Die Anwaltschaft kommt darin ebenso wenig vor wie die Kirchen.
Nachtrag: »Welche Branchen sind ökonomisch systemrelevant?«, so der Titel einer Untersuchung von Christian Schneemann u. a. im Wirtschaftsdienst 100, 2020, S. 687-693.
[1] Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 im Bereich der Betreuungsinfrastruktur vom 2. April 2020.