Der kulturwissenschaftliche Ansatz führt zu einer souveränen Geringschätzung all dessen, was die »Disziplinen« immerhin schon geleistet haben.
1. Keines der genannten Themen ist wirklich neu.
2. Kulturwissenschaften setzen zu sehr auf den homo symbolicus und damit auf einen neuen homunculus.
3. Kulturwissenschaften gebärden sich empiriefeindlich.
4. Zur beherrschenden Methode wird die wissenssoziologische Rekonstruktion.
5. Kulturwissenschaften verfahren einseitig poststrukturalistisch.
Zu 1. und 2 im Eintrag vom 16. September 2011.
Zu 3. – Homo symbolicus: Nachdem homo sociologicus und homo oeconomicus mühsam zu Grabe getragen wurden, zieht mit dem homo symbolicus der Kulturwissenschaften ein neuer Homunculus ein. Methodisch führen die Begriffe kulturelles Wissen und kulturelles Gedächtnis zur (neuen) Wissenssoziologie. Methoden der Wahl sind »dichte Beschreibung« und Rekonstruktion. Es geht dabei um die qualitativen Methoden der Sozialforschung, die im Anschluss an die »interpretative Wende« der Soziologie auch von der Rechtssoziologie rezipiert worden sind.
In den Kulturwissenschaften beanspruchen die qualitativen Methoden ein Übergewicht oder gar eine Monopolstellung. Es mag wohl zutreffen, »dass die Gestalt der Dinge in letztlich historisch und sozial kontingenten Sinnzusammenhängen und Praktiken kulturell produziert wird« [1]Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien, 2000, Studienausgabe mit Nachwort 2006; S. 39.. Die sinnhafte Konstitution der Wirklichkeit steht außer Frage. Nur darf man darüber die Reifizierung des Sinnhaften nicht vergessen. Geäußerter Sinn wird zu etwas Dinglichem, an dem man sich stoßen kann. Es ist nicht ganz einfach, Menschen, die hinter Gittern sitzen, bei denen die Gerichtsvollzieherin vor der Tür steht, den Opfern von Vergewaltigung oder Betrug oder auch nur dem Steuerzahler zu sagen, die soziale Welt existiere nur als symbolische; was sie erlebten, beziehe seine Bedeutung aus kollektiven Wissensordnungen, sei sozial konstruiert und deshalb kontingent. Rechtssoziologie muss daher nach wie vor bei Handlungen und Konflikten, Normen und Institutionen ansetzen.
Zu 4. – Empiriefeindlichkeit: Im Zentrum der Kulturwissenschaft geht es noch um anderes und mehr als um eine Eroberung des Gegenstandsfeldes der Geistes- und Sozialwissenschaften. Es geht um die Auswechslung von Basis und Überbau. Die geistig-ideelle Sphäre, die dem Marxismus als bloßer Überbau des Materiellen galt, wird zur Basis aller sozialen Phänomene. Menschliches Handeln und menschliche Beziehungen sind nunmehr nur noch Epiphänomene einer symbolisch sinnhaft konstituierten Welt. Dagegen wäre eigentlich nichts einzuwenden. Juristen haben das Recht nie anders als ein kollektives Sinnsystem behandelt. Aber jetzt wird der Spieß umgedreht. Eine postempirische oder postpositive Epoche wird ausgerufen. Methoden, die zählen und messen, werden als empiristisch denunziert. Psychologische und biologische Beobachtungen passen schon gar nicht mehr ins Bild. Stattdessen sind Interpretation und Rekonstruktion angesagt. Für beide gilt ein radikaler Kontextualismus. Er geht davon aus, dass kulturelle Produkt kulturelle Praktiken außerhalb des Kontextes nicht fassbar sind. Generalisierungen, die doch eigentlich das Ziel von Wissenschaft sind, werden damit ausgeschlossen.
