Dies ist die fünfte Fortsetzung des Eintrags über den Emotional Turn und die Rechtswissenschaft.
Die Frage nach der Aktualgenese von Gefühlen
Juristen handeln, indem sie entscheiden. Für die Rechtswissenschaft ist deshalb von Interesse, wie Emotionen und damit Gefühle auf Entscheidungen einwirken. Deshalb richte ich an die Psychologie die Frage nach der Aktualgenese von Emotionen. Der Jurist möchte wissen,
- was es mit den Gefühlen im Objektbereich seiner Tätigkeit auf sich hat,
- wie er selbst bei der Kommunikation mit seinen Klienten und vor allem bei seinen Entscheidungen von Gefühlen geleitet wird.
Dafür sollten die folgenden Fragen geklärt werden:
- Welches Objekt, welcher Reiz, welche Kognition aktiviert unter welchen Umständen welche Emotionen?
- In Gestalt welcher Gefühle werden die emotional gefärbten Zustände subjektiv wahrgenommen?
- Was bewirken die aktivierten Emotionen → Gefühle? Von welchen weiteren Umständen sind die Wirkungen abhängig?
Die Sache wird unübersichtlich. Deshalb ist es an der Zeit, einer speziellen Emotions-Psychologie Ausschau halten.
Das Theorieknäuel der Emotionspsychologie
Die Sicht ist schlecht. Ein relativ neuer Übersichtsartikel beginnt:
»The emotion domain is characterized by a profusion of theories and complex debates with no hope of a quick settlement.«[1]
Die Emotionstheorien, die bemüht sind, Alltagsbeobachtungen, psychologische Tests und physiologische Experimente auf einen Nenner zu bringen, erinnern den Juristen in ihrer Vielfalt an die »Theorien« des eigenen Fachs, mit denen er den Gehalt von Rechtsnormen und Präjudizien zu ordnen versucht. Übersichten über die Theorien der Psychologen bieten einschlägige Lehrbücher. [2] Drei Theoriefamilien schälen sich heraus:
»1) Biologische Ansätze vermuten einen biologischen Ursprung von Emotionen in funktional spezialisierten Emotionsmodulen. (2) Kognitive Ansätze behaupten, dass Emotionen von kognitiven Einschätzungen der Umwelt in Bezug auf das eigene Wohlergehen und Wohlbefinden verursacht werden. (3) Konstruktivistische Ansätze nehmen an, dass Emotionen aus sozio-kulturell vereinbarten Kategorisierungen von unspezifischen affektiven Zuständen hervorgehen.«[3]
Einig ist man sich immerhin, dass Emotionen bzw. Gefühle »komplex« sind. Übereinstimmend zählt man fünf »Komponenten« auf, die zusammen die »Emotion« ausmachen, wobei Ursache und Wirkung in der Schwebe bleiben:[4]
- Kognition (Einschätzung, Bewertung, Ursachenzuschreibung, Kategorisierung, Benennung),
- Physiologie (periphere Erregung, zentralnervöse Aktivierung),
- Erleben (subjektive Erfahrung, Gefühle),
- Ausdruck (soziale Kommunikation, Gestik, Stimme, Mimik),
- Motivation (motivationale Orientierungen, Handlungsbereitschaften, funktionaler Aspekt).[5]
Der Konsens bröckelt aber bei der Frage, ob Emotionen ungeachtet ihrer Komplexität ein einheitliches Phänomen bilden oder ob hier verschiedene Elemente zusammengewürfelt werden, die nicht direkt etwas miteinander zu tun haben.[6]
Alle gehen davon aus, dass die Zuordnung einer Emotion zu einem Reiz etwas mit den biologischen Überlebensinteressen des Organismus zu tun hat. Man könnte sagen: Emotionen haben eine Utility-Funktion. Das ist im Grunde eine Trivialität, die aber immerhin dazu auffordert, die Emotionen und folglich auch Gefühle nach ihrer Valenz in positive und negative, in aktivierende und bremsende zu sortieren, wie es Russel mit dem Circumplex-Modell oder Panksepp mit der Gruppierung der Basisemotionen getan haben. Aber woran erkennt der Organismus, ob ein Reiz für ihn nützlich ist?
