Mit dem Eintrag vom 27. 4. 2021 hatte ich eine Reihe zum dem von mir so genannten natural turn begonnen (Die Natur der Sache als Schlüssel zur Interdisziplinarität). Die Reihe hatte ich nach 15 Fortsetzungen unterbrochen, um mich auf das Analogiethema zu konzentrieren. Das hat länger gedauert als vorhergesehen. Nach insgesamt 17 Fortsetzungen habe ich das Thema endlich (für mich) abgeschlossen. Wenn ich nun auf die »Natur der Sache« zurückkomme, will ich nicht wieder da anfangen, wo ich aufgehort habe (nämlich bei einem Referat der Sozialanthropologie des Strafrechtlers und Kriminologen Hellmuth Mayer), sondern das Thema schnell zu einem Ende bringen. Ich knüpfe an an den Eintrag vom 10. Oktober 2021 Eine Anthropologie für den Natural Turn.
Anthropologie ist aus der Mode gekommen. Das liegt an dem ungeheuren Mißbrauch, der unter diesem Titel in der Nazizeit getrieben wurde. Das gilt insbesondere für die biologisch Anthropologie. Immerhin gibt es seit 1977 in Leipzig ein Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthro-pologie (dessen Direktor Svante Pääbo 2022 den Nobel-Preis für seine paläogenetischen For-schungen erhalten hat).
Viele erwarten von der Anthropologie Hinweise auf ein naturalistisches Verhaltensprogramm des Menschen. Doch biologische und evolutionäre Anthropologie haben insoweit die Erwartungen bisher enttäuscht. Über die klassischen phänomenologisch-philosophischen Arbeiten von Helmuth Plessner und Arnold Gehlen ist man nicht hinausgekommen. Allgemein akzeptiert wird die Aussage Arnold Gehlens, der Mensch sei ein Mangelwesen, das heißt, sein Verhalten sei nicht durch angeborene Instinkte festglegt, sondern werde von Kultur bestimmt. Diese Unbestimmtheit drückt auch Plessners berühmte Formel von der Plastizität des Menschen aus. Näher am Recht war die Sozialanthropologie Hellmuth Mayers. Sie überragt vieles, was zum Thema geschrieben worden ist.
Zur Einordnung ist hier an die Diskussion zu erinnern, die vor bald einem Menschenalter der Ethologe Konrad Lorenz durch seine Forschungen (an Stichlingen) über angeborene Verhaltensweisen ausgelöst hat. Damals kam es darauf an zu akzeptieren, dass Menschen eben nicht durch angeborene Verhaltensweisen programmiert sind, sondern erst durch Kultur lebensfähig werden. Das musste vor allem die Kriminologie lernen. In den USA war sie schon länger zur Kriminalsoziologie geworden. In Deutschland betrieb Mayer die Ablösung von der Kriminalbiologie, sozusagen im Umkehrschluss zur Verhaltensforschung (Ethologie) von Tinbergen, Lorenz, Eibl-Eibesfeld und anderen. Das geschah zunächst 1962 aus dem damals aktuellen Anlass der großen Strafrechtsreform in der Programmschrift »Strafrechtsreform für heute und morgen«. 1977 folgte eine komplette Sozialanthropologie: »Die gesellige Natur des Menschen«. Es handelt sich um die letzte Veröffentlichung des Autors. Darin findet noch einmal die ganze Persönlichkeit Hellmuth Mayers Ausdruck: Historisch gebildet und scharfsinnig, lebenserfahren und illusionslos, konservativ–liberal und rechtsstaatsfest, bekennender Protestant, dessen Nächstenliebe besonders den Obdachlosen und hoffnungslos weggesperrten Sicherungsverwahrten galt. Dieses Buch ist nicht mehr rezipiert worden, wiewohl es in seinen Sachaussagen moderner und umsichtiger war als die Soziologie seiner Zeit. Ein Grund dafür sind die zahlreichen »qualitativen« Beobachtungen, die sich zu einem Teil einer außerordentlichen historischen und literarischen Bildung und zum anderen Teil dem bewussten Erleben fast des ganzen 20. Jahrhunderts verdanken
Es liegt nahe, das opus magnum von Ernst-Joachim Lampe heranzuziehen, das die »Historiogenese« des Rechts mit dem ganzen Instrumentarium wissenschaftlicher Akribie aufarbeitet (und dabei Mayers Texte ignoriert). Aber auch Lampes Buch führt in der Sache nicht über Mayer hinaus. Lampe betrachtet die Rechtsgeschichte als evolutionäres Geschehen. Das bringt die Gefahr mit sich, Zustände, die man ex post als Ergebnis der Evolution beobachtet, auf Entwicklungstendenzen zurückzuführen. Das wird zum Zirkelschluss, denn Evolution ist ungerichtet.
Mayers Pointe liegt in der These, dass es Reste biologisch angelegter Verhaltenstendenzen geben mag, dass sich aber Bewusstsein und in der Folge subjektiver und objektiver Geist gegen die Natur stellen können, wie das unter anderem in der Frauenbewegung erfolgreich geschehen sei. Ein »zurück zur Natur« kommt daher für Mayer nicht in Betracht. Der »Protest gegen die Natur« ist wie Fahrradfahren bei Gegenwind. Er ist anstrengend, und es kommt darauf an, ob das Ziel die Anstrengung lohnt. Mehr ist von Anthropologie nicht zu erwarten.
Die Fortsetzung wird einen Umweg über den material turn nehmen.