Zu 5. – Wissenssoziologische Rekonstruktion: Methodisch führt Kulturwissenschaft zu einer wissenssoziologischen »Rekonstruktion« dessen was bisher in der Rechtssoziologie als Rechtsbewusstsein geläufig war. Immerhin gibt es hier durch einen entschiedenen Blick auf die Alltagskultur (im Sinne von Lebenswelt) neue Akzente. Es wird betont, dass »Recht« weitaus ubiquitärer ist, als es die klassische Frage nach »knowledge and opinion about law« aufdecken kann. Recht beeinflusst die Menschen nicht von außen, sondern ist Teil ihres Selbstverständnisses. Sie sehen sich selbst, wie das Recht sie sieht, und daraus bezieht wiederum das Recht seine Bedeutung. So wird in von den Kulturwissenschaften mit immer neuen Formulierungen und Beispielen die Zirkularität des Denkens beschworen. Als Beispiel hier eine Formulierung von Ulrich Haltern [2]Ulrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, S. 18.:
»Das Recht konstituiert die Erfahrung des Selbst und des Anderen. Es ist Teil des kulturellen Bedeutungs- und Symbolgewebes, in das der Mensch verstrickt ist. Damit ist nicht nur gesagt, dass das Recht weitaus ubiquitärer ist, als instrumentalistische Theorien meinen, sondern vor allem, dass es bereits integraler Bestandteil dessen ist, was es regelt. Recht beeinflusst uns nicht von außen, sondern ist Teil unseres Selbstverständnisses. Wir beginnen uns zu sehen, wie das Recht uns sieht, indem wir an der Konstruktion von Bedeutungen teilnehmen, die das Recht vornimmt. Wir internalisieren die Repräsentationen, die das Recht von uns formt, und können unsere Ziele und Einsichten nicht länger von ihnen trennen.«
Das ist der gute alte hermeneutische Zirkel kulturtheoretisch gewendet.
Das Ergebnis solcher Anstrengungen ist ein mehr oder weniger radikaler Konstruktivismus. Es lohnt nicht, daran zu zweifeln, dass alle Beobachtungen und Interpretationen letztlich ein Produkt menschlicher Sinne und Denkwerkzeuge sind. Es ist längst eine Trivialität, dass jede Beobachtung durch den Standpunkt des Beobachters bestimmt ist. Es mag ja zutreffen, dass wissenschaftliche Theorien durch Fakten oder Daten irreduzibel unterbestimmt bleiben. Es ist ja richtig, dass sich zwischen Theoriesprache und Beobachtungssprache letztlich nicht differenzieren lässt. Aber was sich auf dem Feld der Kulturtheorien ereignet, ist ein Kurzschluss zwischen philosophischer Wissenschaftstheorie und dem operativen Geschäft der Normalwissenschaft. Der radikale (epistemologische) Konstruktivismus als wissenschaftstheoretische Position wird nicht hinreichend vom kognitiven und sozialen Konstruktivismus unterschieden. Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
Zu 6. – Poststrukturalismus: Die Kulturwissenschaften verstehen sich als poststrukturalistisch. Die klassischen Analyseraster wie Subjekt und Objekt, Sein und Sollen, Struktur und Prozess werden als falsche Dualismen zurückgewiesen. Eine Folge ist der weitgehende Verzicht theoretischen Verallgemeinerungen und die Konzentration auf das Prozesshafte des sozialen Geschehens in mikrosoziologischen Konversationsanalysen.
Kulturwissenschaften im Verbund mit der neuen Wissenssoziologie treten mit einem imperialen Anspruch auf. Sie reklamieren mehr oder weniger alle Themen für sich, die bislang spezialisierten Sozial- und Geisteswissenschaften zugerechnet wurden. Als Preis für die Aufnahme in das Reich der Kulturwissenschaften sollen Rechtswissenschaft, Rechtssoziologie und andere mehr ihre Individualität hergeben und zu einer sozialen Einheitswissenschaft verschmelzen. Der Preis wäre die Vielfalt der ganz unterschiedliche Erkenntnismöglichkeiten bergenden geistes- und sozialwissenschaftlichen Ansätze. Die Rechtssoziologie muss daher den imperialistischen Anspruch der Kulturwissenschaften zurückweisen.