Evolutionär-biologische Emotionstheorien
Handfeste Antworten scheinen von den evolutionär-biologischen oder Instinkttheorien zu kommen, die bis auf Darwin zurückgehen. Sie behaupten, dass die emotionale Einordnung von Reizen sich schon im Zuge der Evolution entwickelt hat. Dann steckten in den Basisemotionen also »Instinkte«, die für die gehörige Antwort auf einen Reiz sorgten. Noch immer referiert die Psychologie-Literatur die alte Theorie von William McDougall (1871-1938). Er stellte einen Katalog von 18 angeborenen »Instinkten« zusammen, die jeweils auf bestimmte Auslöser hin entsprechende Gefühle aktivieren sollten.[7] Damit stößt man auf das Problemknäuel evolutionäre Psychologie und Soziobiologie. Dazu habe ich bereits ausführlich Stellung genommen.[8] Deshalb zitiere ich hier nur noch den Strafrechtler und Kriminologen Hellmuth Mayer[9], der dazu schon vor bald 50 Jahren das Notwendige gesagt hat: Trieblehren dieser Art seien willkürlich. Gehlen habe darauf hingewiesen, andere amerikanische Autoren auf viele Hunderte von ›activities‹ gekommen seien, die dann alle als Instinkte gelten sollten. Solche Setzungen ließen sich nicht verifizieren, wie an den verschiedenen Schulen der Psychoanalyse deutlich zu sehen sei. Freilich reißen die Versuche nicht ab, bestimmte Reaktionsmuster als evolutorisch angelegt zu postulieren. Praktisch kann man damit nicht viel anfangen, denn wenn es solche Reaktionsmuster gibt, dann lassen sie sich doch nur schwer von gelernten unterscheiden. Es ist wohl davon auszugehen, dass neuronal allenfalls rudimentär vorgegeben, welche somatischen Ereignisse oder welche Kognitionen als Trigger bestimmte Emotionen auslösen.
Der Laie möchte annehmen, dass die in der neuronalen Basis angelegten Emotionspotentiale unmittelbar durch Veränderungen des Körperzustandes aktiviert werden können, also etwa durch Wärme oder Kälte, Hunger oder Schmerz, körperlichen Kontakt mit Lebewesen oder unbelebter Materie. Man kann sich gut vorstellen, dass der Körper den äußeren Reiz unmittelbar als mehr oder weniger nützlich empfindet, und damit entsprechende Emotionen aktiviert werden. Doch anscheinend gilt: Gefühle treten zwar unwillkürlich auf. Aber sie werden (mindestens auch) durch Kognitionen ausgelöst.
Auf biologischer Ebene lässt sich das Emotionsgeschehen durch Drogen beeinflussen. Bei Körpergefühlen wie Hunger und Durst, Frieren und Schwitzen, Schmerz und Wohlgefühl, sexueller Erregung und Entspannung scheint klar zu sein, dass sie physiologische Ursachen haben (können). Andererseits können auch solche Körpersensationen wohl gelernt werden, sind sie doch mit typischen Abläufen verbunden, die dann auch – man denke an Pawlows Hunde – ohne direkten körperlichen Anstoß die einschlägigen Befindlichkeiten evozieren.
Der Laie wird weiter annehmen, dass die in der neuronalen Basis angelegten Emotionspotentiale, wenn es sie denn gibt, mittelbar durch besonders »eindrucksvolle« Kognitionen ausgelöst werden. Auf ein lautes Geräusch, ein helles Licht, einen starken Geruch, einen sich bewegenden größeren Gegenstand reagiert man wohl spontan erst einmal emotional. Emotionen werden wohl auch immer wieder durch »Überraschungen« aller Art angesprochen. Schockbilder sollen Raucher verängstigen. Aber all das ist so grob, dass es über das Phänomen der emotionalen Erstreaktion nicht hinausführt. Auf jeden Fall gilt, die emotionale Einfärbung von Kognitionen kann (auch) individuell und sozial gelernt werden. Der Laie kann sich die Sache nur metaphorisch vorstellen: Der psychische Funktionsapparat schwingt sich über dem Resonanzboden der Basisemotionen auf die verschiedenen Reize ein.
Somatische Emotionstheorien
Die klassische »somatische« Emotionstheorie stammt von dem Amerikaner William James. Oft wird im gleichen Atemzug der Däne Carl Georg Lange genannt, der ein Jahr später (1885) eine beinahe identische Theorie entwickelte. Ich will gar nicht erst den Versuch unternehmen, die James/Lange-Theorie der Gefühle zu referieren, sondern begnüge mich mit einem James-Zitat:
»Our natural way of thinking about these standard emotions is that the mental perception of some fact excites the mental affection called the emotion, and that this latter state of mind gives rise to the bodily expression. My thesis on the contrary is that the bodily changes follow directly the PERCEPTION of the exciting fact, and that our feeling of the same changes as they occur is the emotion. Common sense says, we lose our fortune, are sorry and weep; we meet a bear, are frightened and run; we are insulted by a rival, are angry and strike. The hypothesis here to be defended says that this order of sequence is incorrect, that the one mental state is not immediately induced by the other, that the bodily manifestations must first be interposed between, and that the more rational statement is that we feel sorry because we cry, angry because we strike, afraid because we tremble, and not that we cry, strike, or tremble, because we are sorry, angry, or fearful, as the case may be.« [10]
Diese Theorie behauptet also, dass das Bewusstsein der Emotionen als Gefühl sekundär sei. Aber durch welche extrakorporalen Ereignisse welche Emotionen und damit welche Gefühle ausgelöst werden, erfährt man hier nicht.
