Zur weiteren Vorbereitung auf eine Besprechung des Bandes »Travelling Models in African Conflict Management, Translating Technologies of Social Ordering« herausgegeben von Andrea Behrends, Sung-Joon Park und Richard Rottenburg (Leiden 2014) ist ein Blick auf den Begriff der Diffusion und damit verbundene Theorien hilfreich.
William L. Twining hat in zwei Aufsätzen, die aneinander anschließen, die dogmatisch orientierte Rechtsvergleichung, soweit sie sich mit der Frage der einseitigen oder wechselseitigen Beeinflussung verschiedener Rechtskreise befasst, mit der sozialwissenschaftlichen Diffusionstheorie konfrontiert – und beklagt, dass diese nicht rezipiert worden sei. [1]William L. Twining, Diffusion of Law: A Global Perspective, Journal of Legal Pluralism and Inofficial Law 49, 2004, 1-45; ders., Social Science and Diffusion of Law, Journal of Law and Society 32 , … Continue reading
Twining erinnert zunächst daran, dass die Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert einmal parallel zu Anthropologie und Soziologie über die Diffusion von Recht nachgedacht habe. Er nennt Gabriel Tarde, Henry Maine und Max Weber und verweist darauf, Diffusion habe als Gegenmodell zu einer naturgesetzlichen Evolution des Rechts gedient (2004:8; 2005:208). In der frühen Ethnologie kannte man ganz analog eine Konkurrenz von Evolutionismus und Diffusionismus. Für beides hat man heute wenig übrig. Als Autoren des Diffusionismus werden insbesondere Friedrich Ratzel und Leo Frobenius genannt. Wenn überhaupt, rekurriert man heute eher auf Franz Boas.
»Kritik am Diffusionismus … Erfindungen müssen nicht singuläre Ereignisse sein, sondern können durchaus unabhängig voneinander erfolgen. Die Bedeutung von Artefakten erschließt sich nur im sozialen Kontext und nicht im Archiv eines Museums durch einen Kulturvergleich. Aus der Ferne betrachtet könnte der Diffusionismus als eine frühe Form der Globalisierungstheorie erscheinen, doch wurden zentrale Elemente wie die Machtverhältnisse und der kreative Prozess der Aneignung nicht thematisiert. Gegen einen gemäßigten Diffusionismus, der die Verbreitung von Dingen und Gedanken in Zeit und Raum thematisiert, dürfte auch heute wenig einzuwenden sein. Die diffusionistische Forschung übersah jedoch die Pluralität der Deutungsmöglichkeiten von Dingen. Heute geht man davon aus, dass es kein ›Ding an sich‹ gibt, sondern Bedeutungen stets in den Interaktionen geschaffen werden.« [2]Frank Heidemann, Ethnologie, 2001, 62f; vgl. auch die ausführliche Webseite »Anthropological Theories«.
Inzwischen gibt es jedoch eine umfangreiche Literatur, die sich mit der Ausbreitung von Technologien und Unterhaltungsangeboten, Sprache und Religion, Sport und Musik oder Medizin befasst. Twining stellt fest, dass die Rechtswissenschaft den Kontakt mit dieser Forschung verloren habe, bemerkt freilich – mit gutem Grund – auch umgekehrt, dass die verschiedenen Sozialwissenschaften den großen – wie ich hinzufüge: faktengesättigten – Bestand an rechtsvergleichender Literatur nicht zur Kenntnis nehmen (2005:204f.). Deshalb stellt er (2005) einige Höhepunkte der rechtsvergleichenden Forschung dar. Einen Grund, der die juristische Rechtsvergleichung an einer interdisziplinären Orientierung hindert, sieht Twining darin, dass man von einem Exportmodell des Rechts geblendet sei. Das erläutert er in dem ersten Aufsatz von 2004. Im Zusammenhang mit den »Travelling Models« ist es vielleicht von Interesse, dass Twining zu Beginn seiner Laufbahn als Rechtslehrer sieben Jahre im Sudan (Khartum) und in Tansania unterrichtet hat. Vieles, was in der Abhandlung von 2004 zu lesen ist, könne aus der Feder eines Rechtsethnologen stammen.
Twining geht von dem fiktiven Extremfall aus, dass Land A von Land B unverändert ein Gesetz übernimmt, welches dort seither unverändert und unangefochten in Geltung und Wirkung ist. Dieser Fall dient als bloße Kontrastfolie dazu, zwölf Merkmale aufzuzeigen, die das Exportmodell charakterisieren, und um zu betonen, dass keines dieser Merkmale unverzichtbar ist und jedes von ihnen in großen Variationen auftreten kann. [3]Die folgende Liste entspricht der Tabelle von bei Twining 2006, 205f.
