Zurück zu den Emotionstheorien der Psychologie

Dies ist die sechsteFortsetzung des Eintrags über den Emotional Turn und die Rechtswissenschaft.

Zurück zu den Emotionstheorien der Psychologie. Auch Damasios quasi-biologische Theorie sagt uns nicht, welche Reize mit welchen Emotionen beantwortet werden. Wir erfahren, die positive oder negative Sortierung sei teils angeboren, teils werde sie individuell oder sozial gelernt. Die körperlichen Spuren, von Damasio Marker genannt, bewirken dann die gefühlsmäßige Tönung neuer Situationen. So bleiben alle interessanten Fragen offen.

Bewertungstheorien (Appraisal Theories)

Die Frage nach angeborenen Auslösern von Emotionen bleibt vom soziobiologischen Ausgangspunkt her umstritten. Dagegen besteht anscheinend Konsens, dass Kognitionen im weitesten Sinne Emotionen auslösen können. Das besagen die Bewertungs- oder Einschätzungstheorien, die deshalb auch als kognitive Emotionstheorien bezeichnet werden.

»In vielen Situationen scheint nicht der objektive Sachverhalt, sondern vielmehr die subjektive Einschätzung der Sache bestimmend für das Auftreten einer Emotion zu sein. Letztere Annahme bildet den Kern von kognitiven Theorien der Emotionsentstehung,«[1]

Am Anfang stand das Werk von Magda B. Arnold (1960). Sie definierte:

»Summing up our discussion we can now define emotion as the felt tendency toward anything intuitively appraised as good (beneficial), or away from anything intuitively appraised as bad (harmful). This attraction or aversion is accompanied by a pattern of physiological changes organized toward approach or withdrawal. The patterns differ for different emotions.«[2]

Es ist plausibel, dass eine Person positive bzw. negative Gefühle entwickelt, je nach dem wie sie ein Ereignis »einschätzt«. Doch woher nimmt sie das Wissen oder den Glauben, das ein Ereignis für sie gut bzw. ungut sei? Ob eine Erfahrung »angenehm ist« wird kaum durch eine reflektierte Entscheidung ermittelt, sondern ergibt sich gleichsam automatisch oder, wie Arnold fomulierte, intuitiv. Doch woher kommt diese Intuition? Nach welchen Kriterien entscheidet sie? Wie werden Situationen wiedererkannt? Wie werden unterschiedliche Wahrnehmungen akkumuliert?

Aktuelle Bewertungstheorien begreifen Emotionen nicht als Zustand, sondern als einen Prozess.[3] Sie unterscheiden zwar zwischen primary und secondary appraisal.[4] Aber sie befassen sich kaum mit der Frage, ob und wie die Erstbewertung programmiert ist. Sie suchen insoweit insbesondere nicht nach neurologischen Grundlagen. Die Erstbewertung beschränkt sich auf eine Einschätzung der Situation als positiv, negativ oder irrelevant. Dieser Prozess soll ohne Bewusstseinsbeteiligung ablaufen[5], er müsste also irgendwo im Unterbewusstsein programmiert sein. Ich verstehe diese Bewertungstheorien dahin, dass sie ein Gerüst von Basisemotionen voraussetzen und dass bereits die emotionale Erstreaktion durch akkumulierte Lernvorgänge programmiert wird. Die Zweitbewertung evaluiert dann die Erstreaktion und verfolgt ferner Chancen, Mittel und Wege zum Umgang mit der Situation.

So hatte es im Grunde schon Arnold gesehen. Sie betonte, die Bewertung (appraisal) sei nicht die Emotion selbst, sondern erst deren Folge. In vielen Situationen bewerte man Objekte aller Art als positiv oder negativ, ohne dass dadurch Emotionen angesprochen würden. Die Bewertung, die eine Emotion hervorrufe, sei nicht abstrakt oder das Ergebnis einer Reflexion. Sie sei vielmehr unmittelbar und unwillkürlich.

»There must be a psychological capacity of appraising how a given thing will affect us, wether it will hurt or please us, before we can want to approach or avoid it. To call upon mere ›learning‹, ›past experience‹, or the ›conditioned reflex‹ for an explanation is futile.«[6]

Hier taucht ein Grundproblem der Appraisal-Theorien auf, wenn sie behaupten, die Bewertung sei zunächst ein Element der Emotion und zugleich deren Ursache.[7] Dieser Zirkel löst sich aber auf, wenn man zwischen der emotional-evaluativen Erstreaktion und dem Gefühlsmanagement unterscheidet. Die Erstreaktion ist dann von einem »Programm« gesteuert, dass aus teils angeborenen, teils habitualisierten Basisemotionen entstanden ist, und der von der Erstreaktion evozierte Zustand wird durch erneute Bewertung bestätigt oder korrigiert. Kognitiv im Laiensinne ist nur die Zweitreaktion.