Es liegt nahe, weiter an die populäre Theorie von Damasio[11] zu denken. Damasio wendet sich bekanntlich gegen den Leib-Seele-Dualismus, den er bei Descartes vorgefunden hat.[12] Seine These lautet, dass Ratio, Verstand oder Vernunft nicht ohne Gefühle zu haben sind, weil sich das Denken nicht vom Körper lösen lässt. Dass Gedanken stets von körperlichen Zuständen und von Emotionen begleitet werden – wer wollte das bestreiten? Interessant wird es erst, wenn wir erfahren, welche Gefühle mit welchen Gedanken einhergehen. Dafür bietet Damasio nur eine sehr pauschale Lösung, die uns nicht weiterhilft. Wir lernen, dass alle Erfahrungen im Körper des Menschen Spuren hinterlassen, je nachdem, ob sie als angenehm oder nicht angenehm empfunden werden. Die positive oder negative Sortierung ist teils angeboren, teils wird sie individuell oder sozial gelernt. Die körperlichen Spuren, von Damasio Marker genannt, bewirken dann die gefühlsmäßige Tönung neuer Situationen. So bleiben alle interessanten Fragen offen. Ob eine Erfahrung »angenehm« ist, wird kaum durch eine reflektierte Entscheidung ermittelt, sondern ergibt sich gleichsam automatisch. An welcher Stelle steckt dieser Automatismus? Nach welchen Kriterien entscheidet er? Wie werden die einzelnen Entscheidungen akkumuliert? Wie werden Situationen wiedererkannt, so dass die passenden Marker aktiviert werden?
Bevor ich mit diesen Fragen fortfahre, folgt (demnächst) ein Exkurs zu »Descartes‘ Irrtum«.
[1] Agnes Moors, Integration of Two Skeptical Emotion Theories, Psychological Inquiry 28, 2017, 1-19.
[2] Herangezogen habe ich Andreas B. Eder/Tobias Brosch, Emotion, in. Jochen Müsseler/Martina Rieger, Allgemeine Psychologie, 3. Aufl. 2017, 185–222; David G. Myers, Psychologie, 3 Aufl. 2014; Rainer Reisenzein/Wulf-Uwe Meyer/Achim Schützwohl, Einführung in die Emotionspsychologie. Band III: Kognitive Emotionstheorien, 2002; Rainer Reisenzein/Gernot Horstmann, Emotion, in: Andrea Kiesel/Hans Spada, Lehrbuch Allgemeine Psychologie, 4. Aufl. 2018, 424–490; Klaus Rothermund/Andreas Eder, Allgemeine Psychologie: Motivation und Emotion, 2011; Franziska Schmithüsen u. a., Lernskript Psychologie, 2014, S. 82ff.
[3] Klaus Rothermund/Andreas Eder, Allgemeine Psychologie: Motivation und Emotion, 2011, S. 181. I
[4] »Kognition« habe ich an den Anfang gestellt, weil Kognitionen mindestens auch als Auslöser von Emotionen in Betracht kommen. Die drei mittleren werden auch als Reaktionstrias bezeichnet. Bei der Physiologie ist aber offen, was Ursache und was Wirkung ist. Motivation steht am Ende, weil sie die Wirkung von Emotionen auf das künftige Verhalten bestimmt.
[5] Aufzählung nach Andreas B. Eder/Tobias Brosch, Emotion, in. Jochen Müsseler/Martina Rieger, Allgemeine Psychologie, 3. Aufl. 2017, 185–222; S. 189. In diesem Sinne auch Nico H. Frijda, Emotion Experience and its Varieties, Emotion Review 2009, 264–271; S. 265; ders., Die Gesetze der Emotionen, S. 206.
[6] Juan R. Loaiza, Emotions and the Problem of Variability, Review of Philosophy and Psychology 2021, 329–351.
[7] William McDougall, An Introduction to Social Psychology, 14. Aufl. 1919, hier zitiert nach dem im Internet verfügbaren Nachdruck von 2001.
[8] In drei Einträgen auf Rsozblog vom 21. 9. 2023 (Was taugt die neue Rechtsbiologie?), vom 2. 10 2023 (Kritik der Soziobiologie Teil II) und vom 24. 11. 2023 (Kritik der Soziobiologie Teil III).
[9] Hellmuth Mayer, Die gesellige Natur des Menschen. Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht, 1977, S. 13ff.
[10] William James, What is an Emotion? Mind 9, 1884 Heft34, 188–205, S. 189f. Im übrigen verweise ich auf die Lehrbuchdarstellungen sowie auf Michael Anacker, William James: Die James/Lange-Theorie der Gefühle, in Konstanze Senge ua., Schlüsselwerke der Emotionssoziologie, 2022, 311–317.
[11] Antonio R. Damasio, Descartes’ Irrtum, 2004 [1994]; ders., Im Anfang war das Gefühl, 2017.
[12] Als Zuammenfassung und Stellungnahme zu dieser Theorie kann man lesen Wolfgang Lenzen, Damasios Theorie der Emotionen, Facta Philosophica, 6, 2004, 269-309; .Annette Schnabel, Antonio Damasio: Descartes‘ Irrtum, in: Konstanze Senge/Rainer Schützeichel (Hg.), Hauptwerke der Emotionssoziologie, 2013, 80–84; Ulf Hlobil, Eine theoretische Kritik der Somatischen Marker Hypothese Antono Damasios, 2008.