1. Ursprung – Ziel: Der Transfer muss nicht bipolar, das heißt von einem bestimmten Exporteur zu einem Importeur ablaufen. Alle Kombinationen kommen vor. Eine Quelle, mehrere Empfänger, mehrere Quellen, ein Empfänger, mehrere Quellen und mehrere Empfänger.
2. Ebenen: Der Transfer muss nicht auf einer Ebene und auch nicht auf Staatsebene stattfinden. Auf beiden Seiten können lokale, regionale oder transnationale Einheiten beteiligt sein.
3. Wege: Transfer verläuft nicht unbedingt in einer Richtung. Der Weg ist oft komplex. Es gibt wechselseitigen Einfluss und Re-Export.
4. Das fremde Recht kann explizit oder implizit, förmlich oder informell übernommen werden.
5. Gegenstand des Transfers können nicht nur Rechtsnormen, Rechtsbegriffe und Institutionen sein, sondern Rechtsphänomene aller Art einschließlich Ideologien, Theorien, Mentalitäten, Methoden, offizielle und inoffizielle Praktiken von Professionellen und Laien, dazu Organisation und Methoden der Juristenausbildung, der Rechtserziehung, literarische Genres, Formen der Dokumentation, Symbole, Rituale u. a. mehr.
6. Als Akteure beim Rechtstransfer kommen nicht bloß Regierungen in Betracht, sondern auch kommerzielle und andere Nicht-Regierungsorganisationen, Armeen, Individuen (Schriftsteller, Lehrer, Aktivisten, Lobbyisten oder Wissenschaftler) oder Gruppen, die ihr Recht mitbringen, wie z. B. Siedler, Missionare, Kaufleute, Sklaven, und Angehörige von Religionen.
7. Nicht immer lässt sich der Rechtstransfer genau datieren. Oft ist der Übernahmeprozess langfristig und ein Ende ist nicht in Sicht.
8. Typisch ist die Vorstellung, dass der Transfer von einem fortschrittlichen zu einem entwicklungsbedürftigen Rechtssystem verläuft, das modernisiert werden soll, in dem Lücken gefüllt oder vorhandenes Recht ersetzt werden soll. Umgekehrt kommt aber auch die Retraditionalisierung »moderner« Rechtsordnungen vor.
9. Auf der einen Seite steht die Vorstellung, das Recht unverändert oder mit geringen Anpassungen übernommen wird. Aber es gilt viel eher: »No transportation without transformation.« [4]Das Zitat bezieht Twining von Bruno Latour, Aramis or the Love of Technology, Harvard UP, 1996, S. 119, und bemerkt dazu: In cultural geography a basic notion is that the diffusing item is both a … Continue reading
10. Die vereinfachende Vorstellung geht dahin, dass das übernommene Recht eine Leerstelle ausfüllt oder vorhandenes Recht vollständig ersetzt. Es kann aber auch zu einer Assimilierung kommen oder es bilden sich verschiedene Rechtsschichten im Sinne eines pluralen Rechts. Manchmal bleibt das übernommene Recht bloße Fassade. Auch dauernder Widerstand gegen das übernommene Recht kommt vor.
11. Nach der vereinfachenden Vorstellung ist die Übernahme des Rechts technisch-instrumentell motiviert. Es handelt sich vornehmlich um »Juristenrecht«, dem politische und ideologische Motive fehlen. Rechtstransfer hat aber auch immer ideologische und kulturelle Aspekte.
12. Eine neue Tendenz in der Literatur, die sich mit der Ausbreitung von Recht befasst, geht dahin, von Erfolg oder Misserfolg einer Übernahme zu sprechen und diese möglichst auch zu messen (»audit culture«).
Was die sozialwissenschaftliche Diffusionstheorie betrifft, so stützt sich Twining zunächst auf die Arbeit von Everett M. Rogers, die ich bereits im Beitrag vom 11. 7. 2011 angesprochen habe. [5]Everett M. Rogers, Diffusion of Innovations, 5. Aufl., New York, NY 2003. Ich zitiere nach der 3. Aufl. von 1983, die als PDF im Internet zur Verfügung steht. Zusammenfassungen der elf Kapitel sind … Continue reading Rogers gilt als Klassiker der Diffusionstheorie.