Die konstruktivistische Zwei-Faktoren-Theorie

Der soziologische Konstruktivismus, insbesondere in seiner Gestalt als Praxistheorie, versteht den Menschen mit seiner Psyche schlechthin als das Produkt sozialer Praktiken. Für die Praxistheorie gibt es keine dispositionellen Variablen, also keine genetische Ausstattung und damit keine vorsozialen Emotionen und Gefühle. Sie betrachtet die Psyche als unbeschriebenes Blatt. Aber auch hier gilt: »Ein Blatt ist ein Blatt«, das heißt: »The medium is the message«. Selbst als »unbeschriebenes Blatt« hält die Psyche eine überindividuelle Funktionsarchitektur bereit, die für die Aufnahme und Verarbeitung von natürlichen und sozialen Reizen zuständig ist.

Für »moderne« konstruktivistische Emotionstheorien trifft die soziale Praxis auf ein Dispositiv von Rohgefühlen (core affect). Bei Russel[8] liest sich das so:

»At the heart of emotion, mood, and any other emotionally charged event are states experienced as simply feeling good or bad, energized or enervated. These states— called core affect—influence reflexes, perception, cognition, and behavior and are influenced by many causes internal and external, but people have no direct access to these causal connections. Core affect can therefore be experienced as freefloating (mood) or can be attributed to some cause (and thereby begin an emotional episode).«

Russel bestimmt diesen Ausgangspunkt aller Emotionen als neurophysiologischen Zustand, der dem Bewusstsein zugänglich ist als unreflektiertes Gefühl von Gefallen oder Missfallen, Erregung oder Erschlaffung. Das Rohgefühl ist ungerichtet (object free/free floating). Es wird durch interne und extern verursachte körperliche Stimuli, durch Drogen ebenso wie durch Sinneswahrnehmungen gereizt. Dieser kausale Auslöser ist nicht identisch mit dem Objekt eines Gefühls. Die Objektgerichtetheit ergibt sich erst aus einem kognitiven Vorgang von Zurechnung und Bewertung (attribution/appraisal). Kognition soll die kausal ausgelösten Rohgefühle erst ex post zu Vorgängen attribuieren, die damit zu Objekten der Emotion werden, aber nicht die eigentliche Ursache sein müssen. Wie das Gefühl wahrgenommen wird, soll schließlich von erlernten Interpretationsschemata abhängen.

Bei den kognitivistischen und den konstruktivistischen Emotionstheorien handelt es sich im Kern um Lerntheorien, beruhen doch alle sozialen Konstruktionen auf Lernvorgängen. Den Unterschied muss man (ich?) mit Lupe suchen. Bei beiden Theoriegruppen vermisse ich die Unterscheidung zwischen der Konditionierung der emotional-evaluativen Erstreaktion und dem Umgang mit dieser Reaktion kraft kognitiver oder sozialer Kompetenz. Immerhin fällt es leichter, die Konditionierung der Erstreaktion im Kindesalter durch soziales Lernen zu erklären als durch kognitive Erfahrung. Aber auch soziales Lernen verlangt eine irgendwie primäre Fähigkeit zur Dekodierung der Gefühle anderer, bei Kindern insbesondere der Gefühle der Eltern. Hier bleibt (für mich) ein großes Rätsel.

Vielleicht kann die Frage, wie die emotionale Erstreaktion konditioniert ist, offen bleiben, wenn man nach Vermittlungsinstanzen sucht, welche die Emotionen auf Ausschnitte aus der Umwelt ausrichten. Soziologie und Sozialpsychologie beschreiben das Ergebnis des Lernvorgangs als Persönlichkeit, Attitüde, Skript, Frame oder Habitus. Die neuronal basierten Emotionen werden dabei allerdings kaum bedacht. Bevor ich diesen Sprung von der Individualpsychologie zur Sozialpsychologie oder gar Soziologie wage, will ich (demnächst) noch auf Nico H. Frijdas »Laws of Emotion« eingehen.


[1] Andreas B. Eder/Tobias Brosch, Emotion, in. Jochen Müsseler/Martina Rieger, Allgemeine Psychologie, 3. Aufl. 2017, 185–222; S. 209. Auführlicher Rainer Reisenzein, Einschätzungstheoretische Ansätze in der Emotionspsychologie, in Jürgen H. Otto u. a. (Hg.), Emotionspsychologie, 2000, 117–138, S. 117.

[2] Magda B. Arnold, Emotion and Personality, 1960, S. 182. Hervorhebung im Original.

[3] Agnes Moors/Phoebe C. Ellsworth/Klaus R. Scherer/Nico H. Frijda, Appraisal Theories of Emotion: State of the Art and Future Development, Emotion Review 2013, 119–124.

[4] Die Unterscheidung geht auf den Psychologen Richard Lazarus zurück (, den ich hier nur aus zweier Hand zitieren kann.

[5] Nico H. Frijda, The Emotions, 1986, S. 464.527

[6] A. a. O. S 173.

[7] Agnes Moors, On the Causal Role of Appraisal in Emotion, Emotion Review 2013, 132–140.

[8] James A. Russell, Core Affect and the Psychological Construction of Emotion, (2003) 110 Psychological Review 110, 2003, 145–172, Abstract.

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