In einem Artikel im New Republic vom 25. 5. 2010 schreibt Daniel Lansberg-Rodriguez [1]Er bloggt auf ConstitutionsMaking.org. über »Wiki-Constitutionalism«. Damit meint er das in Südamerika verbreitete Phänomen, dass die Regierungen die Verfassungen bei Bedarf umschreiben.
»This is a phenomenon I call ›Wiki-constitutionalism.‹ In Latin America, constitutions are changed with great frequency and unusual ease (though not through any open-source collaborative process), as if they were Wikipedia pages. The evidence is staggering: The Dominican Republic has had 32 separate constitutions since its independence in 1821. Venezuela follows close behind with 26, Haiti has had 24, Ecuador 20, and Bolivia recently passed its seventeenth. In fact, over half of the 21 Latin American nations have had at least ten constitutions while, in the rest of the world, only Thailand (17), France (16), Greece (13), and Poland (10) have reached double digits. And the process occurs under governments of every political stripe—not just socialist ones like those of Chavez and Bolivia’s Evo Morales. Gruff conservatives like Colombia’s Alvaro Uribe and friendly, doting moderates like the Dominican Republic’s Leonel Fernandez have joined the party too, attempting to tear up and revise their constitutionally-mandated term limits. (It’s important to distinguish between amending and rewriting. Constitutional amendments are common all over the world, but Latin America’s rewrite-mania is truly eccentric: Venezuela, for instance, has adopted 26 new constitutions, but amended an existing one only thrice.)«
Die Wiki-Metapher finde ich gut, und ich will sie gleich übernehmen. Allerdings macht Lansberg-Rodriguez von ihr einen schiefen Gebrauch. Der Witz eines Wiki besteht ja doch darin, dass jedermann an einem Text mitschreiben kann, nicht nur autoritäre Regierungen und die von ihnen gesteuerten Parlamente. [2]Unter dem Titel »WikiRecht das freie Rechtslexikon« gibt es seit November 2008 eine Webseite, die es noch nicht zu nennenswerten Inhalten gebracht hat. Als Träger firmiert eine DeOnA Online … Continue reading Eine passendere Verwendung liegt nahe. In dem Eintrag vom 15. April 2011 hatte ich die These von Thomas Vesting referiert, die Computerkultur werde dazu zwingen, das Recht ständig neu zu überschreiben. Ist es das, was Vesting gemeint hat, ein Recht, an dem jedermann mitschreiben kann? Das hat er zwar nicht ausdrücklich gesagt. Aber sonst wäre der Neuigkeitswert seiner These nur begrenzt, denn dass das positive Recht geändert werden kann und laufend geändert wird, hat, wer es noch nicht wusste, spätestens von Luhmann gelernt. Die Frage ist also, was der Computer insoweit im Vergleich zu Schrift und Buchdruck ändert. Das wäre doch ein schöner Traum, der Traum vom Wikirecht. Den Traum von der »Offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten« [3]Peter Häberle, JZ 1975, 297-305. gab es ja schon einmal. [4]Diese Formulierung wird Häberles These nicht gerecht. Sie lautete: »Wer die Norm ›lebt‹, interpretiert sie auch (mit). Das ist eine höchst soziologische These, und Häberle verkennt nicht, … Continue reading Und auch der Schritt zur »offenen Gesellschaft der Rechtsinterpreten« wurde schon angedacht. [5]Von Hans Joachim Mengel in: Lexikon der Politikwissenschaft, 4. Aufl. 2010, S. 451. Ich stelle mir das Ganze so vor: Die Vorhut bilden die Blogger mit ihren Blawgs. In der zweiten Linie werden die Kommentare zu den wichtigeren Gesetzen als Wikis organisiert. Und am Ende wird dann das Bundesgesetzblatt von den Bürgern geschrieben. Eher ein Albtraum als ein Traum.
Anmerkungen
↑1 | Er bloggt auf ConstitutionsMaking.org. |
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↑2 | Unter dem Titel »WikiRecht das freie Rechtslexikon« gibt es seit November 2008 eine Webseite, die es noch nicht zu nennenswerten Inhalten gebracht hat. Als Träger firmiert eine DeOnA Online Akademie für Recht und Wirtschaft. |
↑3 | Peter Häberle, JZ 1975, 297-305. |
↑4 | Diese Formulierung wird Häberles These nicht gerecht. Sie lautete: »Wer die Norm ›lebt‹, interpretiert sie auch (mit). Das ist eine höchst soziologische These, und Häberle verkennt nicht, dass er damit einen anderen als den üblichen Interpretationsbegriff verwendet. |
↑5 | Von Hans Joachim Mengel in: Lexikon der Politikwissenschaft, 4. Aufl. 2010, S. 451. |