Twining zieht ferner eine Untersuchung von Trisha Greenhalgh u. a. heran, die ab 2001 im Auftrag des UK Department of Health der Diffusion und Nachhaltigkeit von Innovationen im Gesundheitswesen nachging.
Greenhalgh u. a. haben einen Literaturbericht erstellt, der sich auf 1024 Quellen stützt. Die wesentlichen Ergebnisse wurden zunächst 2004 in einem Aufsatz zusammengefasst [6]Trisha Greenhalgh/Glenn Robert/Fraser Macfarlane/Paul Bate/Olympia Kyriakidou, Diffusion of Innovations in Service Organisations: Systematic Literature Review and Recommendations for Future Research, … Continue reading, der vollständige Bericht ist 2005 unter dem gleichen Titel als Buch erschienen. [7]Das Buch habe ich bisher nicht in der Hand gehabt. Rogers berief sich in der ersten Auflage von 1962 auf 506 empirische Untersuchungen. Bis zur fünften Auflage von 2003 hatte sich die Zahl der in Bezug genommenen Untersuchungen auf 5200 reichlich verzehnfacht. Kein Wunder, dass Greenhalgh u. a. sich mit den methodischen Herausforderungen einer solchen Kompilation befasst haben. [8]Storylines of Research in Diffusion of Innovation: A Meta-Narrative Approach to Systematic Review, Social Science & Medicine 61, 2005, 417–430. Hoffmann hält Rogers in seiner ausführlichen Rezension vor, dass er manches gerade gebogen habe, um sein Theoriegebäude zu bestätigen. Ich vermag das nicht selbst zu beurteilen. Greenhalgh u. a. denken soziologischer als Rogers. Ihre Aussagen sind weniger plakativ. Doch wenn Twining (2005:228) zwischen den Arbeiten von Rogers und Greenhalgh u. a. erstaunliche Konvergenzen feststellt, so ist das wohl doch in der Sache begründet:
»However, a striking feature of Rogers’s and Greenhalgh’s analyses is the unexpected connections, analogies, and generalizations that have emerged. Surprising leaps are taken from hybrid corn to poison pills; from hard tomatoes to modern maths; from family planning to transnational social movements.«
Die Anwendung sozialwissenschaftlicher Theorien auf die Diffusion von Recht erfordert Klarstellungen und Modifikationen, die bislang nicht ausgearbeitet worden sind. Auch wenn ich diese Lücke nicht füllen kann, so will ich doch im nächsten Beitrag berichten, wie ich mit dieser Fragestellung im Kopf Texte von Rogers und Greenhalgh u.a. gelesen habe.
Anmerkungen
↑1 | William L. Twining, Diffusion of Law: A Global Perspective, Journal of Legal Pluralism and Inofficial Law 49, 2004, 1-45; ders., Social Science and Diffusion of Law, Journal of Law and Society 32 , 2005, 203-240. |
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↑2 | Frank Heidemann, Ethnologie, 2001, 62f; vgl. auch die ausführliche Webseite »Anthropological Theories«. |
↑3 | Die folgende Liste entspricht der Tabelle von bei Twining 2006, 205f. |
↑4 | Das Zitat bezieht Twining von Bruno Latour, Aramis or the Love of Technology, Harvard UP, 1996, S. 119, und bemerkt dazu: In cultural geography a basic notion is that the diffusing item is both a stimulus to a new innovation and itself subject to modification as it spreads. |
↑5 | Everett M. Rogers, Diffusion of Innovations, 5. Aufl., New York, NY 2003. Ich zitiere nach der 3. Aufl. von 1983, die als PDF im Internet zur Verfügung steht. Zusammenfassungen der elf Kapitel sind abgedruckt in dem Reader »Knowledge und Innovation Management«von Prof. Volker Hoffmann, Universität Hohenheim, dort S. 37-50. Dort S. 64-74 auch eine kritische Besprechung des Werk von Rogers, wie es sich über fünf Auflagen entwickelt hat. |
↑6 | Trisha Greenhalgh/Glenn Robert/Fraser Macfarlane/Paul Bate/Olympia Kyriakidou, Diffusion of Innovations in Service Organisations: Systematic Literature Review and Recommendations for Future Research, Milbank Quarterly 82, 2004, 581-629 |
↑7 | Das Buch habe ich bisher nicht in der Hand gehabt. |
↑8 | Storylines of Research in Diffusion of Innovation: A Meta-Narrative Approach to Systematic Review, Social Science & Medicine 61, 2005, 417–430. |