Mit diesem Eintrag will ich auf eine interessante, aber schwer zugängliche Arbeit aufmerksam machen, die mir der Verfasser schon vor längerer Zeit freundlicherweise zugesandt hat: Günter Reiner, Les dichotomies en droit, in: George Azzaria (Hg.), Les nouveaux chantiers de la doctrine juridique, Actes des 4° et 5° Journées d’étude sur la méthodologie 2016, 407-45. Dass das (erst) jetzt geschieht, hat damit zu tun, dass mich Martin Morlok durch einen Vortrag über »Vier Perspektiven des (juristischen) Entscheidens«[1] soeben wieder auf die Thematik gestoßen hat. Auf Morloks Idee, aus Antonymen eine Vierfeldertafel zu bauen, werde ich gelegentlich zurückkommen.
Oft ist es hilfreich, die Bedeutung eines Begriffs mit Hilfe eines Gegenwortes zu erläutern. »Objektiv« versteht man besser im Kontrast zu »subjektiv«, »Theorie« als Gegensatz zur »Praxis« oder »deklaratorisch« als Gegensatz zu »konstitutiv«.[2]
Begriffe wachsen aus Unterscheidungen. Benennt man das vom Gemeinten Unterschiedene, so hat man einen Gegenbegriff (Antonym). Solche Begriffspaare – klein und groß, heiß und kalt, Mensch und Tier usw. usw. – sind ein universelles Phänomen sprachlich gefassten Denkens.
Reiner meint, sicher zutreffend, Juristen hätten eine gesteigerte Affinität zu Antonymen und Dichotomien. Die Reihe der Begriffspaare, mit denen sie ihre Gedanken ordnen, ist schier unendlich. Sie unterscheiden Recht und Moral, Sein und Sollen, Tatbestand und Rechtsfolge, Staat und Gesellschaft, öffentliches und Privatrecht, lex lata und lex ferenda usw. Vor allem aber unternimmt es Reiner, die Gegensatzpaare in verschiedener Weise zu typisieren.
Wichtig ist insbesondere der Unterschied zwischen echten und unechten Dichotomien sowie zwischen scharfen und gradualisierbaren Gegensätzen. Reiner nennt als typische Dichotomien noch die reziproken und die umkehrbaren. Reziprok in diesem Sinne wären Verkäufer und Käufer, Veräußerer und der Erwerber, Erbe und Erblasser, Angebot und Annahme usw. Umkehrbar (réversible) wären Erwerb und Verlust, Begründung und Auflösung, Fusion und Spaltung. Beide Typen sind »schwache« Dichotomien. So ist eine Person nicht gleichzeitig Käufer und Verkäufer. Aber sie muss weder das eine noch das andere sein. Hier gilt also: tertium datur.
Antonyme bezeichnen nicht unbedingt das Gegenteil, aber doch einen Gegensatz. Das Gegenteil ist Folge einer Dichotomie, einer Grenzziehung im Sinne eines Entweder-Oder. Sie führt zu einer echten Dichotomie: Lebend oder tot, positiv oder negativ, Recht oder Unrecht. Andere Gegensätze sind von vornherein als fließend gedacht wie z. B. eng und weit, warm und kalt, hell und dunkel. Wieder andere können sowohl dichotomisch als auch graduell verwendet werden wie z. B. voll und leer.
Echte Dichotomien entstehen aus einer Verneinung. Zu dem Begriff gibt es daher (eigentlich) nur einen Gegenbegriff. Sein oder Nichtsein. Ob es echte Dichotomien in diesem Sinne »gibt«, ist eine schwierige Frage, die in die Fundamentalphilosophie führt. Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass bisher, jedenfalls für den Normalgebrauch, keine überzeugende Alternative zur binären Logik erkennbar ist, und dass die elektronische Datenverarbeitung auf der Grundlage eines Binärcodes funktioniert.
Während Logik und Elektronik binär verfahren, kann normale Sprache gradualisieren und vielfältige Gegensätze benennen. Sie spielt auch mit eigentlich echt gemeinten Dichotomien, etwa indem sie jemanden für halbtot erklärt. In der Rechtssprache werden Dichotomien dagegen ernst genommen: Recht oder Unrecht, legal oder illegal, wirksam oder unwirksam, veräußerlich oder unveräußerlich. Tertium non datur. Solche Dichotomien führen zu Entscheidungen. Vorsatz oder Fahrlässigkeit: davon hängt oft die Strafbarkeit ab. Aktive oder passive Sterbehilfe: die eine ist verboten, die andere erlaubt.