Auch manche Rechtssoziologen (und Juristen) berufen sich heute auf den kulturwissenschaftlichen Ansatz. Ihr Flirt mit den Kulturwissenschaften ist zunächst wohl opportunistisch begründet. Es will einfach nicht (mehr?) gelingen, mit dem alten Label »Rechtssoziologie« institutionelle Unterstützung zu finden und eine größere Truppe hinter sich zu versammeln. Aber der Flirt bleibt nicht ohne Folgen. Kulturwissenschaftliche Rechtsforschung ist in ihrer Vielfalt kaum koordiniert und wenig vernetzt. Vieles steht unverbunden nebeneinander und verliert dadurch an Wirkung. Da es den einschlägigen Arbeiten an der Selbstwahrnehmung als rechtssoziologisch fehlt, verzichten sie darauf, von dem vorhandenen und bewährten Angebot der Rechtssoziologie Gebrauch zu machen. Die Folge ist Zersplitterung und der Verlust von möglichem Kooperationsgewinn. Vielfach wird längst Bekanntes reproduziert. Andererseits werden verdienstvolle Arbeiten nicht gebührend zur Kenntnis genommen oder bald wieder vergessen, weil sie nicht in einen größeren Zusammenhang eingebettet sind. Hier breitet sich eine neue Unübersichtlichkeit aus. Vor allem aber verliert die Rechtssoziologie ihren Biss. Ein Interview mit dem Kriminologen Nigel Fielding für den Nuffield-Report [3]Hazel Genn/Martin Partington/Sally Wheeler, Law in the Real World: Improving our Understanding of How Law Works, London 2006, S. 33. bringt die Sache auf den Punkt:
»Younger social scientists seem to lack the interest in the critical matters of social structure, power and social class that lead one very quickly to the law a major element in constituting society as it is. Sociology has turned from matters of production to matters of consumption. For example, a great deal of research attention is now given to how people use mobile telephones. If a previous generation had had those devices, the issue would have been how they were socially distributed. Now the issue is, how they are decorated.«
Zu erkennen ist Rechtssoziologie letztlich nur an Thema und Methode. Ihre Methode ist keine andere als die der allgemeinen Soziologie. Das bedeutet vor allem, dass immer in irgendeiner Weise kontrollierte Empirie dazugehört. Ihr Thema ist das Recht als integraler Bestandteil der Gesellschaft. Ganz gleich, wer auch immer in diesem Sinne arbeitet und in welchem institutionellen Zusammenhang das geschieht: Es handelt sich um Rechtssoziologie. Und als solche sollte man sie benennen. In diesem Sinne gibt es eine ganze Menge Rechtssoziologie, nicht nur bei Juristen und Soziologen, sondern auch bei Politikwissenschaftlern, Ökonomen, Historikern, Anthropologen und auch bei denen, die sich als Kulturwissenschaftler verstehen.
Eine kulturelle Wende der Rechtswissenschaft empfiehlt Ulrich Haltern. [4]Ulrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005. Er verspricht sich davon eine Öffnung der Jurisprudenz für Interdisziplinarität, ohne dass das Recht seine Autonomie verliert und ohne dass die Rechtswissenschaft in den Nachbarschaften aufgeht. Dazu soll das Recht als eine spezifische »Imagination« der Welt und vor allem des Politischen verstanden werden. »Statt nur danach zu fragen, wie man das Recht verbessern könne, kann man Raum schaffen für den akademischen Versuch, den Platz des Rechts in der Kultur zu verstehen und die Macht zu beschreiben, die das Recht über die Imagination der Bürger besitzt.« (S. 12). Für diesen Ansatz nutzt Haltern die Bezeichnung »Recht im Kontext«. Der Kontext des Rechts gerät allerdings wieder etwas aus dem Blick, wenn wir (S. 18) erfahren, der kulturtheoretische Ansatz habe sich »auf das Bedeutungssystem des Rechts zu konzentrieren, das sich in Symbolen materialisiert.« Und weiter:
»Der zentrale Auftrag der kulturtheoretischen Perspektive im Recht besteht darin, diesen symbolischen Formen nachzugehen und die Beobachtungen sichtbar zu machen, die Menschen einerseits an das Recht herantragen und die sie andererseits aus dem Umgang mit ihm gewinnen. Symbolische Formen wie Recht verweisen nicht nur auf etwas oder sind der Ausdruck von etwas, sondern üben selbst strukturierende und konstituierende Kraft in alltäglichen, politischen und anderen Bereichen aus, indem sie die in subtiler und oft diffuser Weise durchdringen.«
Zur Rechtssoziologie kommt man von dort zurück, wenn man den Symbolbegriff präzisiert, so dass Symbole einer empirischen Untersuchung zugänglich werden. [5]Dazu mein Aufsatz über »Die Macht der Symbole«,
in: Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hg.), Wie wirkt Recht?, Baden-Baden: Nomos, S. 267-299.
Anmerkungen
↑1 | Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien, 2000, Studienausgabe mit Nachwort 2006; S. 39. |
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↑2 | Ulrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, S. 18. |
↑3 | Hazel Genn/Martin Partington/Sally Wheeler, Law in the Real World: Improving our Understanding of How Law Works, London 2006, S. 33. |
↑4 | Ulrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005. |
↑5 | Dazu mein Aufsatz über »Die Macht der Symbole«, in: Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hg.), Wie wirkt Recht?, Baden-Baden: Nomos, S. 267-299. |