Die Rechtswissenschaft verfügt über eine lange Tradition der Dichotomisierung. Die Scholastik suchte zunächst nach einem ersten Prinzip, das durch fortlaufende Dichotomisierung entfaltet wurde. Zur bildlichen Darstellung dienten Bäume (arbores) mit ihren Verzweigungen. Die aus der italienischen Renaissance gewachsene die humanistische Jurisprudenz, repräsentiert durch Petrus Ramus (1515-1572), nutzte die Dichotomisierung als ein universelles Werkzeug, um jedes Thema vom Allgemeinen zum Besonderen hin zu entwickeln. Der grundlegende Unterschied zur Methode der Scholastik besteht darin, dass nicht länger nach einem ersten Prinzip gesucht wurde, das die Wissenschaftlichkeit der folgenden Differenzierungen garantiert. Alles und jedes kann nunmehr zum Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Untersuchung genommen werden. Praktisch sind zu diesem Zweck zunächst Definitionen zu bilden. Sodann ist der Gegenstand zweifach zu unterteilen und danach jede Unterteilung erneut zu dichotomisieren, und so fort, bis am Ende das Thema in einer Kaskade von Dichotomien erschöpft ist. Bildlich wurde das Ergebnis in mit Klammern gebildeten tabulae dargestellt. Das klassische Beispiel gibt die Synopsis Juris Civilis von Giulio Pace von 1588. Das Buch enthält auf insgesamt 102 Seiten 45 überwiegend ganzseitige Klammertabellen. Als Graphen, also rein logisch betrachtet, sind Baumstruktur und Klammern gleichwertig. Aber die Metapher des Baumes hatte auch inhaltliche Bedeutung. Der Baum wächst aus einem Grundprinzip, aus einer gesunden Wurzel. Der Begriff, der vor der ersten Klammer steht, kann dagegen willkürlich gewählt werden. Die waagerechte Anordnung der Tabelle vermeidet auch die Suggestion einer natürlichen Hierarchie, die von der Baumstruktur ausgeht.[3]
Dichotomien sind nicht einfach logische Deduktionen oder deskriptive Bezeichnungen für vorgefundene Zustände der Welt, sondern Konstruktionen, mit denen diese Welt begreifbar gemacht wird. Als solche sind sie kritisierbar. Der Kritik erscheinen sie als »falsche« Dichotomien. Die Postmoderne hat das Denken und Argumentieren mit Dichotomien in Verruf gebracht. Zumal die großen Dichotomien von Objekt und Subjekt, Sein und Sollen, Körper und Geist sind ihr obsolet. Ich wundere mich, dass Luhmanns Systemtheorie, die doch darauf basiert, dass die Systeme der Gesellschaft und mit ihnen auch das Recht an einem binären = dichotomischen Code zu erkennen sind, so wenig grundsätzliche Kritik erfährt.
»Falsche« Dichotomien sind nicht selten Ausgangspunkt für eine Dekonstruktion juristischer Begriffe. Eine Dichotomie wäre »falsch«, wenn sie als echte gemeint ist, obwohl der bezeichnete Sachverhalt gradualisierbar ist oder nicht bloß zwei, sondern drei oder mehr Kandidaten zur Wahl stehen. Zu vielen Begriffen, auch wenn sie scharfe Grenzen ziehen, lassen sich mehrere Gegenbegriffe behaupten, wenn man von einer Grundgesamtheit ausgeht die mehr als zwei Elemente enthält.
Schwarz – weiß – bunt (Farben)
Sachenrecht – Schuldrecht – Familienrecht (Rechtsgebiete)
Vertrag – Delikt – vorvertragliches Vertrauensverhältnis (Enstehungsgründe für Obligationen).
Die (in Klammern genannte) Grundgesamtheit kann auch als tertium comparationis dienen (Reiner S. 425ff). Die Festlegung auf eine Grundgesamtheit erfolgt meistens unbewusst, und so kann der Eindruck entstehen, dass ein Begriffspaar binär sei. Diese Festlegung lenkt dann die Argumentation, so etwa, wenn man die Unterlassung als Gegenbegriff zur Handlung wählt (und nicht eine alternative Handlung oder ein Nichtstun.[4] Wird die Festlegung als Hinnahme einer Selbstverständlichkeit erkannt und kritisiert, so wird sie Ausgangspunkt für die Dekonstruktion des Begriffspaares. Die Dichotomie von Person und Sache oder von natürlichen und juristischen Personen wird für Tiere aufgebrochen. Im Ergebnis ist dann von einer »falschen« Dichotomie die Rede. Duncan Kennedy hat die von Juristen dichotomisch gemeinte Unterscheidung von öffentlich und privat dekonstruiert, indem er zeigt, dass sich aus der Entscheidungspraxis eher eine Art Kontinuum ableiten lässt.[5]
Die Kritik »falscher« Dichotomien läuft nicht immer unter diesem Namen. Eine grundlegende Dichotomie juristischen Denkens war und ist immer noch die Vorstellung, dass eine Norm entweder anwendbar ist oder nicht. Der kritischen Methodenlehre war schon immer klar, dass dieses Entweder/Oder der Subsumtion erst durch verdeckte Interpretationsentscheidungen erkauft wird. Dekonstruktivistisch ist insofern die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, welche die Entweder/Oder-Subsumtion von Normtatbeständern zur Abwägung geöffnet hat.
Nachtrag: Ausführlich jetzt Klaus F. Röhl, Gegenbegriffe, Dichotomien und Alternativen in der Jurisprudenz, Rechtsphilosophie (RphZ) 8, 2022 Heft 1, S. 96-118.
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[1] Gehalten auf der Tagung »Rückschaufehler im Recht« am 16./17. März 2018 in Bochum.
[2] Eine Liste von Begriffspaaren, die zum Grundbestand juristischen Handwerkzeugs gehören, in Röhl/Röhl, Allgemeine Rechslehre, 3. Aufl. 2008, § 19 III (Versatzstücke als Theorieersatz) und ausführlicher Röhl/Röhl, Juristisches Denken mit Versatzstücken, in: Judith Brockmann u. a. (Hg.), Methoden des Lernens in der Rechtswissenschaft, 2012, 251-258.
[3] Dazu etwas näher Klaus F. Röhl, Logische Bilder im Recht, in: Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat (FS Schnapp) 2008, 815-838.
[4] Jürgen Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 19069; Klaus F. Röhl, Praktische Rechtstheorie: Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen und das fahrlässige Unterlassungsdelikt, JA 1999, 895-901.
[5] Duncan Kennedy, The Stages of the Decline of the Public/Private Distinction, University of Pennsylvania Law Review 130, 1982, 1349-1357. Vgl. auch Pierre Schlag, Cannibal Moves: An Essay on the Metamorphoses of the Legal Distinction, Stanford Law Review, 1988, 929-972.